Wozu dient Achtsamkeit in der Psychotherapie?

Achtsamkeit ist nicht alles, aber ohne Achtsamkeit ist alles nichts. So könnte man das Buch „Wirkfaktoren der Achtsamkeit: Wie sie die Psychotherapie verändern und bereichern“ (Schattauer-Verlag Stuttgart, 2015) zusammenfassen, in dem Michael Harrer und Halko Weiss die Achtsamkeit und ihre Anwendungen in der Psychotherapie unter praktisch allen nur erdenklichen Gesichtspunkten ausloten.

Die Idee und Praxis der Achtsamkeit hat in den letzten Jahrzehnten Eingang in nahezu alle Ansätze der Psychotherapie und der Medizin gefunden. Ihre Quellen liegen vor allem im Buddhismus.

1.   Buddhistische Vorstellungen von der Entstehung und Aufrechterhaltung von psychischem Leid

Nach der buddhistischen Vorstellung „ist Leben Leiden“. Alles was der Mensch erfährt ist vergänglich („leer“) und das Ich ist „eine Illusion“.

Die primäre Quelle der Entstehung und Aufrechterhaltung von psychischem Leid ist nach buddhistischer Vorstellung die Erlebensvermeidungen durch

  • Gier: etwas wollen, was nicht da ist,
  • Hass: etwas nicht wollen, was da ist,
  • Verblendung: etwas nicht anerkennen wollen, was der Fall ist.

Wenn ein Mensch an etwas Vergänglichem (z.B. einer Beziehung, Gesundheit, materieller Sicherheit o.ä.) „anhaftet“ also daran hängt, obwohl es vergänglich ist, und wenn er seine Erfahrungen nach „wünschenswert“ und „nicht wünschenswert“ („gut“ und „schlecht“ o.ä.) bewertet oder wenn er unvermeidliche Aspekte seiner Erfahrungen ablehnt, dann leidet er.

Nach diesem Konzept ist die akzeptierende Achtsamkeit für die eigenen Erfahrungen der „Pfad zum Erlöschen des Leidens“.

2.   Wirkfaktoren der Psychotherapie

Nach Harrer und Weiss ist Achtsamkeit ein „allgemeiner Faktor“ aller etablierter psychotherapeutischer Verfahren.

Diverse empirisch gut abgesicherte Studien über die Wirkfaktoren von Psychotherapie haben das Ergebnis erbracht, dass praktisch alle psychotherapeutischen Verfahren in ähnlichem Umfang wirksam sind. Man nennt das das „Dodo-Bird-Verdikt“ nach dem Phantasievogel Dodo in dem Buch „Alice im Wunderland“, der ein Rennen zwischen verschiedenen Tieren veranstaltet mit dem Ergebnis, dass alle Tiere das Rennen in gleichem Maße gewonnen haben.

Die Faktoren, die mehr oder weniger in allen psychotherapeutischen Ansätzen angewandt werden (sog. „common factors“) wirken relativ gesehen am stärksten (ca. 70 %). Faktoren, die spezifisch für einzelne Verfahren sind, wirken dagegen am wenigsten (ca. 8 %).

Allgemeine Faktoren aller psychotherapeutischer Verfahren wären beispielsweise (nach Klaus Grawe):

  • Klärung
  • Ressourcenaktivierung
  • Problemaktualisierung
  • Unterstützung

3.   Quellen

Wichtige Anregungen zur psychotherapeutischen Anwendung der Achtsamkeit gingen von dem japanischen zen-buddhistischen Autor Daisetzu Teitaro Suzuki aus, der 1934 das Buch „Die große Befreiung – Einführung in den Zen-Buddhismus“ (mit einem Vorwort von C.G. Jung) schrieb, sowie 1972 zusammen mit Erich Fromm das Buch „Zen-Buddhismus und Psychoanalyse“. Vermittelt über seine Schüler Charlotte Selver und Alan Watts beeinflussten seine Ideen die humanistische Bewegung am Esalen-Institut in Kalifornien und die Humanistische Psychotherapie.

Der aus Frankfurt stammende und jahrzehntelang in Sri Lanka lebende Mönch Nyanaponika (Siegmund Feniger) stellte die Grundlagen des buddhistischen Achtsamkeitstrainings 1970 in seinem Büchlein „Geistestraining durch Achtsamkeit“ dar.

Heute gelten besonders der Dalai Lama, das Oberhaupt der Gelug-Schule des tibetischen Buddhismus und der aus Vietnam stammende Mönch Thich Nhat Hanh als bekannteste zeitgenössische Vertreter des Buddhismus weltweit.

Der US-amerikanische Molekularbiologe Jon Kabat-Zinn entwickelte das Mindfulness Bases Stress Reduction-Programm (MBSR), das v.a. aus einfachen Achtsamkeitsübungen besteht, die unabhängig von der buddhistischen Philosophie praktiziert werden können.

4.   Achtsamkeit in den verschiedenen psychotherapeutischen Verfahren

Psychodynamische Psychotherapie

In den psychodynamischen Psychotherapien (Psychoanalyse, Tiefenpsychologie) ähnelt der bereits von Freud beschriebene Zustand der „gleichschwebenden Aufmerksamkeit“ des Psychoanalytikers, aber auch der Zustand der „freien Assoziation“, in den sich der Patient in der Analyse begeben solle, einer achtsamen Haltung.

Im Unterschied zu achtsamkeitsbasierten Ansätzen gelten diese Zustände in den psychodynamischen Psychotherapien als rezeptiver Modus für Wahrnehmungen, die aus dem Unbewussten aufsteigen, die dann aber auf Basis diverser psychoanalytischer Theorien psychodynamisch gedeutet werden.

Verhaltenstherapie

In den Ansätzen der so genannten „dritten Welle“ der Verhaltenstherapie spielen achtsamkeitsbasierte Methoden eine große Rolle:

  • In der Dialektisch-Behavioralen Therapie (DBT) nach Marsha Linehan, die zunächst für die Behandlung von Borderline-Störungen entwickelt wurde, wird versucht, „durch radikale Akzeptanz verfestigtes Leid in akuten Schmerz zu verwandeln“. Einerseits wird die Berechtigtheit des Erlebens des Patienten anerkannt („validiert“), andererseits wird der Patient gelehrt, eine innere Distanz zu seinen eigenen Gedanken einzunehmen („Dezentrierung“).
  • In der Mindfulnes-Based Cognitive Therapy for Depressions (MBCD) nach Zindel Segal wird versucht, depressives Grübeln („kognitive negative Feedbackschleifen“) durch eine achtsame Haltungen und durch Zulassen auch des Unerwünschten zu unterbrechen.
  • In der Akzeptanz- und Commitment-Therapie (ACT) nach Steven Hayes wird psychisches Leid als Produkt einer Verschmolzenheit mit den eigenen Gedanken („kognitive Fusion“), von Erlebensvermeidungen, unflexibler Aufmerksamkeitssteuerung, einem fixierten Selbstbild, Unklarheit über sinngebende Werte sowie alltagspraktischer Inaktivität oder Impulsivität betrachtet. In der Therapie wird der Patient angeleitet, Gedanken nicht als Wirklichkeit zu betrachten („kognitive Defusion“), unvermeidliches Erleben akzeptierend anzunehmen, seine Perspektive wechseln zu können, Achtsamkeit für das eigene Erleben zu entwickeln, sinngebende Werte zu klären und sich daran zu orientieren und im Alltag engagiert zu handeln.

Die achtsame Haltung ist das Gegenteil der klassischen oder kognitiven Verhaltenstherapie, in der es immer um Veränderungen von Verhalten oder Denkmustern geht. Allerdings bewegen sich die genannten Ansätze weiterhin im verhaltenstherapeutischen Paradigma und verstehen sich als Methoden des Umlernens durch Training von achtsamkeitsbasierten Fähigkeiten.

Humanistische Psychotherapie

In der Humanistischen Psychotherapie wird eine phänomenologische Grundhaltung im Sinne einer Fokussierung auf das unmittelbare Erleben betont.

Die von Carl Rogers herausgearbeiteten „Therapeutenvariablen“ (Echtheit, Kongruenz, Empathie und unbedingte positive Zuwendung) können als Anwendung von Achtsamkeit in der Therapeut-Patient-Beziehung betrachtet werden.

In der von Eugene Gendlin entwickelten Focusing-Methode steht das achtsame Gewahrsein für ganzheitliche Erfahrungen am Rande des Gewahrseins („Felt Sense“) im Mittelpunkt.

In der humanistischen Gestalttherapie wird das Gewahrsein für das aktuelle Erleben im Kontakt mit dem Therapeuten und mit anderen Menschen betont und hervorgehoben, dass eine Veränderung nur auf Basis der Akzeptanz des Gegenwärtigen gelingen kann („paradoxe Theorie der Veränderung“).

Die humanistischen Ansätze gehen jedoch über die Achtsamkeitshaltung hinaus, insofern sie eine Transformation von Selbstbildern und Beziehungsmustern anstreben.

Systemische Therapie

In der Systemischen Therapie wird die Notwendigkeit betont, dass der Therapeut innerhalb des Beziehungssystems und in Bezug auf die unterschiedlichen Persönlichkeitsanteile des Patienten einen neutralen Standpunkt einnehmen solle, sich also nicht mit dem einen Anteil gegen den anderen verbünden solle („Allparteilichkeit“).

Im Unterschied zu einer reinen achtsamkeitsbasierten Haltung geht man in der Systemischen Therapie aber davon aus, dass relevante Veränderungen nur durch „Verstörung“ eines pathologischen Systems erreicht werden können.

Hypnotherapie

In der modernen Hypnotherapie nach Milton Erickson geht man davon aus, dass der Hypnotherapeut alles was der Patient erlebt und tut im Sinne einer konstruktiven psychotherapeutischen Veränderungen nutzen kann („Utilisation“). Psychisches Leid wird als begrenzender veränderter Bewusstseinszustand („pathogene Trance“) verstanden. Moderne Hypnotherapie kann daher als ein Prozess der kooperativen „Enthypnotisierung“ verstanden werden.

Im Unterschied zu einer primär achtsamkeitsbasierten Therapie wird in der Hypnotherapie aber mit direkten oder unterschwelligen Suggestionen zur Veränderung psychischer Muster gearbeitet

5.   „Komponenten“ von Achtsamkeit

Harrer und Weiss arbeiten eine Reihe von „Komponenten“ von Achtsamkeit heraus:

  • Präsenz: Aufmerksamkeit für bzw. Gewahrsein auf das gegenwärtige Erleben, rezeptives Beobachten, unmittelbare Anschauung, Entwicklung eines „inneren Beobachters“
  • Mitgefühl: der Wunsch, einem anderen möge es besser gehen
  • Selbstmitgefühl: Einfühlung in das eigene Befinden, freundliche, liebevolle Aufmerksamkeit für sich selbst
  • Wertfreiheit: „reine“ Wahrnehmung ohne zu werten, ohne etwas verändern, anders machen oder anders haben zu wollen und ohne zu handeln (Gegenteil: automatisches Reagieren im „Autopilotenmodus“)
  • Akzeptanz: annehmen was ist
  • Güte: freundliche, liebevolle Aufmerksamkeit
  • Etikettieren: phänomenales Benennen des Erlebten ohne konzeptuelles Einordnen
  • Anfängergeist: eine neugierige, interessierte Haltung, so als ob man das Erlebte zum ersten Mal erleben würde
  • Zulassen: interessierte Zuwendung für alles, was erlebt wird
  • Aufmerksamkeitslenkung: zeitweilige fokussierte Konzentration auf bestimmte Objekte oder Inhalte

6.   Wirkungen von Achtsamkeit

Wenn ein Mensch über längere Zeit hinweg übt, im Alltag eine achtsame Haltung einzunehmen oder konsequent Achtsamkeitsübungen absolviert, stellen sich nach Harrer und Weiss eine Reihe von positiven Folgen ein:

  • Verfeinerung der Selbstwahrnehmung und des Selbstwertgefühls
  • erhöhte Toleranz gegenüber aversivem Erleben
  • innere Ruhe, Gelassenheit und Gleichmut, innerer Friede
  • Freiheit, etwas zu tun oder zu unterlassen („Nicht-Reaktivität“)
  • liebende Güte, Mitgefühl, Mitfreude
  • Selbstmitgefühl
  • Intensivierung und Vertiefung des Erlebens
  • erhöhte Lebensfreude und Lebensqualität
  • verbesserte Beziehungen
  • verbesserte Selbstregulation
  • erhöhte Effektivität des Handelns
  • größere Präsenz
  • mehr Offenheit für neue Erfahrungen
  • verbesserte Affektregulation
  • erhöhte Mentalisierung
  • erhöhtes Gewahrsein für sekundäre Gefühle (d.h. für Gefühle als Reaktionen auf Gefühle, zum Beispiel Angst vor der Angst, Wut auf eigene Hilflosigkeit u.ä.)
  • Fähigkeit zur Desidentifikation mit leidvollem Erleben durch Zeuge-Sein („therapeutische Ich-Spaltung“)
  • De-Automatisierung (statt „Autopilotenmodus“)
  • Fähigkeit zur Integration von Vermiedenem und Ausgeblendetem bzw. Abgewehrtem

In der Psychotherapie stärkt das Wahrgenommen- und Gespiegeltwerden durch den Therapeuten und die Erfahrung, als ganzer Mensch, als ganze Person existenziell angenommen zu werden das Selbstgefühl und Selbstwertgefühl des Patienten. Das Erleben empathischer Verbundenheit führt ihn heraus aus existenziellen Gefühlen der Isolation.

7.   Achtsamkeit – wie?

Achtsamkeit kann informell oder formell geübt werden.

Informelle Achtsamkeit

Auf informelle Weise kann eine achtsame Haltung im Alltag als ein „Modus des Seins“ geübt werden. Besonders für Menschen, die in einem „Tun-Modus“ (z.B. chronischer Hyperaktivität, Kontrollwahn o.ä.) gefangen sind, kann das bewusste Einnehmen eines rezeptiven „Seins-Modus“ wohltuend und heilsam sein.

Tun-Modus
  • nachdenken
  • verändern wollen
  • bewerten
  • zielorientiert sein
  • haben-/nicht haben wollen,
  • auf Zukunft oder Vergangenheit orientiert sein
  • fokussiert sein
  • innerer Dialog/verbales Denken
  • Gedanken als Realität behandeln
  • gedankenverloren sein
  • scheinbar sichere Überzeugungen
  • fixiertes Selbstbild
Seins-Modus
  • nicht-konzeptuelle, unmittelbare Erfahrung
  • wahrnehmen was ist
  • nicht werten
  • nicht tun
  • innerer Friede
  • auf die Gegenwart zentriert sein
  • panoramisch wahrnehmen
  • phänomenologisch benennen/etikettieren (statt konzeptuell nachdenken)
  • Gedanken als mentale Aktivität erkennen und behandeln (statt Gedanken als Wirklichkeit nehmen)
  • achtsame Präsenz
  • nicht-wissen (statt scheinbar sichere Überzeugungen)
  • Zeuge-/innerer Beobachter sein
Formelle Achtsamkeit

Achtsamkeit kann in Form von formellen Meditationsübungen geübt werden, beispielsweise durch:

  • achtsames Gewahrsein des Atems, des Körpers („Body-Scan“), der Gedanken, der Gefühle, des Geistes, der Stimmungen, äußerer Wahrnehmungen, eines Gefühls der Ruhe, positiver Wahrnehmungen, von Beziehungsmustern, des Beobachters/des Ich, der Vergänglichkeit, des Felt Sense o.ä.
  • Üben von liebender Güte/Mitgefühl (z.B. durch „Metta-Meditation“)
  • Oszillieren zwischen Problem-Wahrnehmungen und Ressourcen-Wahrnehmungen
  • sich einer vermiedenen Situation oder einem vermiedenen Zustand aussetzen ohne mit Vermeidung oder Abwehrprozessen zu reagieren („nicht reaktive Exposition“)
  • Etikettieren von Wahrnehmungen ohne konzeptuelles Darüber-Nachdenken (z.B.: „Gedanken … Gefühle … Körperempfindungen … Gedanken …“ usw.)

8.   Achtsamkeit des Psychotherapeuten

Eine achtsame Grundhaltung fördert beim Psychotherapeuten eine Reihe von Fähigkeiten, die im psychotherapeutischen Prozess erforderlich und hilfreich sind:

  • persönliche Präsenz, emotionale Erreichbarkeit, Verfügbarkeit
  • Empathiefähigkeit, Feinfühligkeit, Fähigkeit zum „Hören mit dem dritten Ohr“
  • Einstimmung, emotionale Abstimmung
  • Antwort-Fähigkeit, Fähigkeit zu personaler Begegnung und emotio-vegetativer Resonanz
  • Bewusstheit über eigene Gefühle und Gegenübertragungen, Selbstempathie, Selbstwahrnehmung
  • Offenheit auch für Unerwartetes und Unbekanntes
  • Fähigkeit zur bifokalen/bidirektionalen Aufmerksamkeit (sowohl auf sich selbst als auch auf den Patienten)
  • Fähigkeit zur Disidentifikation, dadurch Minderung des „Empathistresses“/der „Anhaftungsmüdigkeit“, „nicht-ergreifendes Mitfühlen“ dient auch der Burnout-Prophylaxe
  • Fähigkeit zum phönomenologischen (nicht-interpretierenden, nicht-manipulierenden) Verstehen
  • Fähigkeit, Brüche in der therapeutischen Beziehung frühzeitig zu erkennen und durch nicht-defensive Haltung (d.h. ohne Rückzüge/Gegen-Aggression) zu „reparieren“
  • Un-/Allparteilichkeit bzgl. innerer Anteile und systemischer Konstellationen
  • eine forschende (statt problem- oder lösungsorientierte) Haltung, experimentelle Orientierung

in zentrales Prinzip einer achtsamkeitsbasierten Psychotherapie ist die „Gewaltfreiheit“ im Sinne des respektvollen Akzeptierens sogenannter „Widerstände“ des Patienten. „Widerstand“ wird als intelligenter und im Prinzip berechtigter Selbstschutz verstanden. Er wird achtsam bemerkt und gemeinsam in ihren Ursprüngen und seiner Funktion ergründet.

Autoritäre Hierarchisierung (Therapeut oben, Patient unten) wird abgelehnt. Stattdessen wird ein intersubjektiver Kontakt auf Augenhöhe angestrebt. Der Therapeut versteht sich als neugierig-forschender Nicht-Wissender. Seine Äußerungen beinhalten stets ein „halbes Fragezeichen“.

9.   Kritische Anmerkungen

Bei allem Wertvollen, das eine achtsame Haltung des Therapeuten, die Förderung von Achtsamkeit bei unseren Patienten und diverse spezialisierte achtsamkeitsbasierte Methoden für uns bereithalten wäre es sicherlich zu viel des Optimismus, wenn man denken würde, dass ein nur oder auch nur schwerpunktmäßig auf Achtsamkeit basierter psychotherapeutischer Prozess ausreichen würde, um relevante psychotherapeutische Veränderungen der Persönlichkeitsstruktur und der Beziehungsmuster unserer Patienten zu bewirken.

Ein ausschließlich oder überwiegend achtsamkeitsbasiertes Vorgehen wäre mir zu passiv und vitalitätsarm, was ich vor allem dann als Problem sehen würde, wenn Patienten von ihrer Persönlichkeit her sowieso eher introvertiert, handlungsgebremst und passiv-hinnehmen sind. Wo bliebe das engagierte Ringen mit sich, der Wagemut, die glühenden und eruptiven Emotionen, die leidenschaftliche innere und zwischenmenschliche Auseinandersetzung? Das Ziel eines psychotherapeutischen Prozesses ist ja nicht bloßes Gewahrsein, sondern letztlich die Transformation von Einstellungen und Beziehungsmustern auf Seiten des Patienten zur Linderung von psychischen Leid ist.

In meiner eigenen Praxis ruht der psychotherapeutische Prozess auf drei Säulen:

  • akzeptierendes und achtsames phänomenales Wahrnehmen, besonders in den Grenzbereichen des Gewahrseins,
  • psychodynamisch-existenzielles Verstehen, Symbolisieren und Begreifen,
  • kooperativ-intersubjektive Auseinandersetzung und Herausforderung.

Meiner Meinung nach sind alle diese drei Grundhaltungen erforderlich für einen nachhaltig konstruktiven psychotherapeutischen Prozess.

Als einen nicht ausgearbeiteten inneren Widerspruch empfinde ich es, wenn Harrer und Weiss zunächst betonen, wie wertvoll es ist, achtsam für „alles“ Erlebte zu sein, insbesondere auch für aversive Empfindungen, dann aber auch Methoden beschreiben, die auf eine Refokussierung der Aufmerksamkeit, weg von „problematischen/negativen“ Empfindungen und Einstellungen und hin zu „ressourcenvollen/positiven“ Wahrnehmungen hinauslaufen. Eine auf „positive“ Empfindungen fokussierte Aufmerksamkeit blendet aversives Erleben aus, und das ist meines Erachtens gerade nicht das, was vorher als „akzeptierende Achtsamkeit“ ausgeführt wurde.

Mit den von Harrer und Weiss explizit und implizit vertretenen buddhistischen Vorstellungen von der Entstehung und der Aufhebung von psychischen Leid habe ich Probleme:

  • Die buddhistische Vorstellung verlegt die Ursachen für die Entstehung und Aufrechterhaltung von psychischem Leid einseitig in die Innenwelt des Patienten. Es erscheint so, als könne man durch entsprechende innere Einstellungen unter allen äußeren Umständen einen Zustand der Freiheit von Leid erreichen. Als Beleg dafür werden häufig sogenannte „erleuchtete“ Menschen angeführt, die diesen Zustand angeblich nach jahrzehntelanger intensiver Meditation erreicht haben sollen. Nur durch Veränderung mentaler Prozesse und ohne reale Veränderung der äußeren Umstande könne psychisches Leid „ausgelöscht“ werden könne. Ein alltagspraktisches, transformatives Handeln ist dann nicht mehr erforderlich, oder zumindest wird darauf nicht der Fokus gelegt.
    Eine Reihe von Bekannten und Patienten von mir, die z.T. seit Jahrzehnten intensiv meditieren, berichten zwar von gewissen wohltuenden Wirkungen ihrer Meditationserfahrungen, aber keiner von ihnen hat einen „Leid-freien“ Zustand auch nur annähernd erreicht. Alle haben weiterhin dieselben Probleme „wie du und ich“.
    Meiner Meinung nach sind die inneren Prozesse im Patienten nur die eine Seite der Aufrechterhaltung von psychischem Leid. Die äußeren Lebensverhältnisse (z.B. repressive oder verworrene Beziehungskonstellationen, ausbeuterische oder entwürdigende soziale oder berufliche Verhältnisse, Fehlernährung, Bewegungsmangel, Konsum von Suchtstoffen usw. usw.) dürfen dem gegenüber nicht vernachlässigt werden. Sie erfordern nicht nur akzeptierende Achtsamkeit sondern aktive, alltagspraktische Auseinandersetzung und engagiertes Handeln.
  • Wenn man „etwas will, was nicht da ist“, ist das nicht unbedingt Gier, es kann auch ein natürliches Bedürfnis sein, z.B. nach einer schönen Wohnung, dem Abschluss einer Ausbildung, einer befriedigenden Beziehung oder nach einem harmonischen Familienleben.
    Wenn jemand etwas nicht will, was aber da ist, ist das nicht unbedingt Hass, es kann auch der Wunsch sein, sich von etwas zu befreien, was dem Wohlbefinden nicht zuträglich ist, z.B. von einer Sucht, einer einengenden Beziehung, einer Abhängigkeit oder einer sozialen Repression.
    Wenn jemand etwas nicht anerkennen will, was aber der Fall ist, ist das nicht unbedingt Verblendung, es kann auch eine kritische Auseinandersetzung mit einer herrschenden Ideologie sein, z.B. der Idee der Alternativlosigkeit, der Ausländerfeindlichkeit, sozialer Anpassung oder mit Geschlechterrollen-Stereotypien.
  • Ein festes Selbstbild muss keine zwanghafte Verkrustung bedeuten, es kann auch eine klare Identität und klare Standpunkte bedeuten, z.B. eine weltanschauliche oder politische Identität, definierte Standpunkte zu ethischen, philosophischen, sozialen oder Erziehungsfragen usw.
  • Der „Tun-Modus“, also der „westliche Weg“ (konzeptuelles finales Denken, aktives und veränderungsorientiertes Handeln aufgrund fester Überzeugungen usw.) muss nicht Ursache für psychisches Leid sein. Er ist im Alltag sehr häufig nicht nur sinnvoll sondern erforderlich. Sein Fehlen oder auch nur seine Unterbewertung führt in eine bloß-hinnehmende Passivität hinein, die psychotherapeutisch nicht erstrebenswert ist.
  • Die buddhistische Vorstellung, dass „das Ich eine Illusion“ sei, kann bei Patienten, deren Identitätsgefühl sowieso schwach ist, zu einer weiteren (dann zusätzlich „spirituell“ verbrämten) Schwächung ihrer Selbststruktur führen, was ich psychotherapeutisch nicht zielführend finde.
  • Wenn ein Mensch an etwas oder jemanden gebunden ist, z.B. an einen geliebten Menschen oder an ein Projekt, das ihm viel bedeutet, ist das nicht unbedingt ein „Anhaften“, sondern es kann eine fruchtbare und haltgebende existenzielle Bindung, ein Sich-Einlassen und Sich-Engagieren sein, was keinesfalls überwunden werden sollte oder überwunden zu werden braucht.
  • Die Bewertung unserer Erfahrungen ist ein unvermeidlicher Aspekt unserer Emotionalität als Mensch. Wir können nicht anders als bspw. einen grandiosen Sonnenuntergang über einem südlichen Meer als „schön“, eine nervige Kreissäge neben unserem Hotel aber als „ätzend“ zu empfinden. Beides „neutral“ wahrzunehmen also nicht-bewertend, würde ein Abschalten unserer Emotionalität voraussetzen, was ich mir nur in Form einer Abtötung der eigenen Lebendigkeit vorstellen kann, die ich überhaupt nicht als erstrebenswert ansehen kann.
  • Leben „ist“ nicht Leiden, sondern es beinhaltet unter anderem auch Leiden, aber auch Glück, Wohlbefinden, Zufriedenheit usw.
  • Schwierigkeiten habe ich mit Formulierungen, in denen religiöse Standpunkte des Buddhismus (von denen viele für mich schwer nachvollziehbar sind, und von denen ich manche für begrifflich inkonsistent halte) als „edle Wahrheiten“ und nicht als Standpunkte ausgegeben werden, die man teilen kann oder auch nicht. Weltanschauliche Positionen als unanzweifelbare und „spirituell begründete“ Wahrheiten auszugeben ist – sorry Leute – genau das was man unter „religiösem Fundamentalismus“ versteht und würde dem, was ich unter „achtsamem Respekt“ verstehe, diametral widersprechen.

Werner Eberwein