Wieso ist Humanistische Psychotherapie ein emanzipatorisches Verfahren?

Die humanistische Psychotherapie strebt an, als Teil der öffentlichen Gesundheitsversorgung zur Approbationsausbildung und zur Abrechnung über die Krankenkassen zugelassen zu werden. Sie versteht sich als Verfahren zur Heilung oder Linderung psychischer Krankheiten. Dabei geht sie davon aus, dass anhaltendes psychisches Leid ein Resultat multipler Entfremdungen ist, die wiederum Aspekte sozialer Verwerfungen auf der gesellschaftlichen Ebene sind.

Depressive, strukturelle, posttraumatische oder Hyperaktivitäts-Störungen haben in den letzten Jahrzehnten deutlich zugenommen. Andere Störungsbilder wie Hysterie, Katatonie oder Neurasthenie sind verschwunden oder deutlich rückläufig. Es gibt klare Unterschiede in Art und Auftretenshäufigkeit psychischer Störungen nach historischer Epoche, sozialer Situation, Kulturkreis, Milieu, Alter, Geschlecht oder sozialer Schicht. Sozio-ökonomische Strukturen und kulturelle Faktoren sind also offenbar an der Entstehung und Aufrechterhaltung individueller psychischer Störungen zumindest beteiligt.

Daher ist nachhaltige psychotherapeutische Heilung nur als emanzipatorischer Prozess denkbar im Sinne der individuellen Auseinandersetzung, der Standpunktfindung und der Gewinnung von Handlungsfähigkeit des Patienten in Bezug auf repressive oder mangelhafte sozialen Bedingungen, unter denen er lebt.

Beispiel: Eine afro-deutsche Patientin, die in einem kleinen Ort in Brandenburg aufgewachsen ist, leidet unter Depressionen und sozialen Ängsten. Sie ist schon jahrzehntelang direkten und indirekten rassistischen Anfeindungen und Entwertungen ausgesetzt.

Es würde zu kurz greifen, die Ängste und Depressionen der Patientin nur zu individualisieren und von der rassistischen Atmosphäre in der Umgebung der Patientin abzusehen. Ein wichtiger Aspekt der Psychotherapie mit dieser Patientin wäre es, zu validieren, was sie berechtigt als Rassismus wahrnimmt und mit ihr zusammen angemessene Umgangsweisen damit zu erarbeiten und zugleich zu überprüfen, welchen Reaktionen anderer Menschen sie eventuell fälschlicherweise rassistische Motive zuschreibt und welche Aspekte ihrer Ängste und Depressionen evtl. auf andere Quellen zurückzuführen sind.

Humanistische Psychotherapie versteht individuelle psychische Heilung auch als Auseinandersetzung mit sozialer Diskriminierung, kultureller Intoleranz, ökonomischer Ausbeutung, sozialer Unterdrückung und kultureller Verödung.

Werner Eberwein