Wie können wir uns mit unserer Intuition verbinden?

In ihrem Buch „Die Kunst des Annehmens – Leben und Arbeiten mit Focusing“ (Books on Demand 2013) hat die 1949 geborene US-amerikanische Linguistin und Focusing-Ausbilderin Ann Weiser-Cornell, Präsidentin der Accociation for Humanistic Psychology, eine fortgeschrittene Variante des Focusing vorgestellt, die in ihrer zugrundeliegenden Philosophie und in der praktischen Anwendung über das Konzept des Focusing-Erfinders Eugene Gendlin hinausgeht.

Grundlage ihres Focusing-Konzepts ist radikales Annehmen von allem, was im Inneren da ist. Sich dem, was der Patient (und der Therapeut) erlebt, radikal zuzuwenden bedeutet nicht, sich damit zu identifizieren, aber auch nicht, sich davon zu isolieren. Um mit dem inneren Erleben Kontakt aufzunehmen und damit in eine Beziehung zu treten, ist nach Weiser-Cornell eine mittlere Distanz erforderlich, d.h., dass sich Patient und Therapeut weder in ihr Erleben einsaugen oder davon überwältigen lassen (sich damit „identifizieren“), noch dass sie auf eine ablehnende, vermeidende oder verleugnende Art Distanz dazu einnehmen (sich davon „dissoziieren“).

Nach einer alten buddhistischen Vorstellung entsteht psychisches Leiden,

  • wenn man gegen etwas ankämpft, was da ist,
  • wenn man etwas haben will, was nicht da ist, oder
  • wenn man etwas nicht wahrhaben will, was aber der Fall ist.

Psychische Heilung bedeutet dann, zu akzeptieren, was da ist, was nicht da ist oder was der Fall ist.

Das eigene Erleben akzeptieren bedeutet aber nicht, sich damit zufriedenzugeben. Es bedeutet nicht, mit dem Leiden der Welt im stillen Kämmerlein auf meditative Weise seinen Frieden zu machen, sondern in der inneren Welt auf achtsamer Weise das eigene Erleben in all seinen Aspekten, Facetten und Tiefenschichten anerkennend anzunehmen. Das geschieht durch Selbstempathie, also durch Einfühlung in sich selbst, durch ein Sich-Verbinden mit den eigenen Gefühlen im Körper.

Im Rahmen meiner Fortbildungsreihe „Körperpsychotherapie“ werden die Grundprinzipien der Focusing-Technik zur Kommunikation mit der Intuition über die ganzheitliche Körperwahrnehmung vermittelt. Informationen und Anmeldung hier: https://www.werner-eberwein.de/koerperpsychotherapie-fortbildung/. Werner Eberwein

Weiser-Cornells Konzept des radikalen Annehmens steht der Idee des Tun-ohne-Tun („Wu-Wei“) aus der Zen-Tradition nahe, ebenso der „paradoxen Theorie der Veränderung“ von Arnold Beisser, eine der Grundlagen der humanistischen Gestalttherapie: Psychisch heilsame Veränderung geschieht durch konstruktive Integration abgespaltener Anteile und dadurch erst möglich werdendes verantwortliches Handeln, nicht aber durch mechanisch-technische Psycho-Manipulationen.

Hintergrund dieses Konzeptes ist die Idee, dass ein Mensch, der gelernt hat, gegen die eigenen Gefühle und Bedürfnisse zu leben, ein entfremdetes, falsches Selbst entwickelt, das zwar die bestmögliche Anpassung an seine Lebensbedingungen (vor allem in der frühen Kindheit) darstellt, aber anhaltendes psychisches Leid zur Folge hat. Heidegger spricht hier von einer Anpassung an das „Man“ (den sozialen Druck der unpersönlichen Masse), die zu einem Leben in „Uneigentlichkeit führt. Wir würden heute vielleicht von einer „coolen Fassade“ sprechen, hinter der psychisches Leid verborgen bleibt, und die eine leidvolle Art der Lebensgestaltung aufrecht erhält.

Weiser-Cornell geht davon aus, dass das Erleben und Handeln des Menschen als Subjekt ein Prozess ist, der sich beständig in einem sozial-ökologischen Kontext abspielt und sich insbesondere in fortgesetzten intersubjektiven Auseinandersetzungen mit anderen Menschen herstellt und fortentwickelt. Daher sind objektivierend-mechanische Vorstellungen des Psychischen (z.B. von psychischen Instanzen, Schemata, invarianten Persönlichkeitseigenschaften, Diagnosen, psychischen Programmen usw.) als Verdinglichungen („Reifizierungen“) zu betrachten, die dynamische Erlebensflüsse in erstarrte Kategorien bringen und damit blind gegenüber ihren Veränderungsmöglichkeiten werden und psychische Transformationen mehr behindern als fördern.

Im Focusing kommt es darauf an, aus der in unserer Kultur immer dominanter werdenden Haltung des „Tuns“ und „Machens“ in möglichst großer ja immer größerer Geschwindigkeit, also aus der Hetze des neoliberalen Beschleunigungswahns herauszufinden und sich stattdessen in einem Prozess bewusster Verlangsamung und des Sich-Zeit-Nehmen in einer Haltung des Verweilens sich einzulassen auf die Eigendynamik und die autogenen Transformationen psychischer Prozesse, die geschehen, wenn man sie zulässt.

Auch von einer ebenso verbreiteten technischen Vorstellung von Präzision, Exaktheit, Reproduzierbarkeit und konkreter Beschreibbarkeit muss man im Focusing Abschied nehmen und sich stattdessen einlassen auf vage, zunächst nur undeutlich im Sinne von Ahnungen oder Assoziationen erfassbare Erfahrungen, die nie vollständig greifbar, begreifbar oder benennbar werden, weil es sich um ganzheitliche („holistische“) Erlebnisweisen handelt, die im Focusing als „Felt Sense“ bezeichnet werden.

Wenn es Patient und Therapeut gelingt, aus der geistigen „Rush-Hour“ herauszufinden und mit freundlicher Aufmerksamkeit abzuwarten wie die eigenen Empfindungen sich prozesshaft entfalten, entsteht ein autogener Bewältigungsprozess, der aus dem Inneren des Patienten kommt und sich dialogisch in der Interaktion mit dem Therapeuten fortentwickelt.

In diesem Prozess ist es zentral wichtig, zunächst noch Vage und das noch im Entstehen bzw. in der Gestaltswertung Begriffene wertzuschätzen, ohne vorschnell Klarheit, Konkretheit und praktische Umsetzbarkeit erzwingen zu wollen. Im Vertrauen auf die „innere Weisheit“ autodynamischer Transformationsprozesse kann es gerade durch das Aufgeben von Kontrolle gelingen, mehr Wahlfreiheit und bewusste Handlungsmöglichkeiten zu gewinnen. Es handelt sich dabei nicht um reproduzierbare, technische Manipulationen, sondern um einen intuitiven Prozess, der in seinem Verlauf und seinem Ergebnis weder planbar noch vorhersagbar ist.

Die Haltung des Begleitens mit freundlicher Aufmerksamkeit ähnelt der Haltung des Nichtwissens, die in der zen-buddhistischen Tradition als „Anfängergeist“ bezeichnet wird. Vom Therapeuten ist dabei vor allem seine personale Präsenz, also seine professionell-anteilnehmende Anwesenheit als ganze Person gefordert, aber kein schnellstmöglich mechanisch-technisches Verändern-Wollen gefragt. Diese Haltung ist und wirkt anti-narzisstisch, weil der Therapeut seine Rolle als dialogisches Begleiten und gemeinsame Auseinandersetzung, nicht aber als ein wissendes oder lehrendes „Umkrempeln“ des Patienten definiert.

In dieser entwickelten Form des Focusing stellt der Therapeut möglichst wenige direkte Fragen an das Bewusstsein des Patienten, denn diese werden in der Regel „aus dem Kopf“ beantwortet. Selbst weit offene Fragen wie „Was erlebst du gerade?“ drängen den Patienten implizit, sein vielleicht in diesem Moment für ihn noch kaum fassbares, ganzheitliches, körperlich-emotional-symbolisches Erleben auf eine relativ kurze sprachlich direkt kommunizierbare Formel zu bringen.

Wenn jemand beispielsweise während einer Wanderung durch einen südamerikanischen Urwald gefragt würde: „Was nimmst du gerade war?“, so könnte er sprachlich vielleicht antworten: „Ich sehe überall grün, es ist warm und feucht, es ist eigenartig still, der Boden ist ziemlich matschig.“ Wer aber schon einmal in einem Urwald war, weiß, wie wenig diese Worte von der Ganzheit einer Wanderung durch einen Dschungel wiederzugeben vermögen.

Ebenso bemüht sich der Therapeut, so wenig wie möglich zu interpretieren, dem Erleben des Patienten also Konzepte aus eigenen Erfahrungen oder Theorien überzustülpen oder etwas vom Patienten zu fordern, was ihn vielleicht von seinem momentanen Erleben eher weg als tiefer in sein Erleben hineinführt. Vielmehr bemüht sich der Therapeut, das selbstempathische innere In-Beziehung-Gehen des Patienten und den Dialog mit und zwischen seinen Anteilen Schritt für Schritt zu begleiten, einzuladen und gelegentlich anzuleiten.

Der zentrale Begriff beim Focusing ist der „Felt Sense“. Was der Felt Sense ist, ist nicht ganz einfach zu erklären. Es handelt sich um etwas, wofür es in der Alltagssprache keinen angemessenen Begriff gibt, daher verwendet man den Fachbegriff „Felt Sense“ dafür.

  • Der Felt Sense ist das Gefühl, dass man mit einem bestimmten Thema verbindet, aber es handelt sich dabei nicht um eine konkrete Emotion, zum Beispiel um Freude, Trauer, Zuneigung oder Ärger.
  • Der Felt Sense wird im Körper gespürt, aber es handelt sich nicht um eine einfache Körperempfindung wie zum Beispiel Magenschmerzen, kalte Füße oder eine Anspannung im Nacken.
  • Es handelt sich um eine ganzheitliche Empfindung im Hier und Jetzt, aber es bezieht sich nicht auf alles und jedes hier und jetzt, sondern auf ein bestimmtes Thema.

Unter dem Felt Sense (ungefähre Übersetzung: „gespürte Bedeutung“) versteht man im Focusing die ganzheitliche, im Körper spürbare Wahrnehmung eines Themas. Der Felt Sense ist etwas, das gespürt, also empfunden werden, aber nicht vollständig und präzise benannt oder erfasst werden kann.

  • Der Felt Sense ist (zunächst) vage, aber er ist (oder bleibt) nicht verschwommen oder nebulös.
  • Es handelt sich um eine Wahrnehmung an der Grenze dessen, was wir bewusst noch wahrnehmen können, aber er ist nichts Esoterisches oder Geisterhaftes, keine Energieform aus einer anderen Dimension oder ähnliches, sondern etwas, das man in jedem Moment unmittelbar in seinem Inneren spüren kann.

Die einfachste Möglichkeit, Kontakt zum Felt Sense aufzunehmen, besteht darin, dass man sich ein Thema innerlich vergegenwärtigt, erspürt, wie sich dieses Thema als Ganzes im Körper anfühlt, und dann zu einem anderen Thema wechselt, erspürt wie sich dieses andere Thema im Körper anfühlt und den Unterschied zwischen beiden Empfindungen wahrnimmt.

Beispielsweise könnte man sich innerlich eine Person vergegenwärtigen, die man sehr gerne mag und spüren, was man im Körper insgesamt spürt, wenn man an diese Person denkt. Dann könnte man zu einer anderen Person wechseln, die man nicht besonders gut leiden kann, oder mit der man gerade einen Konflikt hat und spüren, wie sich „alles zu dieser Person“ körperlich anfühlt. Dann könnte man zwischen den beiden Personen hin und her gehen und innerlich vergleichen, wie sich „alles zu Person A“ anders anfühlt als „alles zu Person B“.

Den Unterschied zwischen der ganzheitlichen Wahrnehmung zu zwei Personen, zu denen man eine unterschiedliche Beziehung hat, kann nahezu jeder Mensch unmittelbar in seinem Inneren spüren, auch wenn er diesen Unterschied zunächst nicht exakt in Worte fassen kann. Wenn man vorschnell versucht, für den Felt Sense bzw. den Unterschied zweier Felt Senses Worte zu finden, dann spürt man intuitiv: „Das ist es so ungefähr, aber es stimmt noch nicht wirklich.“

Vielleicht fühlt sich „alles zu Person A“ zum Beispiel „rund und weich“ an, während sich „alles zu Person B“ an fühlt wie „eckig und kantig“. Sobald man diese Worte ausspricht, spürt man meistens, dass sie zwar etwas von der ganzheitlichen Empfindung zu der jeweiligen Person zum Ausdruck bringen, aber noch längst nicht alles, was man mit dieser Person verbindet, und auch noch nicht den Kern, das Wesen, das Zentrum des Felt Sense in Bezug auf diese Person. Im Focusing spricht man dann von einem „Griff“. Damit ist ein erster Versuch gemeint, den Felt Sense zu benennen, bzw. ihm ein (in diesem Fall sprachliches) Symbol zuzuordnen.

Es wäre auch möglich, zu versuchen, den Felt Sense beispielsweise mit einem Stimmlaut, einer Geste, einem symbolischen Gegenstand, einer Skizze, einer Farbe oder einer Körperhaltung auszudrücken. Beispielsweise könnte man versuchen, den Felt Sense zu Person A (die man sehr gerne mag) mit einer Geste auszudrücken, die ein zärtliches Über-den-Kopf-Streicheln ausdrückt, mit einem leisen, sanften Summen oder einer zart schraffierten, violetten Fläche. Den Felt Sense zu Person B könnte man nonverbal beispielsweise durch eine Geste der Abgrenzung, einem harten, tiefen Stimmlaut oder eine waagerechten schwarzen Linie zum Ausdruck zu bringen. Wieder wird man in der Regel spüren, dass diese nonverbalen „Griffe“ den Felt Sense den jeweiligen Person gegenüber noch nicht wirklich, noch nicht vollständig, präzise oder im Wesentlichen zum Ausdruck bringen.

Man pendelt dann zwischen dem unmittelbar spürbaren, ganzheitlichen Felt Sense und dem Symbol (in Form von Worten, Gesten, Stimmlauten, Skizzen oder Ähnliches) hin und her und vergleicht, innerlich, ob und inwieweit das Symbol mit dem ganzheitlichen Empfinden übereinstimmt, es also angemessen zum Ausdruck bringt oder noch nicht. Dadurch entsteht ein innerer Suchprozess, bei dem sich die Symbolisierungsversuche dem Felt Sense in seiner Weite und Tiefe allmählich mehr und mehr annähern, wobei aber auch der Felt Sense selbst seinen Charakter verändert.

Wenn man beispielsweise einen Menschen zunächst nicht besonders gut leiden kann, dann ist das oft ein eher diffuses, unwohles Gefühl, das man schwer genauer benennen kann und vielleicht auch gar nicht genauer benennen will. Wenn man sich aber bemüht, umfassender und tiefer auf den Begriff zu bringen bzw. zu symbolisieren, wie sich „alles zu Person B“ (die man nicht besonders gut leiden kann) anfühlt, dann verändert sich auf subtile Weise in der Regel auch das Empfinden zu Person B und damit die Einstellung zu ihr.

Allein dadurch, dass man dann nicht projektiv mit der Person B beschäftigt ist, beispielsweise indem man sich innerlich vergegenwärtigt, wie „bescheuert“, „widerwärtig“, „intrigant“ oder „hinterlistig“ Person B ist, sondern auf achtsame, selbstempathische Weise die eigenen Empfindungen dieser Person gegenüber erkundet, verändert sich bereits ein Stück weit die innere Einstellung zu dieser Person.

In einem nächsten Schritt kann der Patient oder der Therapeut dem Felt Sense in der inneren (Trance-)Welt Fragen stellen wie zum Beispiel: „Was brauchst du?“, „Worum geht es wirklich?“, „Was willst du nicht wahrhaben?“ Oder „Was berührt diese im Inneren?“ Dabei ist es wichtig, diese Fragen nicht intellektualisierene als Fragen „an den Kopf“ des Patienten misszuverstehen, sondern sie in der inneren Welt an den Felt Sense des Patienten zu richten, und diesen antworten zu lassen. Auf diese Weise können in der inneren Welt, am Rande des Gewahrseins intuitive Einsichten und emotionale Transformationen entstehen.

Der Felt Sense ist eine körperliche Empfindung von etwas, die sich an der Grenze zwischen dem Bewusstsein und dem Unbewussten bewegt. Der Felt Sense ist metaphorisch gesprochen so etwas wie eine Grenzfläche, eine Übergangszone, ein Randphänomen, eine Horizontwahrnehmung des Bewusstseins an der inneren Grenze zum Unterbewusstsein, damit eine Möglichkeit, mit unbewussten Prozessen Kontakt aufzunehmen, sie zu befragen, zu bearbeiten, Ambivalenzen zu bewältigen, Ausgegrenztes zu integrieren und Projektionen in das Gewahrsein aufzunehmen.

Der Felt Sense ist eine zunächst nur vage, unmittelbar im Körper spürbare, komplexe, ganzheitliche, bedeutungsvolle Empfindung, die im Dialog mit dem Therapeuten mehr und mehr dem Bewusstsein und der Auseinandersetzung im inneren Dialog und damit einer Transformation zugänglich wird. Der Felt Sense kann nur intospektiv durch Selbstempathie zugänglich werden, die vom Therapeuten auf empathische Weise begleitet wird.

Eine zentrale Aufgabe des Therapeuten im Focusing besteht darin, den Patienten einzuladen, sich auf die relativ alltagsfremde Ebene der Wahrnehmung und des Dialogs mit dem Felt Sense einzulassen, und nicht vorschnell in scheinbar wissendes Intellektualisieren, in nur-somatisches Körperempfinden, in frei assoziierendes Fantasieren oder Träumen oder in innere Leere abzugleiten. Kern der Focusing-Methode ist eine ganzheitliche Achtsamkeit, die ein fortschreitendes Selbstverstehen zum Ziel hat, nicht aber ein vorschnelles Loswerdenwollen oder krampfhaftes Verändernmüssen.

Dieser Prozess braucht seine Zeit. Es ist in aller Regel nicht mit einem einzigen „Tauchgang“ ins Innere getan, vielmehr handelt es sich um einen fortschreitenden, letztlich endlosen Prozess der inneren Tiefenselbsterkundung mit Phasen der Ruhe bzw. Reorientierung ins Alltagsbewußtsein dazwischen. Der Focusing-Prozess kann vom Patienten auch in seinem alltäglichen Leben dazu verwandt werden, mit seinem inneren (seiner Intuition) Kontakt aufzunehmen, um auf diese Weise mehr und mehr ein „eigentliches“ Leben zu führen, in dem er gut mit seiner inneren Welt verbunden ist und aus dieser heraus lebt.

Eine zentrale Idee von Ann Weiser Cornell ist es, dass es zum Schutz des Patienten vor emotionaler Überflutung hilfreich und manchmal notwendig ist, dass er sich beim Focusing in jedem Moment als Ich-Bewusstsein, also als wahrnehmende Präsenz bewusst ist, das ein „Etwas-in-ihm“, also den Felt Sense wahrnimmt. Auf diese Weise wird eine innere Auseinandersetzung, ein innerer Dialog des Patienten als Bewusstsein mit einer holistischen Empfindung überhaupt erst möglich, die ihn aber nicht ganz einnimmt, „verschluckt“, „in sich einsaugt“ oder überflutet. Es verbleibt vielmehr eine gewisse Distanz bzw. das Gewahrseins eines Unterschiedes zwischen dem wahrnehmenden Bewusstsein und dem wahrgenommenen Felt Sense.

Das Gewahrsein dieser Unterscheidung kann durch die Formulierung der rückmeldenden Äußerungen des Therapeuten bestärkt werden. Nehmen wir an, ein Patient kommt in Kontakt mit traumatischen Ängsten, so dass die Gefahr besteht, dass diese ihn überfluten, mit der Folge, dass er möglicherweise entweder dissoziiert oder zum Selbstschutz zu selbstschädigenden Aktivitäten greift. Hier macht es einen subtilen, aber wirkungsvollen Unterschied, ob der Therapeut sagt: „Da ist eine große Angst“, oder ob er sagt „Sie spüren dort, in der Herzgegend, große Angst“. In der zweiten Formulierung ist impliziert, dass es im Wahrnehmungsfeld des Patienten nicht nur große Angst gibt, sondern auch „ihn selbst“ als wahrnehmende Bewusstsein, das die Angst zwar wahrnimmt, aber nicht mit der Angst identisch, d.h. von ihr vollkommen eingenommen ist oder beherrscht wird. Vielmehr ist sich das Ich-Bewusstsein seiner eigenen Präsenz bewusst, die gerade nicht Angst „ist“.

Der Therapeut kann den Patienten einladen, sich in seiner inneren Welt gleichsam „neben die Angst zu setzen“ und „ihr zuzuhören, wie einem guten Freund“. Wieder ist impliziert, dass es zwischen der Angst und dem Bewusstsein des Patienten einen Unterschied bzw. eine gewisse Distanz gibt, so dass der Patient als Bewusstsein mit dem Angstgefühl in Beziehung treten und sich damit auseinandersetzen kann, ohne davon aber überflutet zu werden. Er ist sozusagen „bei“ dem Gefühl, aber nicht „in“ ihm. Er nimmt eine Beziehung zu seinem Gefühl auf, wobei „Beziehung“ einerseits Kontakt bedeutet, aber andererseits auch Desidentifikation: Man kann nur mit etwas in seinem Inneren „in Beziehung treten“, das etwas anderes ist als man selbst (als wahrnehmendes Bewusstsein).

Der Patient als Bewusstsein nimmt also den Felt Sense achtsam wahr, identifiziert sich aber nicht mit ihm und agiert ihn auch nicht aus. Das ermöglicht es ihm, sich mit seiner Empfindung auseinanderzusetzen und gibt ihm die Wahlfreiheit, nach ihr zu handeln oder nicht.

Ein wütender Patient kann beispielsweise die Empfindung von Wut in sich wahrnehmen im Sinne von: „Ich spüre Wut dort, in meinem Bauch“. Er hat also eine gewisse Distanz dazu und kann wählen, sich wütend zu verhalten oder auch nicht. Er „spürt“ die Wut (oder die Angst, die Verzweiflung, den Schmerz), aber er „ist“ nicht wütend (ängstlich, verzweifelt, verletzt) mit seinem ganzen Sein.

Der Felt Sense kann bedrohlich intensiv sein, aber es kann dem Patienten auch schwer fallen, ihn überhaupt wahrzunehmen, ja überhaupt einen Kontakt zu Gefühlen oder körperlichen Empfindungen aufzunehmen. Hier kann der Therapeut dem Patienten einladen, seinen Körper zunächst auf einer physikalischen Ebene wahrzunehmen, beispielsweise von den Füßen über die Beine schrittweise bis zum Kopf oder von außen nach innen. In der Regel wird es praktisch jedem Patienten möglich sein, zumindest bestimmte Körperregionen im physikalischen Sinn wahrzunehmen, also Temperaturempfindungen, Anspannung, Druckgefühle, den Kontakt mit der Kleidung oder der Unterlage, kleine Bewegungen usw.

Von dort aus kann der Therapeut den Patienten einladen, soweit es ihm möglich ist in das Innere des Körpers hineinzuspüren und „wahrzunehmen, was jetzt in diesem Moment in Ihrem Körper nach Aufmerksamkeit verlangt“, was also im Körperinneren in diesem Moment am deutlichsten spürbar ist. Patienten, die sehr verkopft sind, viel Angst vor ihren Gefühlen haben oder nicht gewohnt sind, darüber zu sprechen, beginnen an dieser Stelle häufig, abstrakte Überlegungen zu äußern, über etwas Vergangenes zu reden, über sich selbst zu berichten, darüber zu sprechen was sie nicht wahrnehmen oder woran sie denken. Das erfordert vom Therapeuten viel Geduld, um den Patienten auf sanfte Weise immer wieder zu seinem Körperempfinden hinzuführen und ihm zu ermöglichen, allmählich das Innere seines Körpers, ja sogar sein Körperempfinden als Ganzes wahrzunehmen.

Wenn die ganzheitliche Körperwahrnehmung dann mit einem bestimmten Inhalt verbunden wird (zum Beispiel: „Wenn Sie an den Vortrag denken, den sie morgen halten werden, wie fühlt sich das in ihrem Körper an?“), dann zeigen sich an dieser Stelle in der Regel erste vage Wahrnehmungen, die der Patient noch nicht angemessen in Worte fassen kann, und die manchmal „so scheu sind wie ein Reh am Waldesrand“. Der Therapeut lädt den Patienten dann ein, sich diesen Empfindungen vorsichtig, langsam und behutsam zu nähern, nicht zu schnell nach ihnen zu greifen (d.h. ihnen einen Begriff zuzuordnen), sondern zunächst nur bei ihnen zu verweilen, sie wahrzunehmen und die Empfindungen sich entfalten zu lassen.

Hier ist es wichtig, jedes Gefühl, jede körperlich spürbare Bedeutungswahrnehmung zunächst auf der phänomenalen Ebene wahrzunehmen und mit freundlicher Aufmerksamkeit zu begrüßen. Dies kann auch explizit geschehen, und das ist oft sehr hilfreich. Der Therapeut kann den Patienten zum Beispiel einladen, zu „dieser Empfindung im Bauch“ explizit zu sagen: „Ich nehme dich war, ich höre dich“.

Patient und Therapeut nehmen sich Zeit, um alles, was der Patient gerade zu empfinden beginnt, mit freundlicher Aufmerksamkeit, Neugier und Interesse kennenzulernen und zu erkunden und vor allem über längere Zeit dabei zu bleiben und sich nicht ablenken zu lassen. Da es sich um zunächst flüchtige, vage Erfahrungen am Rande des Gewahrseins handelt, die sich nicht spektakulär aufdrängen (wie wir das von den modernen Medien gewohnt sind), sondern nicht leicht zu erhaschen und festzuhalten sind, ist es wichtig, dass Patient und Therapeut mit einer Haltung an sie herangehen, wirklich wissen zu wollen, worum es bei und mit dieser Erfahrung geht.

Die Felt Senses sind komplex, beinhalten aber oft Gefühle und Bedürfnisse, die konkreterer gefasst werden können. Es lohnt also, zu versuchen, die Gefühle und Bedürfnisse zu erspüren, die in dem Felt Sense zu einem bestimmten Thema enthalten sind, auch wenn diese häufig ambivalent, widersprüchlich oder paradox sind oder zunächst so erscheinen.

Sollten zunächst nur physikalische Körperempfindungen (z.B. Druck, Spannung, Wärme, Kühle, Enge, Weite o.ä.) bewusst werden, kann der Therapeut den Patienten einladen: „Spüre ob das eine emotionale Qualität/eine Gefühlsqualität hat“. Das erleichtert es dem Patienten, die physikalische Körperwahrnehmung als Emotion zu erfahren bzw. die Gefühlsqualität der Körperwahrnehmung zu erspüren.

Auch sekundäre Emotionen, also Gefühle über Gefühle sind hier relevant. Wenn beispielsweise ein Patient aufgrund einer Verlusterfahrung traurig ist (primäres Gefühl), sich über diese Trauer schämt (sekundäres Gefühl) und wegen dieser Scham über sich selbst wütend ist (tertiäres Gefühl), so sind all diese Gefühlsschichten relevant und Teil der komplexen Felt-Sense-Empfindung.

Ähnlich verhält es sich, wenn ein Patient beispielsweise in Bezug auf die Firma, in der er arbeitet, ambivalente Emotionen hegt, vielleicht einerseits Verbundenheit und Freude an der Arbeit, andererseits Aversionen oder Ärger gegenüber den Arbeitsbedingungen oder gegenüber bestimmten Kollegen oder Vorgesetzten. Hier ist es hilfreich, alle diese Teile zunächst separiert zu betrachten und explizit zu begrüßen. Häufig erscheint zunächst ein Teil im Vordergrund des Gewahrseins, und die anderen Teile verbleiben zunächst unerlebt (unbewusst) im Hintergrund. Durch geduldiges In-sich-Hineinlauschen können aber auch diese allmählich ins Gewahrsein treten.

Der Therapeut nimmt ambivalenten Anteilen gegenüber eine Haltung der Allparteilichkeit ein, d.h. dass er jeden einzelnen Teil annimmt und wertschätzt, ihm Raum gibt und zuhört. Das ist mitunter nicht einfach, vor allem wenn es sich um wilde, unbeherrschte oder destruktive Emotionen handelt (z.B. „Ich hasse sie/ihn, ich möchte am liebsten alle umbringen“). Gerade hier ist eine radikal akzeptierende Achtsamkeit für alle inneren Teile erforderlich und hilfreich und die Voraussetzung, um auch aggressive Anteile ins Bewusstsein zu holen und in Dialog mit anderen Anteilen zu bringen.

Auch hier bedeutet radikale Akzeptanz gerade nicht, destruktiven Anteilen recht zu geben, ihre Sichtweise oder ihre Impulse zu teilen oder zu fördern, sondern, ihnen achtsam zuzuhören, letzten Endes um die Verletzungen zu erkunden, die hinter der Wut verborgen sind.

Der Therapeut lädt den Patienten ein, zu beschreiben, was er empfindet. Hier geht es darum, das Gespürte zu verbalisieren oder zu symbolisieren. Es muss nicht unbedingt direkt durch Worte beschrieben werden, es kann auch bildhaft ausgedrückt werden (z.B. „Es ist wie ein kalter Trichter in der Brust, der nach innen geht“). Der Felt Sense kann auch durch eine Geste, einen Stimmlaut, eine Körperhaltung, eine Skizze oder eine mit Ton modellierte Figur ausgedrückt werden. Mit dem Symbolisieren wird die Empfindung allmählich umfassender, detaillierter und klarer.

Nun lädt der Therapeut den Patienten ein, zwischen der holistischen Empfindung des Felt Sense und seinen Worten bzw. Symbolen hin und her zu pendeln, um zu prüfen, ob die Worte/Symbole genau mit dem Empfundenen übereinstimmen. Manche Patienten antworten dann vorschnell „Ja, stimmt“, aber wenn sie genauer hinspüren, stellen sie meistens fest, dass ihre Worte/Symbole den Felt Sense zunächst nur annäherungsweise und oberflächlich wiedergeben, oder dass wichtige, Facetten ausgeblendet bleiben. Der Therapeut lädt den Patienten dann ein, zu spüren, „ob da noch mehr ist“, also dass gespürte Erleben des Felt Sense zu vertiefen und die Empfindung einzuladen, ihre Ganzheit und Tiefe zu entfalten.

Bis hierhin hat der Patient sein Empfinden aus einer inneren Distanz heraus wahrgenommen, was ihn unter anderem vor Überflutungen geschützt hat. Er war identifiziert mit seinem wahrnehmenden Bewusstsein und hat von dort aus eine Felt-Sense-Empfindung beispielsweise in seiner Herzgegend, seinem Bauchraum oder seinem Rücken wahrgenommen. Um die Erfahrung zu intensivieren, wenn der Patient dafür stabil genug ist, und wenn die Empfindung nicht überflutungsgefährdend ist, kann der Therapeut den Patienten einladen, sich in den Felt Sense hineinzuversetzen, um zu spüren, wie sich die Empfindung „von ihrem Standpunkt aus“ anfühlt. Hier identifiziert sich der Patient also mit seinem Felt Sense und versucht, aus der Identifikation mit diesem heraus die betreffende Situation wahrzunehmen.

Mit den Worten einer hypnotischen, systemischen oder NLP-Teile-Arbeit wird hier also der Felt Sense als „Teil“ behandelt, mit dem das Bewusstsein des Patienten als anderer „Teil“ einen inneren Dialog führt und sich dann mit dem Felt-Sense-Teil identifiziert. Der Therapeut kann einen inneren Dialog zwischen dem Bewusstsein und dem Felt Sense anleiten mit dem Ziel, die Botschaften des Felt Sense zu verstehen um innere Spannungen abzubauen und es dem Patienten zu erleichtern, aus seiner Intuition heraus zu leben.

Auf diese Weise kann ein akzeptierender Dialog zwischen dem Präsenzbewusstsein des Patienten und seinen Teilen sowie zwischen den Teilen untereinander stattfinden, der durch sanfte, offene Fragen unterstützt wird, die vom Therapeuten angeregt werden können. Diese Fragen sollten von Herzen kommen und nicht einer intellektuellen Neugier folgen. Warum-Fragen sind beispielsweise hier eher ungünstig. Günstig sind Fragen an den Teil bzw. den Felt Sense wie zum Beispiel:

  • „Was macht dich so [wund/eingezogen/brennend/stachelig o.ä.]?“
  • „Was brauchst du?“/„Was kann/soll als nächstes passieren?“
  • „Wie würde es sich anfühlen, wenn [das Problem gelöst] wäre?“

Da sich der Prozess in einem veränderten Bewusstseinszustand (in Trance) abspielt, gibt es eine relevante Gefahr, dass der Patient bei der Rückkehr aus diesem Zustand den Kontakt zu dem im Prozess Gewonnenen wieder verliert (Amnesie), d.h. dass seine Abwehr sich wieder schließt und die eben noch integrierten Teile wieder dissoziiert werden, oder dass er das gerade Erlebte auf intellektualisierende Art zerredet und damit entwertet. Daher ist es wichtig, dass sich der Patient zum Ende der Sitzung hin noch einmal bei bzw. in seinem Inneren für das Erlebte bedankt und sich vergegenwärtigt, dass er etwas Wertvolles erhalten bzw. erlebt hat, das für ihn und sein Leben relevant ist.

Oft macht es hier Sinn, wenn der Therapeut den Patienten einlädt, an dieser Stelle in seinem Inneren imaginativ eine „Markierung“ zu setzen, die es ihm ermöglicht, in der nächsten Sitzung gegebenenfalls „wieder dorthin zu gehen, um damit fortzufahren“.

Der Focusing-Prozess kann auf vielerlei Weise mit anderen Verfahren kombiniert und mit anderen Techniken ergänzt werden:

  • Beispielsweise kann Focusing im Rahmen einer psychodynamischen Arbeitsweise eingesetzt werden, um Unbewusstes bewusst zu machen und dem Patienten den Zugang zu abgewehrten oder nie bewusst gewesenen Dynamiken zu erleichtern.
  • Im Rahmen eines systemischen Ansatzes kann Focusing benutzt werden, um die Interaktionen in zwischenmenschlichen oder intrapersonalen Systemen zu erkunden und zu transformieren.
  • In der Körperpsychotherapie kann durch Focusing die Körperwahrnehmung gefördert und der Körperausdruck eingeladen oder mit Berührungs- oder Atemtechniken oder Bewegungsimprovisationen verbunden werden.
  • In Paaren, Familien, Gruppen oder Institutionen kann durch wechselseitiges Focusing der interpersonale Dialog gefördert und dadurch verkrustete Konfliktstrukturen aufgeweicht und der empathische, akzeptierende Dialog gefördert werden.

Durch phänomenologische, also erfahrungsnahe Einsicht im unmittelbaren ganzheitlichen Erleben vertieft, erweitert und verwandelt sich im Focusing das Empfinden und das Empfindungsvermögen des Patienten. Das Ziel dieser Arbeitsweise ist letzten Endes, abgespaltene (abgewehrte, verdrängte, verachtete, schambesetzte, vermiedene, abgewertete) Anteile der Persönlichkeit in dialogischer Auseinandersetzung zu integrieren, wodurch die Person ressourcenreicher, emotional stabiler und ausgeglichener werden kann.

Werner Eberwein