Was versteht man unter Parentifizierung?
Parentifizierung ist ein psychologischer Begriff und beschreibt eine Rollenumkehr zwischen Eltern und Kindern: Das Kind übernimmt dauerhaft Aufgaben, Verantwortungen oder emotionale Funktionen, die eigentlich den Eltern zustehen. Es „funktioniert“ wie ein Elternteil – oft auf Kosten der eigenen kindlichen Bedürfnisse und Entwicklung.
Man unterscheidet zwei Hauptformen:
- Instrumentelle Parentifizierung
Das Kind übernimmt praktische Aufgaben wie Kochen, Putzen, Betreuung von Geschwistern oder sogar das Organisieren von Finanzen – oft, weil die Eltern überfordert oder abwesend sind. - Emotionale Parentifizierung
Hier wird das Kind zum emotionalen Stabilisator für die Eltern – es tröstet, vermittelt in Konflikten, hört zu oder übernimmt die Rolle eines Partners. Die emotionale Last ist meist besonders belastend.
Langfristig kann Parentifizierung zu Problemen führen, z. B. zu einem überhöhten Verantwortungsgefühl, Schwierigkeiten mit Nähe und Abgrenzung oder einem geringen Selbstwert. Manche Menschen merken erst im Erwachsenenalter, wie stark diese früh übernommene Rolle ihr Leben geprägt hat.
Emotionale Parentifizierung:
Stell dir ein zehnjähriges Mädchen namens Anna vor. Ihre Mutter ist oft traurig, fühlt sich überfordert und spricht mit Anna über ihre Sorgen, z. B.:
„Ich weiß nicht, wie ich das alles schaffen soll ohne deinen Vater. Du bist die Einzige, die mich versteht.“
Anna spürt: Wenn sie stark ist, sich kümmert, tröstet und ihre eigenen Sorgen zurückstellt, geht es der Mutter besser. Also hört sie zu, macht ihr Mut, verzichtet auf Spiel und Freunde – aus Liebe, aber auch, weil sie sich verantwortlich fühlt.
Mit der Zeit verlernt Anna, ihre eigenen Gefühle ernst zu nehmen. Als Erwachsene hat sie vielleicht Schwierigkeiten, für sich selbst zu sorgen oder Hilfe anzunehmen. Sie ist oft für andere da, aber innerlich erschöpft.
Das ist keine bewusste Ausbeutung durch die Mutter – oft geschieht das unbewusst, z. B. durch Überforderung oder eigene ungelöste Probleme.
Instrumentelle Parentifizierung
Der 12-jährige Junge Leo lebt mit seiner alleinerziehenden Mutter und zwei kleinen Geschwistern. Die Mutter arbeitet viel und ist oft erschöpft. Deshalb übernimmt Leo immer mehr Aufgaben: Er kocht, bringt seine Geschwister ins Bett, hilft ihnen bei den Hausaufgaben und erledigt den Einkauf.
Wenn Leo mal sagt, dass er müde ist oder keine Lust hat, hört er Sätze wie:
„Du bist der Mann im Haus – ohne dich schaffe ich das nicht.“
Leo funktioniert – er tut, was nötig ist, aber innerlich fühlt er sich oft allein, überfordert und alt. Eigene Wünsche oder Freizeit stellt er hinten an, weil er denkt, dass es seine Pflicht ist, stark zu sein.
Später im Leben fällt es ihm möglicherweise schwer, sich abzugrenzen oder einfach mal loszulassen, weil er tief verinnerlicht hat: „Ich bin nur wertvoll, wenn ich etwas leiste.“
Viele Menschen mit parentifizierter Kindheit merken erst im Erwachsenenalter, dass etwas „nicht stimmt“, ohne genau zu wissen, was es ist.
Woran erkenne ich Parentifizierung bei mir selbst?
Typische Anzeichen im Erwachsenenalter können sein:
- Du fühlst dich oft für das Wohlergehen anderer verantwortlich – sogar übermäßig.
- Du kannst schwer „Nein“ sagen und fühlst dich schnell schuldig, wenn du dich abgrenzt.
- Du hast das Gefühl, immer „funktionieren“ zu müssen.
- Du hast Mühe, eigene Bedürfnisse zu spüren oder ernst zu nehmen.
- Du übernimmst oft die Rolle des Retters, Beraters oder Trösters in Beziehungen.
- Du fühlst dich schnell überfordert, aber zeigst es nicht – oder erst, wenn es zu spät ist.
- Du spürst eine tiefe innere Erschöpfung oder Leere, obwohl du „alles richtig machst“.
Wie kann ich das aufarbeiten?
- Bewusstwerden und Anerkennung
Der erste Schritt ist zu verstehen: Was ich erlebt habe, war nicht „normal“ – ich musste zu früh Verantwortung übernehmen. Allein das Aussprechen kann sehr entlastend sein. - Eigene Gefühle wieder spüren lernen
Viele parentifizierte Menschen haben gelernt, ihre Gefühle zu unterdrücken. Therapie, Tagebuch, Körperarbeit oder kreative Methoden (z. B. Malen) können helfen, wieder in Kontakt mit sich selbst zu kommen. - Abgrenzung üben
Du darfst Nein sagen. Du darfst Hilfe annehmen. Du bist nicht für alle verantwortlich. Das braucht Übung – aber kleine Schritte helfen schon. - Innere Kind-Arbeit
In vielen therapeutischen Ansätzen (z. B. Gestalttherapie oder Schematherapie) geht es darum, dem inneren Kind nachträglich das zu geben, was ihm fehlte: Schutz, Trost, Freiheit. Man lernt, sich selbst zu „bemuttern“ oder zu „bevatern“. - Therapeutische Unterstützung
Eine Therapie (besonders tiefenpsychologisch oder traumaorientiert) kann sehr hilfreich sein, um alte Muster zu erkennen, zu verarbeiten und neue Wege zu finden.
Werner Eberwein