Was versteht man darunter, die Emotionen zu „halten“?
Patienten kommen in eine Psychotherapie, weil sie mit ihren Gefühlen nicht zurechtkommen. Sie leiden unter schwer erträglichen (manchmal dissoziierten oder somatisierten) Gefühlen von Trauer, Schmerz, Wut, Scham oder Angst, oder unter einem noch schwerer erträglicheren Zustand der Gefühllosigkeit, in dem aus Angst vor Überflutung manche oder alle Emotionen wie betäubt sind. Durch traumatische Überlastungen oder pathogene Beziehungsverstrickungen waren oder sind die Patienten mit Gefühlen konfrontiert, die sie weder verarbeiten noch angemessen regulieren können. Sie schwanken zwischen Überflutung und Abspaltung, zwischen Ausagieren und Vermeiden dieser Gefühle.
Ein zentraler Veränderungsprozess in der humanistischen Psychotherapie besteht darin, dass der Patient lernt, Emotionen zu „halten“, d.h. zu erleben, ohne davon überschwemmt zu werden und ohne sie abspalten oder ausagieren zu müssen (Bion 1992-1, 1992-2, 1997, Voos 2011).
Der Patient kann u.a. lernen:
- Emotionen zuzulassen, die er zunächst als unerträglich empfindet,
- diese Emotionen zuzuordnen, zu benennen und differenziert begrifflich oder symbolisch zu erfassen,
- zugleich auch andere, ressourcenvolle Emotionen wahrzunehmen,
- intensive Emotionen im Inneren zu „halten“, d.h. sie zu spüren, ohne sich von ihnen beherrschen oder reflexartig zu entsprechenden Handlungen bringen zu lassen.
Beispiel: Eine Patientin, alleinerziehende und berufstätige Mutter zweier, 3 Jahre und 18 Monate alter Söhne, fühlt sich „komplett überfordert“ in ihrer Mehrfachbelastung durch Arbeit, Haushalt und Kinderbetreuung. Wenn sie wieder einmal in der Nacht kaum geschlafen hat, weil ihr kleiner Sohn nicht zur Ruhe zu bringen war, erlebt sie massive Hassgefühle ihm gegenüber: „Ich hätte ihn an die Wand kleben können!“. Sie drückt große Verzweiflung über ihre Wutimpulse ihrem Sohn gegenüber aus, weil sie ihn über alles liebt.
Den Hass zu ignorieren, zu unterdrücken oder zu leugnen wäre der Patientin weder möglich noch sinnvoll. Sie muss lernen, ihre Aggressionen dem Kind gegenüber in ihrem Inneren zu „halten“, gegebenenfalls in der Therapie ritualisiert auszudrücken, sie aber ihrem Kind gegenüber nicht auszuleben. Zugleich kann sie in der Therapie nach praktischen Veränderungen und besseren inneren Verarbeitungsmöglichkeiten suchen, damit sie und ihre Kinder mehr zur Ruhe finden.
Werner Eberwein