Wie kann man Kränkungen verarbeiten?
Ich stehe im Wald. Auch im übertragenen Sinn, aber auch ganz real. Bin gerade beim Joggen im Grunewald. Nach der Hälfte der Zeit mache ich meistens eine Pause, setzte mich auf einen Stein und genieße die Natur. Diesmal ist allerdings nicht viel los mit Genießen. Mich beschäftigt ein Konflikt mit einem Kollegen, mit dem ich in einem bestimmten Zusammenhang zu tun habe, und von dem ich mich ziemlich mies behandelt fühle. Bin gekränkt auf eine Art, mit der ich schwer umgehen kann. Sogar beim Joggen muss ich immer wieder an die Geschichte denken. Es stiehlt mir regelrecht die Lebensfreude. Ich fühle mich bedrückt und belastet. Mein Geist versucht pausenlos dieses Problem zu lösen, aber im Moment kann ich es nicht lösen. Fühle mich echt nicht gut, ist keine Kleinigkeit. In früheren Zeiten hätte man gesagt, ich sei besessen oder verhext von diesen Kollegen. Ist natürlich Quatsch. Fühle mich aber so. Als ob er wie ein böser Geist in meiner Seele haust und mir die Lebensenergie aussaugt. Obwohl er davon gar nichts weiß. Vielleicht geht es ihm mit mir ja auch so, aber das hilft mir auch nicht. Hey, bin ich nicht Psychotherapeut? Ich müsste doch wissen, wie man mit so etwas umgeht, oder?
Es ist nicht der Konflikt an sich. Es gibt Konflikte, mit denen ich gut umgehen kann, vor allem welche, die direkt und sachlich ausgetragen werden. Es ist hier eine spezielle Art Konflikt, die mir zu schaffen macht. Worum es inhaltlich geht, ist jetzt mal egal. Fühle mich genervt, bedrückt, belastet, geistig gefangen genommen. Ich erinnere mich an mindestens zwei Situationen in meinem Leben, in denen das ähnlich war. Andere Themen, andere Menschen, aber ein ähnliches Gefühl. Als ob rundherum eine graue Plastikfolie auf meine Haut geklebt sei. Ich kann nicht aufhören, immer wieder an die fiesen Attacken dieses Kollegen zu denken, obwohl beim Darüber-Nachdenken überhaupt nichts herauskommt.
Ich muss an mehrere Patienten denken, die mir, wenn auch in anderen Bereichen, ähnliche Probleme erzählt haben. Eine Patientin hat zum Beispiel massive Probleme wegen etwas, das sie als körperlichen Makel empfindet, obwohl das außer ihr vermutlich niemand auch nur bemerkt. Ich hätte es nicht bemerkt, und ihren Freund stört es auch nicht. Trotzdem macht sie sich völlig verrückt damit. Ein anderer Patient grämt sich seit vielen Jahren, weil er seiner damaligen Freundin etwas angetan hat, wofür er sich sehr schämt. Die beiden waren danach noch mehrere Jahre zusammen, und seine Freundin betonte immer wieder, dass sie längst darüber hinweg sei. Trotzdem wurde er seine zwanghaften Grübeleien nicht los.
Wie soll ich meinen Patienten bei solchen Problemen helfen, wenn ich damit selbst nicht klarkomme? Wenn ich ein Bäcker wäre, könnte ich mir ja auch selber mein Brot backen. Als Elektriker könnte ich meine eigenen Leitungen reparieren. Okay, als Friseur könnte ich mir vermutlich nicht besonders gut die Haare schneiden, und als Chirurg könnte ich mir nicht selbst den Blinddarm herausnehmen. Manches kann man eben nicht bei sich selbst. Sich selbst therapieren geht leider auch nicht. Aber eigenständig, quasi in Selbsthilfe damit klar kommen, das könnte schon gehen.
Während ich also im Wald auf einem Stein sitze und eine Herde Schafe beobachte, die zur biologischen Beweidung einer Wiese hinter einem Zaun vor sich hin kauen, probiere ich verschiedene Bewältigungsmöglichkeiten durch, die mir einfallen.
Zuerst fange ich an mit Gedankenstopp, einer Methode aus der frühen Verhaltenstherapie. Wann immer also dieser Konflikt in meinem Geist aufpoppt – und das tut er im Moment alle paar Sekunden – sage ich mit meiner inneren Stimme „Stop!“. Die Gedanken verschwinden … allerdings nur für einen Moment, dann sind sie wieder da. Bringt nicht viel.
Nächster Versuch. Ich versuche, die belastenden Gedanken imaginativ aus meinem Kopf hinauszuwerfen. Das erleichtert mich ein wenig, aber der Effekt ist wie zuvor, kurze Zeit danach sind sie wieder da.
Nächster Versuch, Selbstbestrafung. Sobald die Gedanken kommen, kneife ich mich selbst mit den Fingernägeln. Naja, eigentlich wusste ich, dass das nicht funktioniert.
Ich probiere etwas, was mir schon öfter geholfen hat, wenn ich mich von etwas ernsthaft aber unnötig bedroht oder belastet gefühlt habe. Ich fokussiere meiner Aufmerksamkeit auf das, was ich aktuell außen wahrnehme. Da ist ein Zaun, da ist eine Wiese, da sind Bäume, die Schafe rascheln, ich spüre den leichten Wind auf meiner nassen Haut, ich rieche Walderde. Das ist nicht schlecht, aber es kostet mich einen unentwegten Energieaufwand, immer wieder zur Außenwahrnehmung zurückzukehren. Wenn ich einen Moment davon ablassen, poppt mein Geist nach innen, und der nervige Kollege „hat“ mich wieder.
Also probiere ich es mit Gedanken-Achtsamkeit. Ich versuche, meine Gedanken zu beobachten, woher sie kommen, wohin sie gehen. Führt nicht viel weiter. Bin dann eher noch mehr mit meinen Gedanken beschäftigt.
Ich versuche es mit Autosuggestion. Versuche zuerst, ein positives Gefühl zu imaginieren. Geht auch nur kurz. Dann versuche ich, mich auf das Motiv „Verzeihen“ zu fokussieren. Das funktioniert ganz gut, aber siehe da, die Besessenheit kehrt wieder zurück. Die christliche Variante funktioniert also auch nur momentan.
Ich erinnere mich an eine Diskussion mit einem anderen Kollegen kürzlich, der nahezu alle Probleme, die man haben kann, auf unterdrückte Aggressionen zurückführt. Bin eigentlich nicht wirklich seiner Meinung, probiere es aber mal aus. Ich fokussiere mich innerlich auf ein Gefühl der Aggression, balle meine Fäuste, fletsche die Zähne (hoffentlich kommen jetzt keine Spaziergänger vorbei) und knurre wie ein Wolf. Das tut gut. Sofort ändert sich meine Stimmung. Ich komme aus der Opfer-Identifikation heraus in einen kraftvollen Zustand. Die Welt wird farbiger. Ist nicht schlecht, aber ich kann schlecht den ganzen Tag knurren. Hilft auch nur vorübergehend.
Noch ein Versuch mit Körperarbeit. Ich gehe mit meiner Aufmerksamkeit in meinem Körper und spüre, wo die Bedrücktheit im Körper sitzt. Fühlt sich an wie ein schweres, dickes Gummipolster innen um meine oberen Lungen herum. Ich stehe auf und versuche, durch Veränderung meiner Körperhaltung diese Blockade zu lockern. Stelle mich aufrecht hin, bewege leicht die Schultern und lasse meinen Atem fließen. Fühlt sich gut an. Werde lebendiger. Die Welt wird farbiger. Allerdings auch nur momentan. Wie kriege ich das nur hin, dass die Veränderung dauerhaft bleibt?
Mache eine Übung, die sich vielleicht ein bisschen schräg anhört, die ich mal mit einer Therapiegruppe praktiziert habe, sie heißt „Mentoren befragen“. Man geht in die Natur (da bin ich ja schon) und sucht sich zum Beispiel einen Baum, einen Grashalm oder eine Wolke, spricht eine Frage zu diesem „Mentor“ oder „Kraftwesen“ hin und beachtet dann, was im eigenen Geist passiert. Man mag es kaum glauben, aber man erhält Antworten, natürlich nicht von der Wolke, sondern aus dem eigenen Unterbewusstsein, was aber oft deutlich klüger ist als unser begrenzter Verstand. Ich frage also ein Schaf, das mich gerade schafig anschaut: „Wie komme ich von diesen Gedanken weg?“ Meine Intuition antwortet via Schaf in meinem Geist: „Mach dir keinen Kopf, ich habe nur ein kleines Gehirn, und bin zufrieden, wenn ich den ganzen Tag Gras fresse.“ An sich kein schlechter Rat, dummerweise habe ich mehr Hirn zum Denken als das Schaf, daher ja auch die blöden Gedanken in meinem Kopf. Zur Sicherheit frage ich noch einen kleinen Käfer, der gerade vor mir hin krabbelt und kriege im Prinzip dieselbe Antwort: „Was hast du für ein Problem, was meinst du, wie es mir geht, wenn ich versuche, diesen vermaledeiten Sandhügel hinaufzukommen?“
Okay, wenn ich das jetzt mal positiv deute, geht es offenbar um Akzeptanz. Das ist für die westliche Psychotherapie eine neue Erfindung, obwohl sie in der östlichen Tradition schon so alt ist, dass kaum noch jemand weiß, wo sie ursprünglich herkommt. Akzeptanz widerspricht zunächst einmal unserem westlichen Macher-Denken. Wenn etwas nicht funktioniert, wollen wir etwas tun. Unangenehme Gefühle wollen wir loswerden, und zwar so schnell wie möglich. Wenn es nicht alleine geht, soll ein Therapeut das hinkriegen. Paradoxerweise werden aber manche Probleme auf diese Weise nur schlimmer. Denken Sie zum Beispiel an jemanden, bei dem gerade die Mutter gestorben ist, und er trauert und leidet und will das wegkriegen. Keine Chance.
Ich versuche also, während ich langsam, Schritt für Schritt, wieder in Richtung Heimat gehe, mich innerlich in einen Zustand der Achtsamkeit zu versetzen und die Bedrücktheit, unter der ich gerade leide, akzeptierend anzunehmen. Wie schon oft staune ich, dass das seltsamerweise etwas grundsätzlich verändert. Plötzlich nimmt mich die Bedrücktheit nicht mehr ganz und gar gefangen, sondern sie wird zu einem begrenzten Aspekt meines Gewahrseins unter vielen anderen Aspekten. Da ist außerdem noch eine wundervolle Frühherbst-Sonne, die durch die Blätter scheint. Da ist ein saftiges Grün an den Bäumen und auf den Wiesen. Eine zum Joggen optimale Temperatur von vielleicht 18 Grad. Die Sonne scheint. Ich lebe. Ich bin da. Ist ja auch nicht selbstverständlich.
Der Ansatz gefällt mir. Nehme mir vor, gleich zuhause in meinem Bücherregal diesem Riesenschinken über Achtsamkeit und Akzeptanz in der Psychotherapie herauszuholen, den ich letztes Jahr nur angefangen habe zu lesen.
Kurz bevor ich – jetzt wieder joggend – am Parkplatz ankomme, sehe ich auf dem Waldweg einen morschen, vermoderten Baumstamm, und auf ihm eine hellgelb leuchtende Blüte. Ist das ein Pilz? Kann ich mir nicht vorstellen, so leuchtend gelbe Pilze kenne ich nicht. Ist auch egal. Wenn ich zulasse, dass die Natur zu mir spricht, kann ich das als Botschaft verstehen, dass etwas Altes manchmal ganz schön viel Zeit braucht, um zu vermodern und zu Humus zu werden, auf dem dann super schöne neue Blumen wachsen können.
Klar, das waren alles nur kurze Versuche während des Joggens im Wald. Haben fast alle ein bisschen geholfen. Das bestätigt wieder einmal, dass praktisch alle Methoden der Psychotherapie irgendwie wirken. Aber welche Richtung will ich verfolgen, um nachhaltig eine Veränderung zu bewirken?
Momentan gefällt mir die Idee am besten, meinen momentanen Zustand in Achtsamkeit anzunehmen, ihn als einen vorübergehenden Teil meines Lebens zu betrachten, mich nicht dagegen zu wehren, mich auch dem Leiden daran nicht zu verschließen, mich dabei so gut es geht zu entspannen um weitere Eskalationen zu vermeiden und darauf zu vertrauen, dass mein psychosomatisches System im Laufe der nächsten Tage das Thema verarbeitet. Gleichzeitig auf der ganz realen Ebene sachlich bleiben und nach konstruktiven Lösungen suchen.
Klinge wie mein eigener Therapeut.
Zwei Wochen später. Ein Treffen hat stattgefunden, in der das Thema auf den Tisch kam. Das war gut und auch notwendig. Ich habe mich darauf intensiv vorbereitet und mir genau überlegt, was ich sage und wie. Habe benannt, was meiner Meinung nach schiefläuft, was mich persönlich gekränkt hat und was ich konkret vorschlage. Habe mich sehr bemüht, sachlich zu bleiben, nicht in den Gegenangriff zu gehen, sondern konstruktive Vorschläge zu machen. Das war gut. Ich erhielt Unterstützung von mehreren anderen anwesenden Kollegen, die aber auch behutsam mit meinem Konflikt-Gegenüber umgingen. Das war auch wichtig.
Um also Kränkungen zu verarbeiten, ist offenbar eine ganze Menge innerer Arbeit erforderlich, um die Kränkung zu verdauen und nicht „wild“ zu reagieren, weil das die Sache praktisch immer nur schlimmer macht. Aber das Thema muss auf den Tisch, es muss ausgesprochen und ausgetragen werden, und zwar auf eine faire Weise. Dafür ist intensive Vorbereitung und „innere Arbeit“ notwendig, damit man klar und respektvoll, direkt und fair formulieren kann, worum es einem geht.
Zuerst kommt die innere Verarbeitung, dann die Klärung mit dem Gegenüber, wenn möglich mit Unterstützung. Ist kein einfaches Rezept, das mit einem Fingerschnipsen alle Probleme löst, aber vielleicht ein realistischer Weg.
Werner Eberwein