Was versteht man unter aus „dialogischer Auseinandersetzung“?

In der Humanistischen Psychotherapie wird die Patient-Therapeut-Beziehung verstanden als dialektische, dialogische Auseinandersetzung in einem kooperativen Such-, Orientierungs- und Bewältigungsprozess.

Was ein Mensch fühlt und was sein Erleben für ihn bedeutet, wird in der humanistischen Psychotherapie intersubjektiv in einem fortgesetzen Dialog in Empathie und Introspektion erkundet. Das setzt eine Haltung der Offenheit auch für Unerwartetes, sowie wohlwollendes Interesses auf Basis eines grundlegenden Nichtwissens voraus. Ein humanistischer Psychotherapeut fokussiert sich auf das, was der Patient und der Therapeut in diesem Moment erleben, was zwischen ihnen geschieht, und was das für beide bedeutet.

Die Themen, Fragen und Probleme des Patienten  erscheinen dem Patienten und dem Therapeuten in unterschiedlichen Perspektiven auf Basis ihrer unterschiedlichen Betroffenheit, ihres unterschiedlichen Erfahrungshintergrundes, ihrer verschiedenen Konzepte und Begriffsgebäude. In der humanistischen Psychotherapie entwickelt sich aus diesen beiden Perspektiven ein kreativer, dialektischer Dialog, also eine konstruktive Auseinandersetzung um die Bewältigung der Schwierigkeiten des Patienten.

Der Begriff „Auseinandersetzung“ ist hier nicht gleichbedeutend mit Streit oder Kampf zu verstehen, sondern in der Bedeutung eines engagierten, konstruktiven Sich-miteinander- und Sich-mit-sich-selbst-Auseinandersetzens mit dem Ziel, den Patienten dazu zu befähigen, seine Probleme besser zu bewältigen.

Der humanistische Psychotherapeut bemüht sich, den Patienten zu verstehen, indem er sich als Person in den Grenzen der psychotherapeutischen Profession auf ihn einlässt und mit ihm in fortgesetzt tiefer werdende geistige, emotionale und psychovegetative Interaktion tritt, also mit ihm „schwingt“ und sich (mal harmonisch, mal kontrapunktisch) mit ihm einschwingt. Dadurch erfährt er sich selbst immer tiefer als Sich-mit-ihm und zugleich immer mehr vom ganz Eigenen des Patienten als Person.

Aus der therapeutischen Auseinandersetzung, aus der Reibung unterschiedlicher Perspektiven und der Interaktion verschiedener Weisen des Berührtseins heraus entwickelt sich der psychotherapeutische Prozess als Bewältigung von Altem, Überlebtem und Hervorbringung von Neuem, Kreativem und stets Unvorhersagbarem.

Ein solcher prozessorientierter Ansatz erfordert vom Patienten und vom Therapeuten den Mut, sich auf suchende, tastende Weise mehr und mehr auf Sich-selbst-mit-dem-Anderen einzulassen und die Bereitschaft, Irritation durch den Anderen, Unsicherheit, Nichtverstehen und zeitweise Orientierungslosigkeit zuzulassen und zu ertragen, sich dabei innerlich berühren, auch infragestellen, bewegen und verändern zu lassen.

Dieser Prozess erfordert Geduld, Zeit, die Bereitschaft, bei Verunsicherndem, potentiell Überwältigendem, manchmal Beängstigendem zu verweilen und – besonders beim Therapeuten – ein erhebliches Maß an Demut gegenüber seiner Unwissenheit und seiner bei aller Erfahrung verbleibenden Blindheit manchmal selbst für (im Nachhinein) Offensichtliches und eine Bereitschaft, den Habitus der Kompetenz und der Kontrolle sowie Fantasien narzisstischer Überlegenheit immer wieder zu überwinden.

Therapeutische Auseinandersetzung bedeutet, den Patienten zu unterstützen in der Auseinandersetzung mit sich selbst. Seine aktuellen Schwierigkeiten werden dabei vor dem Hintergrund allgemein menschlicher, existenzieller Fragen betrachtet, z.B.:

  • Was fange ich an mit meinem Leben?
  • Was gibt mir/was macht für mich Sinn?
  • Was ist mir wirklich wichtig im Leben?
  • Welche Werte sind mir wichtig?
  • Welche Rolle spielt es für mich, dass ich mir der Endlichkeit meines Lebens bewusst bin?
  • Erlebe ich mich als Opfer der Umstände oder als aktiv handelnder Gestalter meines Lebens?
  • Wie gehe ich mit meiner Verantwortung für existenzielle Fehlentscheidungen oder Nicht-Entscheidungen um?
  • Mit welchem allgemein menschlichen Grundproblem komme ich nicht klar?

(Frankl 1975, 2009, 1985, Längle 1992)

Kooperative Auseinandersetzung und validierende Akzeptanz sind Aspekte derselben Dynamik. Der Patient kann in der Therapie lernen, auch die Anteile seiner selbst, die sich nicht gut anfühlen, die ihm unangenehm sind, für die er sich schämt oder die ihn ängstigen, zunächst einmal als gegeben anzunehmen, sie also weder wegzuschieben, noch zu überdecken, zu vermeiden oder zu leugnen. Er kann sich nur reflektierend und selbstkritisch mit etwas auseinandersetzen, das er zunächst als faktisch vorhanden bzw. als Teil seiner selbst akzeptiert. Dieser erste Schritt, das Akzeptieren des zunächst Gegebenen, ist bereits ein wesentlicher und oft entscheidender Teil des therapeutischen Prozesses.

Der humanistische Psychotherapeut bemüht sich um eine Haltung, in der er den Patienten durchgängig auf wertschätzende Weise als Person akzeptiert, ihn mit Würde und Respekt behandelt, auch und gerade dann, wenn er sich bestimmten Mustern des Patienten gegenüber manchmal kritisch, konfrontativ, provokativ oder herausfordernd verhält.

Hierbei unterscheiden sich die verschiedenen Richtungen der humanistischen Psychotherapie und auch die individuellen Stile humanistischer Psychotherapeuten stark voneinander in einem Spektrum zwischen Akzeptanz einerseits und Herausforderung andererseits:

  • In einigen Richtungen der humanistischen Psychotherapie und manchen Therapeutenpersönlichkeiten ist es primär wichtig, den Patienten als ganze Person mit wohlwollender, positiver Zuwendung und Akzeptanz
  • In anderen Richtungen der humanistischen Psychotherapie und von anderen Therapeutenpersönlichkeiten wird mit strukturell ausreichend stabilen Patienten bisweilen mit intensiver Konfrontation und Herausforderung bei gleichzeitiger grundlegender haltgebender Wertschätzung dem Patienten als Person gegenüber gearbeitet.

Auch wenn der Therapeut dem Patienten eigene Sicht- und Erlebensweisen zur Verfügung stellt, ihm therapeutische Selbsthilfetechniken beibringt oder ihn mit einem Problem-aufrechterhaltenden Muster konfrontiert, geschieht das immer im Dialog und als Dialog, also intersubjektiv. Die Wahrnehmungen, Interpretationen und Fähigkeiten des Therapeuten sind weder zutreffender noch objektiver bzw. kompetenter als die des Patienten, sondern ebenso subjektiv, nämlich von ihm als (wenn auch professionell geschulten) Subjekt wahrgenommen und interpretiert oder erfahren.

Ein konstruktiver psychotherapeutischer Prozess entsteht nicht dadurch, dass der Patient Wahrnehmungen, Interpretationen, Konfrontationen oder Anleitungen des Therapeuten annimmt, sondern dadurch, dass er sich (auch) mit ihnen auseinandersetzt. Der Therapeut lernt auch vom Patienten, was vor allem in Therapiegruppen deutlich wird, in denen die Gruppe oft als konstruktives Korrektiv für Einseitigkeiten und blinden Flecken des Gruppenleiters fungiert.

Auseinandersetzung ist ein dialektischer Prozess, eine Dynamik der Entwicklung von Widersprüchen: Die professionell reflektierten Wahrnehmungen, Gefühle, Interpretationen und Interventionen des Therapeuten einerseits und die Gefühle, Bedürfnisse, Blockaden und Ressourcen des Patienten andererseits interagieren miteinander. Aus der Reibung zwischen beiden entsteht etwas Neues, das weder das eine noch das andere noch ein Kompromiss zwischen beiden ist, sondern etwas, das aus beiden Seiten auf emergente Weise neu entsteht, in dem beide Seiten enthalten und zugleich überwunden sind.

Als metaphorische Analogie könnte hierfür die Entstehung einer chemischen Verbindung aus zwei Ausgangssubstanzen dienen. Natrium ist ein wachsweiches, silberglänzendes und hochgiftiges Metall. Chlor ist ein ebenso hochgiftiges, grünliches Gas. Wenn beide sich verbinden, entstehen die bekannten transparenten Kristalle, mit denen wir unsere Suppen würzen. Darin ist sowohl das eine (Natrium) als auch das andere (Chlor) enthalten, aber aus beiden ist etwas Neues mit neuen Eigenschaften entstanden. Das Kochsalz kann nun wieder mit anderen Substanzen interagieren und die neue Emergenzen hervorbringen.

Der Therapieprozess entwickelt sich emergent und kooperativ aus der aktiv gestalteten und kritisch reflektierten Interaktion der spontanen Gefühle, Impulse und Fantasien beider Beteiligter vor dem Hintergrund des Heilungsbedürfnisses des Patienten und der Fachkompetenz des Therapeuten:

  • Im therapeutischen Interaktionsfeld gibt der Psychotherapeut unter anderem den organisatorischen, formellen Rahmen der Interaktion (Ort und Zeitbegrenzung der Sitzungen, Honorargestaltung, methodische Orientierung usw.) und manchmal auch den Fokus und den Ablauf der Sitzung (z.B. durch Übungen, Interventionen o.ä.) vor.
  • Der Patient wendet sich mit seinen Beschwerden und Wünschen an den Therapeuten, er ist sein Auftraggeber. Durch das, was er thematisiert oder nicht thematisiert, worauf und inwieweit er sich einlässt oder nicht einlässt, womit er sich auseinanderzusetzen bereit ist oder nicht bereit ist, bestimmt er die Inhalte und Abläufe der Psychotherapie mit.

Die psychotherapeutische Weiterentwicklung geschieht über längere Zeiträume hinweg kontinuierlich (manchmal durch Phasen scheinbarer oder wirklicher Stagnation oder gar von Rückschritt hindurch), und dann wieder in Form von dialektischen Sprüngen, z.B. plötzlichen „Tiefungen“ oder unerwarteten Einsichten oder Fortschritten. In Krisenmomenten oder konflikthaften Zuspitzungen erscheinen die emotional bewegten bis aufgewühlten Anteile von Patient und Therapeut einerseits und die reflektierend-kritischen Anteile andererseits bisweilen wie in verschiedenen Welten angesiedelt zu sein. Aus der dynamischen Zuspitzung der Spannung zwischen diesen Anteilen kann eine oft plötzliche Entwicklungsbewegung entstehen, z.B.:

  • zum Begreifen von Wahlfreiheit in Bereichen, in denen sich der Patient vorher hilflos ausgeliefert fühlte,
  • zum Verstehen von Unverstandenem,
  • zum Integrieren von Ausgegrenztem,
  • zum Annehmen von unannehmbar Erschienenem.

Humanistische Psychotherapeuten sind, was Form und Abläufe der Therapie betrifft, sehr flexibel und verfügen über ein weites Spektrum an Techniken. Das ermöglicht es Patient und Therapeut, auf ko-kreative Weise immer wieder neue Formen (Settings, Zugänge, Abläufe, Experimente usw.) zu entwickeln, um den psychotherapeutischen Prozess voranzubringen.

Werner Eberwein