Wie kann ein Psychotherapeut seine PatientInnen verstehen?

In vielen Formen von Psychotherapie geht es ganz zentral um Verstehen. Patienten kommen zur Therapie, weil etwas mit Ihnen los ist, das sie nicht verstehen. Sie fühlen sich ihren eigenen Gefühlen und Reaktionen ausgeliefert, ihrer Angst, ihrer Eingeengtheit, ihrer Niedergeschlagenheit, ihrem Schmerz. Sie verstehen nicht, was mit Ihnen los ist und finden keinen Ansatzpunkt, um ihrem Leid zu entkommen. Psychotherapie ist Verstehen und Veränderung, ja Veränderung durch Verstehen und durch Hilfe zum Selbstverstehen.

(Ich verwende in der Regel die männliche Form, wenn beide Geschlechter gemeint sind, weil die Formulierungen sonst grammatikalisch zu kompliziert werden.)

Psychotherapiepatienten leiden unter inneren Konflikten, Mangelzuständen und leidvollen Identifizierungen. Diese können nicht nachhaltig durch noch so raffinierte Techniken einfach wie von Zauberhand beseitigt werden, bevor Patient und Therapeut gemeinsam verstanden haben, worum es eigentlich geht. Psychotherapiepatienten wollen verstehen, was mit Ihnen los ist, und wie sie ein zufriedenes, glückliches Leben führen können. Sie fühlen sich hilflos, es fehlt ihnen Kraft, Überzeugung und Vitalität, sie sind begrenzt durch Vorstellungen von sich selbst, die mit ihren Bedürfnissen nicht übereinstimmen.

Das wohl häufigste Thema in Psychotherapien sind zwischenmenschliche Konflikte der Patienten mit ihren Partnern, Eltern, Kindern, Freunden, Kollegen oder Vorgesetzten. Manche Aspekte dieser Konflikte sind objektiv und können psychotherapeutisch nicht beeinflusst werden:

  • Eine Auseinandersetzung um mehr Lohn in einem Betrieb ist Angelegenheit der Gewerkschaft, nicht des Psychotherapeuten.
  • Wenn ein Patient von einem gewaltbereiten Nachbarn belästigt oder verletzt wird, ist das eine Angelegenheit für Polizei und Gerichte, nicht für Psychotherapie.

Bei alltäglichen zwischenmenschlichen Konflikten, die häufig in Psychotherapien zum Thema werden, geht es jedoch ganz zentral um Verstehen und Verstandenwerdenwollen:

  • Eine Patientin versteht beim besten Willen nicht, warum ihr Mann abends lieber Fußball schaut, als mit ihr etwas Schönes zu unternehmen.
  • Ein Vater versteht seine pubertierende Tochter nicht, die mit Drogen experimentiert und sich absolut nichts mehr sagen lässt.
  • Eine Tochter versteht ihre Mutter nicht, die ihr endlose Vorwürfe macht, wenn sie sie nicht täglich mindestens einmal anruft.

Natürlich sind solche Konflikte durch einfaches Verstehen noch nicht gelöst. Mehr noch: Eine „Krankenschwestern-förmige“ Art des Verstehens, bei der eine Person eine andere, die ihr Leid zufügt, quasi durch mitfühlendes „Verstehen“ beschützt und dadurch zulässt, dass ihr weiter Leid zugefügt wird, ist nicht hilfreich und schadet letztlich beiden.

Dennoch ist das Verstehen des Anderen in seiner Andersheit, auch und gerade im Konflikt, die Voraussetzung für eine jede konstruktive Bewältigung des Konflikts. In der Regel fühlen sich ja beide Konfliktparteien gleichermaßen gekränkt, verletzt, missverstanden, frustriert, hilflos und verärgert. Jeder von beiden glaubt, sich nur durch Wut und Dichtmachen verteidigen oder behaupten zu können. Auseinandersetzungen dieser Art können den Charakter überaus destruktiver Machtkämpfe annehmen, die mitunter mit großer verbaler und sogar körperlicher Brutalität ausgetragen werden.

Häufig geht es dabei gar nicht primär um faktische Veränderungen, die man erreichen will. Die Anlässe der Streitereien sind oft so banal, dass sie von Außenstehenden in der Massivität ihrer Auswirkungen kaum nachvollzogen werden können. Häufig handelt es sich um Symbolgefechte, also um Auseinandersetzungen um Bedeutungen:

  • Es geht nicht um die im Flur liegengebliebenen Strümpfe, sondern dass sie zu bedeuten scheinen, dass der Mann das Ordnungsbedürfnis seiner Frau nicht respektiert.
  • Es geht nicht um ein Wort oder einen Satz, sondern um eine Tonlage, die für den Mann bedeutet, dass seine Frau sich von ihm distanziert.

Die Auseinandersetzungen werden umso schmerzhafter, je näher sich die Streithähne stehen, umso wichtiger sie einander sind und umso mehr sie für einander empfinden.

Wie oft haben sich streitende Paare wohl schon Sätze um die Ohren geknallt wie: „Du verstehst mich einfach nicht“ oder „Lass mich ausreden, du hörst nicht zu“. Dieser Art von Auseinandersetzungen, und das sind im privaten Bereich bei weitem die häufigsten, sind Kämpfe um Verstandenwerden. Beide Streitende fühlen sich in ihren Gefühlen nicht gesehen, in ihrem Wesen nicht angenommen, als Mensch nicht respektiert. Selbst die brutalsten solcher Auseinandersetzungen hören mitunter augenblicklich auf, wenn es einem der beiden Streithähne gelingt, seine eigene Betroffenheit und seine Kampf- und Rückzugsreflexe zur Seite zu stellen, sich in die andere Person einzufühlen und sie zu verstehen, also mitfühlend nachzuempfinden, wie es der anderen Person geht, worunter sie leidet und was sie braucht.

Das bedeutet überhaupt nicht, der anderen Person „Recht zu geben“ – das wird oft verwechselt. Es geht nicht darum, die Perspektive des anderen als die eigene zu übernehmen, seine Ansichten zu teilen oder seine Sichtweise als „eigentliche Wirklichkeit“ zu betrachten und über das eigene Erleben zu stellen. Es geht gar nicht darum, wer „Recht hat“: Beide haben recht, und keiner hat Recht. Beide wollen als Mensch respektiert und als Person anerkannt, in ihrem Leid und besonders in der Insel Intensität ihres Leidens gesehen und in ihrer Bedürftigkeit respektiert werden. Wenn das gelingt, ist der Streit zu Ende. Aber das ist oft alles andere als leicht.

In der Humanistischen Psychotherapie wurde ein aus der Existenzphilosophie stammender Ansatz entwickelt, der die Möglichkeiten und Schwierigkeiten des Verstehens eines anderen in seiner unhintergehbaren Andersheit beschreibt. Dieser Ansatz wird als „phänomenologische Hermeneutik“ bezeichnet.

Unter Hermeneutik versteht man eine Theorie des Verstehens, Interpretierens oder Auslegens. Im Rahmen der Psychotherapie ist damit die Frage angesprochen wie und inwieweit der Psychotherapeut das Erleben und Handeln des Patienten zu therapeutischen Zwecken verstehen kann, welche Schwierigkeiten dabei auftreten können und wie damit umgegangen werden kann. Gegenstand der psychotherapeutischen Hermeneutik ist die Kommunikation zwischen Patient und Therapeut, sowohl durch Sprache als auch durch nonverbale Mitteilungen (Körperhaltungen, Ausdrucksgesten, Stimmlagen usw.). Das Ziel der psychotherapeutischen Hermeneutik ist es, auf kommunikativen Wege den Sinn der Äußerungen des Patienten zu erfassen bzw. gemeinsam mit ihm zu entschlüsseln, worum es ihm und bei ihm geht.

Die Phänomenologie ist eine philosophische Richtung, die versucht, Erkenntnisse zu gewinnen, indem sie nahe bei den unmittelbar gegebenen Erscheinungen (den „Phänomenen“) bleibt. Vorannahmen (also Theorien, Konzepte, Vorwissen, Eigenerfahrungen usw.) werden so weit wie möglich beiseitegelassen oder zumindest auf reflektierende Weise kontrolliert. In der Psychotherapie bedeutet ein phänomenologischer Ansatz, sich so weit wie möglich an dem unmittelbaren Erleben (den Gefühlen, Wünschen und Bedürfnissen usw.) des Patienten zu orientieren und ihm nicht eigenen Ideen oder Konzepte, Projektionen oder Übertragungen überzustülpen.

Meiner Meinung nach hat der phänomenologische Ansatz seinen Wert vor allem als Abgrenzung gegen autoritäre psychotherapeutische Ansätze, die vorgeben, der Therapeut wisse aufgrund seiner Fachkompetenz besser, was der Patient meint, oder was gut und heilsam für ihn ist, als der Patient selbst.

In einem radikalen Sinn würde ein phänomenologischer Ansatz bedeuten, strikt bei dem zu bleiben, was Patient und Therapeut unmittelbar erleben und was sie dazu verbal und nonverbal äußern, also ausschließlich auf der Ebene der Erscheinungen, der Phänomene zu bleiben. Dies ist meiner Meinung nach weder möglich noch wünschenswert. Patient und Therapeut haben unweigerlich Hintergrunderfahrungen und Hintergrundwissen, das sie unmöglich ignorieren, und wovon sie sich unmöglich distanzieren können.

Wenn ein Patient beispielsweise berichtet, er sei erst kürzlich unter dramatischen Umständen vor chaotischen Kriegswirren aus einem arabischen Land geflüchtet, dann verbinden sich im Patienten mit dieser Aussage eine Fülle traumatischer Ereignisse, deren Geschichte, Bedeutungen und Auswirkungen. Auch der Therapeut kann unmöglich vermeiden, dass er beispielsweise an Kriegserzählungen seiner Eltern, an Bilder von im Mittelmeer ertrunkenen Flüchtlingen, an Brandanschläge auf Flüchtlingsheime, Nachrichten über Bombardierungen, islamistischen Terror usw. erinnert wird.

Patient und Therapeut kommunizieren miteinander auf sprachliche Weise, können also nicht anders als Begriffe zu benutzen. Begriffe aber sind nicht einfach Worte, die bloße Erscheinungen bezeichnen, sondern abstrakte Konzepte, die letztlich Ausdruck eines spezifischen Weltverhältnisses, einer Weltanschauung sind.

Der Begriff „Terror“ beispielsweise impliziert unweigerlich eine große Menge an Vorannahmen, die sich darauf beziehen, was unter dem Wort verstanden wird, welche Assoziationen und welche Gefühle damit verbunden sind, welcher politische Komplex jeweils welchen anderen als „Terroristen“ bezeichnet, wie man Terror bewertet, ob man eigene Erfahrungen damit gemacht hat, ob man Angst davor hat usw. Ebenso verhält es sich mit jedem anderen Begriff, ja letztlich mit jedem Wort und jeder nonverbalen Äußerung.

Selbst wenn der Patient gar nichts sagt, sondern ihm nur eine Träne über die Wangen läuft, wenn er erbleicht oder errötet, seine Haltung erstarrt oder seine Stimme zittert, verbindet sich damit im Patienten ein komplexes Netz aus Assoziationen und Bedeutungen, und ebenso im Therapeuten.

Dennoch würde es natürlich einer psychotherapeutisch hilfreichen Haltung widersprechen, wenn der Therapeut davon ausginge, dass er ohne weiteres wisse, was Begriffe wie „Bombardierung“ oder „Terror“ für einen Flüchtling aus einem Kriegsgebiet bedeuten, oder wenn er gar davon ausginge, dass sie für den Patienten dasselbe bedeuten wie für ihn als Therapeuten.

Phänomenologie bedeutet hier, dass der Therapeut versucht, seine eigenen Vorannahmen, Konzepte und Assoziationen soweit wie möglich außen vor zu lassen, bzw. reflektierend beiseite zu stellen, um überhaupt in die Lage zu kommen, den Patienten als „Anderen“ zu verstehen, der teilweise komplett andere Lebenserfahrungen, Weltanschauungen, Begriffsgebäude, Beziehungsstrukturen, Überzeugungen, Wertvorstellungen usw. hat als der Therapeut.

In der phänomenologischen Hermeneutik geht man davon aus, dass der Mensch in seinem Erleben nur von einem anderen Menschen im unmittelbaren Dialog allmählich mehr und mehr verstanden werden kann. Einen anderen Menschen verstehen kann nur eine Person, die mit ihm kommuniziert. Erst im Prozess der Kommunikation über das Erleben eines Menschen kann sich Verstehen herstellen. Dies geschieht durch ein Zunächst-nicht-Verstehen, Noch-nicht-Verstehen, Falsch-Verstehen oder Miss-Verstehen hindurch über ein Allmählich-besser-Verstehen und Sich-selbst-besser-Verstehen (im positiven Fall) hin zu erfüllenden und verbindenden Momenten des tiefen Verstehens und Sich-verstanden-Fühles, in denen beide sich nahe kommen und sich „erkennen“ in der Wirklichkeit ihres Erlebens.

Einen Menschen ohne unmittelbaren Kontakt zu verstehen etwa beispielsweise einen schon verstorbenen Literaten durch seine schriftlichen Äußerungen ist nur begrenzt möglich und bleibt immer mit Fragezeichen behaftet. Ohne Dialog, ohne wechselseitige Kommunikation bleibt das gemeinsame Evidenzerleben des verbindenden „Jetzt hast du mich verstanden“ und „Ich-spüre, dass ich gerade etwas von dir verstehe“ aus.

Die Pointe der phänomenologischen Hermeneutik ist, dass ein Mensch nicht auf objektive Weise verstanden werden kann. Durch ein psychologisches Testergebnis fühlt man sich mehr oder weniger zutreffend einsortiert, aber nicht als Mensch verstanden, angekommen, angenommen, im Erleben eines anderen emotional gespiegelt und von diesem als besonderes, individuelles Menschenwesen gesehen.

Ein psychologischer Test ordnet das Erleben eines Menschen auf mechanisch-mathematische Weise bestimmten psychologischen Kategorien zu. Durch Etiketten wie „Intelligenzquotient 112“ oder „Depressivität 4,3 von 10“ kann sich ein Mensch zwar in seinem Erleben in gewissem Umfang abgebildet sehen, aber es handelt sich dabei um eine entfremdete Form des Erfassen der Person, nicht um ein personales Verstehen im existenziellen Sinn.

Ebenso ist psychologische Empirie in Form von Studien blind gegenüber der Subjektivität des individuellen Menschen. Wenn beispielsweise eine Patientin mit Ängsten, in der Öffentlichkeit zu sprechen (psychodiagnostische Kategorie: „Soziale Phobie“) Teil einer psychologischen Studie wird, in der etwa Zusammenhänge zwischen ihrem Selbstbild und der Intensität ihrer Angst erfasst werden, so erscheint diese Patientin im Rahmen der Studie nicht als Person, als individueller Mensch, sondern als Teil einer Gruppe, letztlich als eine Reihe von Zahlenwerten, die in kompliziert berechnete Mittelwerte eingehen. In den Ergebnissen der Studie ist ihr Erleben als Person und sie als individuelles Subjekt verschwunden.

Psychologische Empirie ist blind für Individualität und Subjektivität. Sie kann das, was einen Menschen innerlich bewegt, wie es ihn bewegt und warum es ihn bewegt, also die ihm ganz eigene Bedeutung seines Erlebens nicht erfassen. Zugespitzt ausgedrückt könnte man sagen, psychologische Empirie geht an dem, was sie zu erfassen vorgibt, grundsätzlich vorbei: der „Psyche“, das heißt dem Erleben und Handeln der Person als Subjekt.

Die Basis einer existenzphilosophischen Betrachtung des Menschen ist die Idee, dass der Mensch jederzeit die Möglichkeit hat, ja gar nicht darum herumkommt, unter den vorgefundenen Bedingungen seines Lebens durch fortgesetzte freie Wahl seine eigene Existenz aus einer Vielfalt von Möglichkeiten zu gestalten und damit seine Existenzbedingungen mitzugestalten. Auch wenn der Mensch durch soziale Bedingungen, biologische Triebe, biografische Erfahrungen und Konditionierungen beeinflusst ist, bleibt ihm ein Spielraum der Wahlfreiheit, den ihm niemand nehmen kann, und aus dem er sich nicht herauswinden kann.

Selbst Patienten mit schweren oder schwersten Traumatisierungen kommen nicht umhin, sich auf die eine oder andere Weise zu ihrem Schicksal zu verhalten. Sie können sich z.B. resignativ in ihr Schicksal ergeben und sich lebenslang als beschädigte, hilflose Opfer definieren oder sich psychotherapeutische Hilfe suchen. Sie können Medikamente einnehmen oder sich in eine Klinik einweisen lassen. Unter sozialen Verhältnissen, in denen Psychotherapie und Medizin nicht zur Verfügung stehen, können Sie Unterstützung suchen bei nahestehenden Menschen, Freunden, in ihrer Familie, bei Geistlichen, Heilern oder bei Menschen, die Ähnliches erleben oder erlebt haben. Sie können gegen das an ihnen begangene Unrecht kämpfen oder resignativ (und wahrscheinlich erfolglos) versuchen, es zu vergessen. Sie können ihre Erfahrungen öffentlich machen, im Internet oder in einem vertraulichen Gespräch mit einer nahestehenden Person. Wenn selbst das nicht möglich ist, können Sie Ihre Erfahrungen aufschreiben, malen oder mit Gegenständen symbolisch darstellen. Sie können in einer Religion Zuflucht suchen, meditieren, oder weitermachen, als sei nichts geschehen.

Wie auch immer sie mit dem Erlebten umgehen, sie kommen nicht darum herum, immer wieder eine Wahl zu treffen. Je nach dem, was sie wählen, wird ihr Leben anders verlaufen. Jede Wahl, ja sogar ein passiv bleibendes Nicht-Wählen hat unweigerlich Folgen für ihr Leben und das der Menschen, die ihnen nahestehen. Für diesen weiteren Verlauf und seine Folgen als Ergebnis ihrer Wahl, wie sie mit ihrem Schicksal umgehen, sind sie selbst verantwortlich.

Existenzphilosophischen gesehen ist der Mensch, auch wenn er unter vielerlei äußeren und inneren Bedingungen lebt, dennoch in jedem Moment ein wahlfreies Subjekt. Natürlich kann er nicht beliebig alles und jedes entscheiden (z.B. dass Frieden in der Welt herrscht, dass er im Lotto gewinnt oder dass ausgefallene Haare wieder anwachsen), aber im Rahmen seiner individuellen Möglichkeiten hat er stets eine Wahlfreiheit. Niemand kann einen Menschen beispielsweise daran hindern, sich mit seinem Leid, seinem Schmerz, seiner Trauer oder seiner Angst gemeinsam mit helfenden Anderen auseinanderzusetzen, und niemand kann ihn dazu zwingen.

Als Folge der unhintergehbaren Wahlfreiheit des Menschen kann er grundsätzlich nicht angemessen in psychologische Kategorien gefasst, also nicht objektivisch definiert, festgestellt, diagnostiziert, etikettiert, gewusst, gekannt oder begriffen werden, weil er immer auch ganz anders sein oder werden kann, als er eben noch war:

  • In einem Moment kann ein bisher treusorgender Familienvater ein krimineller Straftäter werden.
  • Ein jahrzehntelang schwer Drogenabhängiger kann in eine Entzugsklinik gehen.
  • Ein Mensch mit sozialen Ängsten kann sich entscheiden, selbst bleich und mit zitternder Stimme eine Rede in der Öffentlichkeit zu halten, wenn es ihm wichtig ist, dass gehört wird, was er zu sagen hat.

Darüber hinaus ist der Mensch so wie er ist immer in bestimmten sozialen Kontexten. Eine gute Freundin von mir wirkt in professionellen Zusammenhängen stets kontrolliert, zurückhaltend, leicht angespannt und sehr abgegrenzt, während sie auf Partys mit Freunden überschäumend sprudelt und plappert und gerne über die Stränge schlägt. Ein Mensch kann sich in einer schwierigen, unabgestimmten Partnerschaft entgrenzt oder zwanghaft verhalten, während er in der nächsten Partnerschaft eine relativ harmonische Beziehung lebt.

Der Mensch als Subjekt ist kein „So-bist-du“. Der Mensch kann nicht wie ein Objekt, wie ein Stuhl oder ein Haus festgestellt, berechnet, gewusst, begriffen oder erkannt werden, denn dann erstarrt die Person zu einem Gegenstand. Sie wird verdinglicht und damit als Mensch in ihrer Wahlfreiheit und Individualität gerade nicht gesehen. Der Mensch als Subjekt „ist“ nicht so oder so, er ist kein festgelegtes, bleibendes Ding, vielmehr „setzt“, also bestimmt er in fortgesetzter, lebenslanger Wahl immer wieder, wie er ist, und wer er sein will.

Wenn man dagegen davon ausgeht, dass der subjektiv erlebende und wahlfrei handelnde Mensch ein definierbares und objektiv erfassbares Etwas sei, dann sprechen die Philosophen von einer „Ontologisierung“ (von altgr. on = seiend). Damit ist eine Position gemeint, die in der Untersuchung der Seele vorgibt am Ende einer Suche angekommen zu sein im Sinne eines „So-bist-du“ und eine objektive Wahrheit über diese Person zu besitzen. Vom Standpunkt der Existenzphilosophie aus gesehen ist das unmöglich. Der Mensch kann physikalisch, anatomisch, physiologisch, statistisch usw. auf objektive Weise erfasst werden, aber nicht in seinem subjektiven Erleben (aus der Ersten-Person-Perspektive) und in der Wahlfreiheit seines Handelns.

Was ein Mensch fühlt und was sein existenzielles Erleben für ihn bedeutet, kann nur in einem fortgesetzen Dialog aus Empathie und Introspektion erkundet werden und setzt eine Haltung der Offenheit auch für vollständig Unerwartetes, sowie wohlwollendes Interesses auf Basis eines grundlegenden Nichtwissens voraus. Ein Humanistischer Psychotherapeut fokussiert sich auf das, was der Patient und der Therapeut in diesem Moment erleben, wie beide erleben, was zwischen ihnen geschieht, und was das für beide bedeutet.

Gegenstand des therapeutischen Dialoges sind immer die aktuellen Themen, Fragen und Probleme des Patienten. Diese erscheinen dem Patienten und dem Therapeuten unweigerlich in unterschiedlichen Perspektiven auf Basis ihrer unterschiedlichen Betroffenheit, ihres individuellen Erfahrungshintergrundes, ihrer verschiedenen Konzepte und Begriffsgebäude. In einer konstruktiv verlaufenden humanistisch ausgerichteten Psychotherapie entwickelt sich aus diesen beiden Perspektiven ein kreativer, dialektischer Dialog, eine Auseinandersetzung um die Bewältigung der Schwierigkeiten des Patienten.

Dieser Dialog verbleibt nicht auf der Ebene des „Hier-und-Jetzt“, sondern er bezieht die Zeitlichkeit der Existenz, also die biografische Vergangenheit und die Zukunftsentwürfe des Patienten mit ein. Der therapeutische Dialog beschränkt sich auch nicht auf das, was dem Patienten und dem Therapeuten unmittelbar und offensichtlich bewusst ist. Vielmehr werden auch Erfahrungen und Erlebnisweisen am Rande des Gewahrseins (beispielsweise vage Ahnungen, ganzheitliche Körperempfindungen, Bewegungsimpulse, noch unklare Intuitionen, Fantasien oder Träume) einbezogen. Die Grundidee dabei ist, dass es Ebenen des Psychischen gibt, die dem Bewusstsein nicht, noch nicht, nicht immer oder nicht vollständig zur Verfügung stehen, die das aktuelle Erleben, Handeln und Leiden des Patienten aber wirksam beeinflussen.

Im Unterschied zu z.B. psychoanalytischen Konzeptionen des Unbewussten geht man in der Humanistischen Psychotherapie nicht von einer bereits im Vorfeld feststehenden bzw. akzeptierten Theorie über allgemein menschliche Anteile und Dynamiken des Unbewussten aus, sondern bemüht sich um eine Haltung größtmöglicher Offenheit gegenüber Zusammenhängen und Bedeutungen, die sich im therapeutischen Dialog erst allmählich aus vagen Ahnungen und zunächst nur vermuteten Zusammenhängen ergeben.

Der Psychotherapeut weiß also nicht besser als der Patient, was beispielsweise ein Traum bedeutet. Er weiß es auch nicht vor dem Patienten, vielmehr können (stets als komplex betrachtete) Ebenen von Traumbedeutungen allmählich entschlüsselt werden, indem ihre Zusammenhänge mit aktuellen und biografischen emotionalen Beziehungsdynamiken des Patienten erspürt werden.

In der Humanistischen Psychotherapie ist die klassische Idee eines „mehr wissenden“ Therapeuten, der in der Lage wäre, den Patienten zu belehren, anzuleiten oder zu führen, ersetzt durch das Modell einer dialektischen, dialogischen Auseinandersetzung in einem gemeinsamen, kooperativen Such-, Orientierung- und Bewältigungsprozess.

Deutungen des Erlebens der Patienten vor dem Hintergrund von bereits vorher als richtig akzeptierter Theorien verfehlen ebenso wie naturwissenschaftlich-objektivierende Diagnostik den Menschen in seiner Einzigartigkeit und Unverwechselbarkeit. Wenn ein Patient aufgrund von formalen Prozeduren (z.B. Tests) aufgrund von vorgeblichem theoretisch-methodischen Expertenwissen in die Kategorien kausal-deterministische Gesetzmäßigkeiten einsortiert wird, fühlt er sich etikettiert, einsortiert und verwaltet, also verdinglicht, aber nicht als Person gesehen und verstanden.

Ein Mensch kann nur in seiner Eingebundenheit in sein soziales Umfeld, in kulturelle Bedeutungssysteme, biografische und existenzielle Dynamiken angemessen verstanden werden. Solange die Facetten, Ebenen und Aspekte seiner Existenz aber lediglich wie eine Matrix aus Textbausteinen zusammengesetzt erscheinen, ist der Mensch in seiner Ganzheitlichkeit und Einheitlichkeit noch nicht erfasst.

Ich als Person bestehe ja nicht aus 1.) meiner frühen Kindheit, 2.) meiner Berufsausbildung, 3.) meiner Weltanschauung, 4.) meinen Zukunftswünschen usw. Ich erlebe mich nicht als Ansammlung oder Summe dieser Teile, sondern als ein einziger, der all diese Anteile in jedem Moment seines Daseins in sich integriert. Das Verstehen der Person zielt auf die Person des Anderen als ganz eigenes, besonderes Subjekt, als Ganzheit. Eine solche Art des Verstehens ist ein dynamischer Prozess, der immer wieder auch scheitert und auch gelingt, und der nie an ein letztes Ende ankommen kann.

Als Psychotherapeut kann ich den Patienten als Person in ihrer Ganzheit mit mir und mich mit ihm nur verstehen, indem ich mich selbst als Person in den Grenzen der psychotherapeutischen Profession auf ihn einlasse und mit ihm in fortgesetzter tiefer werdende geistige, emotionale und psychovegetative Interaktion trete, also mit ihm „schwinge“ und mich (mal harmonisch, mal kontrapunktisch) mit ihm einschwinge. Dadurch erfahre ich zugleich mich selbst immer tiefer als mich mit ihm und das ganz eigene des Anderen als Person.

Aus der therapeutischen Auseinandersetzung, aus der Reibung unterschiedlicher Perspektiven und der Interaktion verschiedener Weisen des Berührtseins heraus entsteht der psychotherapeutische Heilungsprozess als Bewältigung von Altem und Hervorbringung von Neuem, Kreativen und stets Unvorhersagbaren. Humanistische Psychotherapie ist ein prozessorientierter Ansatz, der nicht zu Beginn geplant und dann in Befolgung einer Leitlinie oder eines Handbuchkonzeptes bloß abgearbeitet werden kann.

Ein solcher Prozess erfordert vom Patienten und vom Therapeuten den Mut, sich auf suchende, tastende Weise mehr und mehr auf sich selbst mit dem Anderen einzulassen und die Bereitschaft, Irritation durch den Anderen, Unsicherheit, Nichtverstehen und zeitweise Orientierungslosigkeit zuzulassen und zu ertragen sowie die Bereitschaft, sich tief innerlich berühren, auch infragestellen, bewegen und verändern zu lassen. Dieser Prozess erfordert Geduld, die Bereitschaft, sich Zeit zu nehmen, dem Prozess Zeit zu geben, die Bereitschaft, bei Verunsicherndem, potentiell Überwältigendem, manchmal Beängstigendem zu verweilen und – besonders beim Therapeuten – ein großes Maß an Demut und eine Bereitschaft, den Habitus des Wissens und der Kontrolle sowie Fantasien narzisstischer Überlegenheit immer wieder zu überwinden.

Werner Eberwein