Welche Rolle spielt Dialektik in der Psychotherapie?
Dialektik spielt in der Psychotherapie eine wichtige Rolle, besonders in bestimmten therapeutischen Ansätzen. Sie hilft, innere Widersprüche zu erkennen und zu integrieren, anstatt sie zu bekämpfen oder zu vermeiden.
Grundidee der Dialektik
- Dialektik bedeutet: Zwei scheinbar widersprüchliche Dinge können gleichzeitig wahr sein.
- Ziel ist es, diese Gegensätze zu integrieren, z. B. Veränderung und Akzeptanz.
- In der Psychotherapie bedeutet das: Den gegenwärtigen Zustand annehmen und gleichzeitig an Veränderungen arbeiten.
Allgemein in der Psychotherapie
- Dialektisches Denken hilft, Ambivalenzen auszuhalten, z. B. in Beziehungen oder bei wichtigen Lebensentscheidungen.
- Fördert kognitive Flexibilität: weg vom starren Denken, hin zu „sowohl-als-auch“-Perspektiven.
- Unterstützt Selbstreflexion, z. B. beim inneren Dialog: „Ein Teil von mir will…, aber ein anderer Teil…“
Beispiele für dialektische Spannungsfelder
- Nähe vs. Autonomie in Beziehungen
- Kontrolle vs. Vertrauen im Leben
- Stabilität vs. Veränderung
- Sicherheit vs. Freiheit
Ein fiktives Beispiel einer Therapiesitzung, in der der Therapeut dialektisch arbeitet. Die Klientin heißt Anna, sie ist 35 Jahre alt und leidet unter emotionaler Instabilität und starkem inneren Selbsthass.
Anna:
Ich bin so wütend auf mich. Ich hab schon wieder einen Fehler gemacht bei der Arbeit. Ich werde das nie hinkriegen. Ich bin einfach nicht gut genug.
Therapeut (ruhig und empathisch):
Ein Teil von dir ist sehr enttäuscht und wütend auf sich selbst. Das ist nachvollziehbar. Und gleichzeitig bist du heute trotzdem hier – du gibst dich nicht auf.
Anna:
Aber es fühlt sich an, als würde ich immer wieder scheitern. Ich will mich verändern, aber ich bin so müde davon.
Therapeut:
Ich höre: Du willst dich verändern – und gleichzeitig bist du erschöpft vom ständigen Kämpfen. Beides ist wahr.
Was wäre, wenn wir heute versuchen, diesen Widerspruch einfach mal da sein zu lassen – ohne gleich eine Lösung finden zu müssen?
Anna (nachdenklich):
Das fühlt sich ungewohnt an… aber irgendwie auch erleichternd.
Therapeut:
Ja. In der Dialektik geht es genau darum: Nicht entweder-oder, sondern sowohl-als-auch.
Du darfst müde sein – und du darfst den Wunsch nach Veränderung behalten. Beide Seiten gehören zu dir.
Anna:
Dann ist es also okay, wenn ich gerade nicht stark bin?
Therapeut (lächelt leicht):
Nicht nur okay – es ist menschlich. Und vielleicht liegt gerade in diesem Akzeptieren der erste Schritt zur wirklichen Veränderung.
Kommentar:
Der Therapeut arbeitet hier dialektisch, indem er Gegensätze nicht auflöst, sondern anerkennt und integriert. Das führt zu innerer Entlastung, stärkt die Selbstakzeptanz und schafft Raum für echte Entwicklung.
Ein weiteres Beispiel, diesmal aus einer Paartherapie. Das Paar – Sarah (38) und Tom (40) – hat regelmäßig Streit. Sarah wünscht sich mehr Nähe, Tom zieht sich oft zurück.
Sarah (angespannt):
Ich habe das Gefühl, du bist nie wirklich da. Wenn ich reden will, gehst du raus oder setzt dich vor den Computer. Ich brauche dich – aber du blockst mich immer ab.
Tom (defensiv):
Weil du ständig etwas von mir willst! Ich fühle mich erdrückt. Ich brauche einfach manchmal Ruhe.
Therapeut (blickt beide an, ruhig):
Was ich höre, ist: Sarah sehnt sich nach Nähe und Verbindung. Und Tom sehnt sich nach Raum und Rückzug.
Beide Wünsche sind verständlich – auch wenn sie sich widersprechen.
Sarah:
Aber wie soll das gehen? Ich will ihn doch nur spüren!
Therapeut:
Und gleichzeitig ist es auch wahr, dass Tom sich schützen muss, wenn es ihm zu viel wird.
Vielleicht geht es nicht darum, wer „recht“ hat – sondern darum, wie ihr beide mit euren unterschiedlichen Bedürfnissen nebeneinander leben könnt.
Tom (nachdenklich):
Also… es ist nicht falsch, dass ich Abstand brauche?
Therapeut:
Nein – und es ist auch nicht falsch, dass Sarah Nähe sucht. Die Kunst liegt in der Verbindung von Gegensätzen.
Was wäre ein erster kleiner Schritt, bei dem Nähe entsteht, ohne dass du dich eingeengt fühlst?
Tom (zögernd):
Vielleicht… könnte ich eine feste halbe Stunde am Abend freihalten – nur für uns. Ohne Handy, ohne Computer.
Sarah (leise):
Das würde mir wirklich viel bedeuten…
Kommentar:
Der Therapeut bringt hier dialektische Perspektiven ein, um Schwarz-Weiß-Denken zu lockern. Nähe und Distanz erscheinen nicht mehr als unvereinbare Gegensätze, sondern als zwei Seiten einer Beziehung, die gemeinsam ausgehandelt werden können.
Ein bekanntes Beispiel ist die Dialektisch-Behaviorale Therapie (DBT), die speziell für Menschen mit Borderline-Störungen entwickelt wurde.
In der Dialektisch-Behavioralen Therapie (DBT)
- Entwickelt von Marsha Linehan.
- Typische Dialektik:
„Ich akzeptiere mich so wie ich bin – und ich arbeite daran, mich zu verändern.“ - Hilft besonders bei:
- Emotionale Instabilität
- Schwarz-Weiß-Denken
- Impulsivem Verhalten
Materialistisch-philosophische Dialektik (z. B. Marx, Engels):
Hier bedeutet Dialektik:
- Die Welt ist materiell – nicht Idee oder Geist zuerst, sondern Materie bestimmt das Bewusstsein.
- Widersprüche in der materiellen Welt treiben die Entwicklung voran – z. B. zwischen Arm und Reich, Arbeit und Kapital.
- Alles ist in Bewegung, Veränderung, Konflikt und Aufhebung.
Psychologisch verstanden:
Wenn man diese materialistische Dialektik psychologisch betrachtet, heißt das:
- Das menschliche Bewusstsein entsteht aus konkreten Lebensbedingungen (Arbeit, Gesellschaft, Körper, Alltag).
- Unsere Gedanken, Gefühle und Konflikte sind nicht „rein innerlich“, sondern in ein gesellschaftliches Umfeld eingebettet.
- Innere Widersprüche spiegeln oft äußere Spannungen wider:
Beispiel: Ein Mensch fühlt sich wertlos – weil er in einer Gesellschaft lebt, die ihn nur über Leistung definiert.
Verbindung – materialistisch-philosophisch & psychologisch-dialektisch:
Das menschliche Seelenleben ist kein isoliertes Inneres, sondern verwoben mit sozialen, körperlichen und wirtschaftlichen Bedingungen.
Die Dialektik hilft, zu erkennen:
- „Ich bin nicht einfach krank – ich bin auch Ausdruck meiner Welt.“
- Veränderung braucht also nicht nur Therapie, sondern auch Veränderung der Verhältnisse (z. B. mehr Solidarität, weniger Leistungsdruck, bessere Lebensbedingungen).
Werner Eberwein