Wie geht das Erschließen unbewusster Motivationen?
Patienten kommen zur Psychotherapie, weil sie merken, dass sie unter bestimmten Anteilen ihrer Gefühlswelt, ihrer Beziehungen, ihrer Gedanken, ihres Verhaltens oder ihrer körperlichen Regulationsprozesse leiden. Sie leiden unter Gefühlen, die sie nicht loswerden, unter Verhaltensweisen oder Beziehungsverwicklungen, denen sie sich nicht entziehen können, oder unter Körperreaktionen, denen sie sich ausgeliefert fühlen.
Wodurch diese leidvollen Prozesse ausgelöst werden, wozu sie dienen, was sie bedeuten und wie sie überwunden werden können, ist dem Patienten nicht bewusst. In der humanistischen Psychotherapie arbeiten wir daran, durch differenzierte Wahrnehmung auf der phänomenologischen Ebene hindurch auch Motivationen zu erschließen, die jenseits der bewussten Wahrnehmung und der willentlichen Kontrolle liegen.
Unbewusste Dynamiken treten in sich wiederholenden Mustern des Erlebens und Verhaltens in Erscheinung, die der Patient nicht bemerkt, die ihm irrelevant erscheinen, oder für die er keine Erklärung hat. Es kann sich dabei um umfassende Muster handeln, die das ganze Beziehungsleben des Patienten bestimmen, aber auch um nur situativ wahrnehmbare Spuren von Erlebens- oder Verhaltensmustern, die auf das Wirken unbewusster Dynamiken hinweisen:
Beispiel 1: Ein Patient legt großen Wert darauf, dass die Therapiesitzungen exakt pünktlich beginnen und beendet werden. Er stört sich daran, dass einige Broschüren im Wartezimmer unordentlich herumliegen und einige Bilder an den Wänden nicht exakt waagerecht ausgerichtet sind. Große Teile seiner Freizeit verbringt er damit, seine Wohnung penibel sauber zu halten. Seine Gedanken verlaufen schienenartig in immer wieder denselben Bahnen, die kaum verändert werden können.
Beispiel 2: In einer Sitzung fällt dem Therapeuten auf, dass eine Patientin, während sie mit ihm spricht, ihn über längere Zeit hinweg mit einem starren Blick fixiert. Er fragt sich, ob es sich dabei um eine Dominanzgeste oder um einen Ausdruck ängstlicher Gebanntheit handelt, oder um beides zugleich.
Das sinnliche Gewahrsein des Therapeuten und dann auch des Patienten richtet sich auf solche Muster, die in ihren Erscheinungsformen phänomenal erfassbar sind (also direkt wahrgenommen werden können). Die reflektierende Empathie des Therapeuten und die Selbstempathie des Patienten richtet sich auf die Motivationen, die das Muster aufrechterhalten:
- Was mag den ersten Patienten dazu zu bringen, praktisch sein gesamtes Leben einem solch strengen Reglement zu unterwerfen?
- Was mag die zweite Patientin dem Therapeuten gegenüber gerade empfinden, das sie dazu bringt, ihn auf diese Weise anzustarren?
Diese Fragen bringt der Therapeut (je nach Patient, Beziehung und Situation entweder behutsam und taktvoll oder direkt und konfrontativ) in den therapeutischen Dialog ein. Sie dienen als Anregungen an den Patienten, sich mit den aufrechterhaltenden Motivationen hinter seinen Mustern auseinanderzusetzen.
Es handelt sich dabei nicht um Fragen nach empirischen oder formalen Wahrheiten im naturwissenschaftlichen oder logischen Sinn, sondern um Anregungen zum vertieften Selbstverstehen und zur kritischen Auseinandersetzung mit sich selbst. Antworten darauf können nicht bewiesen oder widerlegt werden, sie können noch nicht einmal stringent verbal formuliert werden. Antworten auf Fragen nach unbewussten Motivationen können nur durch einen fortschreitenden Prozess des Sich-selbst-Verstehens und Verstanden-Werdens gefunden werden, im Laufe dessen sich die entsprechenden Muster der Selbstwahrnehmung und der Beziehungsgestaltung bereits wieder verändern. In dem Maße, wie unbewusste Muster verstanden werden, wandeln sie sich, denn wenn sie wirklich verstanden sind, sind sie ihrer zwingenden Kraft beraubt, und der Patient wird sich seiner Wahlfreiheit gewahr.
Das Verstehen in der humanistischen Psychotherapie ist also nicht auf das unmittelbar phänomenal Gegebene und im Hier und Jetzt unmittelbar Wahrnehmbare begrenzt. Es bezieht auch biografisch Vergangenes (in der Erinnerung oder im aktivierten Wiedererleben) mit ein, in die Zukunft gerichtete Lebensperspektiven, als zwingend oder begrenzen empfundene Muster sowie die unbewussten Motivationen hinter diesen Mustern.
Werner Eberwein