Was versteht man unter der „selektiven Authentizität des Therapeuten“?

Insbesondere im Bereich von Struktur- und Bindungsstörungen setzt ein nachhaltig wirksamer psychotherapeutischer Transformationsprozess voraus, dass der Therapeut sich dem Patienten gegenüber dauerhaft auf eine Weise verhält, die eine authentische Akzeptanz und Wertschätzung dem Patienten gegenüber als Person zum Ausdruck bringt (Eckert et al 2012, Keil & Stumm 2002, 2014).

Wenn der Patient jedoch beispielsweise sadistische oder selbstdestruktive Fantasien oder Impulse zum Ausdruck bringt, so wird der Therapeut auf solche Anteile in der Regel mit Erschrecken, Angst oder Abscheu reagieren (in pathologischen Identifikationsdynamiken vielleicht auch mit morbider Faszination).

Je unreflektierter und intensiver entsprechende Impulse vom Patienten geäußert werden und je mehr sie mit unintegrierten Anteilen des Therapeuten resonieren, umso stärker und ambivalenter sind die Gefühlsreaktionen des Therapeuten und umso schwerer fällt es ihm, seine emotionalen Reaktionen im therapeutischen Prozess zu nutzen, ohne die destruktiven Anteile des Patienten zu verstärken und ohne den Patienten ab-(oder auf-)zuwerten.

Auch wenn destruktive Impulse des Patienten den Therapeuten erschrecken mögen, so ist es doch bereits ein Fortschritt, dass sie dem Patienten bewusst sind und dass er sie in der Therapie anspricht, statt sie in seinem alltäglichen Leben auszuleben. Hier mischt sich vielleicht in die emotionale Reaktion des Therapeuten ein Aspekt der Freude darüber hinein, dass der Patient ihm so weit vertraut, dass er ihm diese Impulse und Fantasien überhaupt mitteilt, und dass er in der Lage ist, sie reflektierend zu erfassen.

Ein humanistischer Psychotherapeut reagiert authentisch, aber nicht ungefiltert in dem Sinne, dass er seine spontanen Reaktionen dem Patienten immer unmittelbar zeigt oder ihm einfach mitteilt, was ihm gerade durch den Kopf geht oder ihn emotional bewegt. Vielmehr filtert er seine Reaktionen durch die Frage hindurch, was für den Patienten zu diesem Zeitpunkt therapeutisch nützlich ist und was der Patient in diesem Moment emotional verkraften kann.

Beispiel: Eine Patientin, der von ihrem Vater in ihrer Kindheit jahrelang massiv Gewalt angetan wurde, spricht darüber, wie sie sich ihrem (nach ihren Worten äußerst liebevollen und verständnisvollen) Freund gegenüber in den letzten Monaten „komplett verschlossen“ hat, und sich auf sadistische Weise daran erfreut, wie dieser das „kaum aushält“, wie er „total ausflippt“ und mit körperlichen Symptomen reagiert. Der Therapeut drückt sein Verständnis dafür aus, dass es die Patientin genießt, sich heute stark und unabhängig zu fühlen und „endlich auch mal am Drücker“ zu sein, weist sie aber respektvoll darauf hin, dass ihr Verhalten dazu führen könnte, die Beziehung zu ihrem Freund zu zerstören, die in ihrem aktuellen Leben praktisch das einzige ist, das ihr Halt gibt.

Werner Eberwein