Was versteht man unter Emotionsfokussierung und Erlebensorientierung?

  • Humanistische Psychotherapie versteht sich als emotionsfokussierendes Verfahren (Elliott 2007, Greenberg 2016). Das bedeutet, dass die Emotionen (Gefühle, Affekte, Empfindungen) als Thema und Inhalt im Mittelpunkt der Psychotherapie stehen. Auch die transformativen Techniken der humanistischen Psychotherapie sind auf das Thematisieren, Reflektieren und Verarbeiten oder Weiterentwickeln von emotionalen Reaktionen auf dem Hintergrund habitueller Interaktionsmuster fokussiert.
  • Humanistische Psychotherapie versteht sich als erlebensorientiertes Verfahren. Das heißt, dass sowohl die Probleme und Themen des Patienten als auch der Prozess der Verarbeitung und Überwindung derselben in der Therapie unmittelbar erlebbar gemacht werden. Das kann entweder durch Aktivieren und Fokussieren der Achtsamkeit oder mithilfe von Imaginationsübungen, Rollenspielen, Körperwahrnehmungs- oder Ausdrucksarbeit usw. geschehen (AGHPT 2010-1).

Die Orientierung am und auf das aktuelle Erleben bedeutet nicht unbedingt, das emotionale Erleben des Patienten zu aktivieren oder zu intensivieren. Besonders bei strukturschwachen oder überflutungsgefährdeten Patienten sind die Emotionen sowieso schon überstark und außerdem häufig stark ambivalent, so dass eine weitere Intensivierung therapeutisch nicht angemessen wäre. Vielmehr sind in diesen Fällen stabilisierende Methoden zur Dämpfung der emotionalen Intensität, zur Förderung der Fähigkeit zur emotionalen Distanzierung und zum Schutz vor Überflutungen angezeigt. Aber auch diese finden nicht in einem abstrakten, nur-kognitiven Rahmen statt, sondern im unmittelbaren Erleben in der therapeutischen Situation.

In Bereichen, in denen Leid aufrechterhaltende Muster dem Patienten nur vage oder gar nicht bewusst sind, oder wenn es zur Bearbeitung hilfreich ist, unmittelbar erlebbaren Zugang zu emotionalen Bedeutungen, zu bedeutsamen Erfahrungen in der Vergangenheit oder zu zukünftigen Lebensperspektiven zu erlangen, stehen humanistischen Psychotherapeuten eine Vielfalt erlebnisaktivierender Techniken zur Verfügung. Diese werden als Einladungen zum Fokussieren der Aufmerksamkeit oder zum handelnden Experimentieren in Form vorgegebener oder improvisierter Übungen angeboten.

Werner Eberwein