Was sind Paradiesfantasien?
Paradiesfantasien sind unrealistisch idealisierte Vorstellungen. Sie sind ungemein verbreitet in unserer narzisstischen Kultur:
- In Reiseprospekten wird uns der perfekte Urlaubsort vorgegaukelt.
- Dating-Portale und Liebesschnulzen suggerieren uns den idealen Partner.
- Abnehm-Programme versprechen uns die ideale Figur.
- Klamotten-Versandfirmen versprechen uns das perfekte Outfit.
Klingt gut und ist werbewirksam, stellt sich aber leider alles als unrealistisch heraus.
Die reale Welt ist vielfältig, ambivalent, voller Graustufen und Farben, voller süßer und fauliger Düfte, voller faszinierender und abstoßender Formen. Wenn beispielsweise jemand Berlin als wundervolle Stadt bezeichnen würde, in der alles toll ist, so würde das einfach nicht stimmen. Es gibt wunderschöne Stellen in Berlin, man kann ihr wunderbare Menschen kennenlernen, tolle Dinge erleben und interessante Sachen lernen, aber Berlin ist auch voller Hundekot, Korruption, Verkehrschaos, Bürokratie und Kriminalität. Dazwischen gibt es beliebig viele Abstufungen und noch ganz andere Elemente und Aspekte, die sich gar nicht in einen Gut-schlecht-Schema einordnen lassen.
Wenn jemand einen Urlaub in Berlin verbringt oder von wo anders hier herziehen und erwarten würde, dass Berlin ein Ort reinen Glücks sei, wo einem die Sushi-Röllchen von den Dächern in den Mund wachsen, so wäre er schon nach kurzer Zeit mit Sicherheit enttäuscht. Angesichts der problematischen und unangenehmen Aspekte der Stadt würde jemand, der damit nicht rechnet, und damit nicht umzugehen weiß, leicht ins Gegenteil kippen und Berlin zu einem einzigen Desaster erklären, dem man nur schnellstmöglich den Rücken kehren könne. Allerdings würde auch das der real existierenden Stadt Berlin nicht gerecht. Paradiesfantasien können also leicht in Horrorfantasien umkippen. Der rosa Luftballon platzt, und übrig bleibt ein ekliges Etwas, mit dem man nichts zu tun haben will.
Manche meiner Patienten hatten unter Eltern zu leiden, die von sich glaubten oder mit aller Macht anstrebten, die perfekten Eltern zu sein und keine Fehler zu haben bzw. zu machen. Das ist als Bestreben lobenswert, aber im Extrem wird es für die Eltern zur Quälerei und für die Kinder zu einer Tortur. Real existierende Eltern sind nun mal nicht perfekt. Sie sind manchmal erschöpft, genervt, ärgerlich, gekränkt, abgelenkt oder unbeherrscht. Auch real existierende Kinder nörgeln manchmal, sind zickig und bockig, schreien die ganze Nacht, und man weiß nicht warum, wollen irgend etwas haben, was ihnen absolut nicht gut tut, stürzen sich bedenkenlos in Gefährliches oder haben mehr Energie, als die Eltern verkraften können. Das führt unweigerlich zu Konflikten. Wenn nun Eltern partout anstreben oder von sich glauben, perfekt zu sein, empfinden sie solche Irritationen und Konflikte als Katastrophe. Ihre Vorstellung von einem idealen Familienleben kann nicht aufrechterhalten werden. Es bricht zusammen, und die Eltern versinken in Verzweiflung. Das Kartenhaus des immerwährenden Glücks kollabiert und bringt sein Gegenteil hervor, nämlich abgrundtiefes Elend.
Genau dasselbe geschieht, wenn eine Frau anstrebt oder glaubt, eine perfekte und ideale Schönheit zu sein. Unweigerlich entsteht daraus ein immenser Stress, denn jeder noch so kleine Makel stellt diese Selbstidealisierung infrage und droht, sie kollabiert und zu lassen. Ich erinnere mich an eine attraktive Patientin, die einen banalen und kaum wahrnehmbaren körperlichen Makel hatte. Es war eigentlich noch nicht einmal ein Makel, sondern lediglich eine geringfügige Abweichung von dem von ihr angestrebten 100-prozentig perfekten Äußeren – aber es machte sie wahnsinnig. Sie wollte das, was sie als Riesenproblem wahrnahm, unbedingt durch eine Operation beheben lassen, und litt ungeheuer darunter, dass sie dafür nicht das Geld hatte. Sie führte alle ihre heftigen Beziehungsprobleme auf diese kleine Abweichung von ihrer fiktiven Idealnorm zurück und konnte an kaum etwas anderes denken. Auch hier verwandelte sich eine unrealistische Selbstidealisierung in einen Stachel im Fleisch der Patientin, der zu unentwegtem Leid führte.
Ähnlich geht es Menschen, die mit einem Partner oder Partnerin zusammen sind, die oder den sie zunächst als überaus attraktiv empfinden. Nach einer Weile gewöhnt man sich selbst an die größte Attraktivität und nimmt sie zumindest nicht mehr in dem Umfang war, wie am Anfang. Die andere Person wird dann mehr und mehr zu „dem Paul“ oder „der Anne“, der bzw. die einfach so aussieht, wie er oder sie nun mal aussieht.
Ähnlich ist es, wenn jemand einen idealen, perfekten Partner oder eine immer-nur-harmonische Beziehung haben möchte oder zu haben glaubt. Diese Illusion kann leicht in der Phase der Verliebtheit entstehen, in der man fest überzeugt ist, wenn die Partnerin bzw. der Partner auf der Toilette sitzt, würde es nach Veilchen riechen. In dieser Phase ist alles am anderen, sein Körper, seine Stimme, die Art wie er sich bewegt, was er macht und denkt nur wunderbar und berauschend. Wie wir alle wissen hält das nicht ewig. Früher oder später werden beim anderen die Kratzer im Lack sichtbar, und wenn man damit nicht rechnet und damit nicht umgehen kann, fällt der Partner plötzlich aus dem Himmel herab direkt in Ungnade, wird verachtet und fallengelassen, wie der letzte Dreck behandelt und schließlich ausgemistet. Aus Anhimmeln wird Verteufeln, aus Bewundern wird Verachten, aus der Paradiesfantasie wird die Horrorvision.
Menschen, die viele Auseinandersetzungen in ihrer Partnerschaft erleben, träumen manchmal von einem Partner, die oder der endlich mal immer derselben Meinung sind, wie sie selbst. Klingt zunächst mal traumhaft, aber würde man das wirklich auf Dauer wollen? Nehmen wir an, der eine Partner sagt: „Ich finde, Donald Trump, die amerikanische Pegida, ist eine Gefahr für den Weltfrieden“. Und der andere sagt nur: „Das sehe ich genauso“. Und das bei jedem Satz: „Clinton ist in der Alternative besser, obwohl sie auch eine eine Marionette der Superreichen und der Waffenlobby ist. Nur schade dass Sanders keine Chance hat“ – „Ganz genau, so sehe ich das auch“ und so weiter und so weiter. Wäre das nicht furchtbar langweilig auf Dauer?
Wir leben in einer narzisstischen Kultur, in der uns von vielen Seiten idealisierte Vorstellungen von anderen Menschen, von Situationen, Gegenständen, aber auch von uns selbst suggeriert und als Norm vor die Nase gehalten werden, wie eine Wurst, die jemand an einem Stock auf unserem Rücken gebunden hat. Wir hecheln dem Paradies hinterher ohne es je erreichen zu können.
Meines Erachtens ist es ein Zeichen von Reife und Erwachsenwerden, anzuerkennen, dass unmöglich immer die Sonne scheinen kann, und dass man das in Wirklichkeit auch gar nicht wollen würde. Wenn, wie zurzeit hier in Berlin gerade, monatelang kaltes, graues Nieselwetter herrscht, träume ich oft von ewigem Frühling oder ewigem Sonnenschein. Ich stelle mir vor, wie wunderbar es wäre, an einem Ort zu leben, an dem tagsüber immer 28 Grad ist, wo es in den lauen Nächten nur ab und zu um 4 Uhr regnet, damit morgens die Straßen frisch duften, und wo an langen sonnigen Tagen die Vögel zwitschern, die Blumen blühen, wo das Gras grün ist, und die Menschen sind fröhlich.
Dann muss ich an einen Patienten denken, der einmal für ein dreiviertel Jahr in Afrika gelebt hat. Er meinte, er hätte die ewige Sonne nach einigen Monaten kaum noch ausgehalten. Er habe oft gedacht: „Wenn es doch nur mal ein Gewitter gäbe oder wenn es nur einmal mal hageln würde.“ Er sehnte sich danach, dass es mal nieselig und kühl gewesen wäre. Ähnlich ging es mir bei einem Urlaub auf den Seychellen im indischen Ozean, wo immer diese wunderbaren 28 Grad sind, mit nur 3 Grad Unterschied zwischen Sommer und Winter. Das ist für eine Weile wundervoll, aber nach einiger Zeit fehlt einem die Veränderung: Ich wollte tatsächlich gern mal wieder frieren, was dort aber absolut nicht geht.
Wenn ein Mensch eine perfekte körperliche oder psychische Gesundheit anstrebt oder zu haben glaubt, wird das Schicksal ihm früher oder später aufzeigen, dass er damit falsch liegt. Ein Mensch, der niemals krank sein will, wird unweigerlich zum Hypochonder, weil jede noch so kleine Erkrankung sein selbstidealisiertes Körperbild zum Einsturz bringt. Gelegentliche Erkrankungen, leichte und auch schwere, ebenso wie auch emotionale Wunden, irrationale Verhaltensweisen und leiderzeugende Erlebensmuster hat jeder Mensch. Menschen, die das leugnen, nicht wahrhaben wollen oder an sich selbst nicht wahrnehmen können, finde ich unheimlich. Ich erinnere mich an einen Satz, den ein Psychotherapie-Ausbilder einmal sagte: „Gar nicht verrückt ist auch nicht normal.“ Das finde ich sehr richtig.
Man mag sich ein idealisiertes Glück wünschen, das so etwas ist wie ein Dauerorgasmus. Auch das klingt vielleicht zunächst einmal spannend und erstrebenswert, aber ehrlich: Wer würde so etwas in Wirklichkeit haben wollen? Wussten Sie, dass es eine psychische Störung gibt, die als „persistent sexual arousal syndrome (PSAS)“ bezeichnet wird? Es handelt sich um eine sexuelle Dauererregung, bei der die Betroffenen (mehr Frauen, aber auch Männer) bis zu 250 Orgasmen am Tag bekommen. Das mag sich für Menschen, die schon ewig gar keinen Orgasmus mehr hatten, wundervoll anhören, aber tatsächlich leiden diese Menschen ungeheuer darunter, weil ihnen das ständig, in der U-Bahn, beim Einkaufen, bei der Arbeit, in belanglosen Gesprächen, beim Joggen, beim Telefonieren, überall passiert. Gut, für ein paar Stunden wäre das klasse, aber wenn man einmal ernsthaft darüber nachdenkt: Würde man das in Wirklichkeit und lebenslang haben wollen? (Übrigens gibt es für PSAS zurzeit weder eine medikamentöse noch eine psychotherapeutische Behandlung.)
Meiner Meinung nach ist ein glückliches Leben so etwas wie das Leben an einen real existierenden Ort in der Welt. Nehmen wir als Beispiel ein Leben in Berlin. Dort gibt es wundervolle Möglichkeiten, aber auch schwer erträgliche Aspekte:
- Wenn man sich nur auf die Partyszene, die Kinos und Theater, die Parks und Wälder, die geistige Weite, die Ausbildungs- und Kontaktmöglichkeiten in Berlin fokussiert und den BER-Flughafen, den Dauerstau auf der Stadtautobahn, die Dauerbaustellen und den LaGeSo-Skandal nicht wahrhaben will, führt das früher oder später zu Leiden.
- Wenn man nur die ätzenden Aspekte der Stadt sieht und die fröhlichen nicht wahrnehmen kann, führt das ebenfalls zu Leiden.
- Wenn man beide gegeneinander aufrechnet mit dem Resultat, dass die Lebensqualität in Berlin im Großen und Ganzen die Summe Null ergibt, führt das auch zu Leiden.
Ein glückliches Leben besteht meines Erachtens darin, sich so gut es geht freudige Erfahrungen, tragende Beziehungen und an Werten orientierte Betätigungen zu gestalten, und zugleich anzuerkennen und damit umgehen zu lernen, dass Unglück, Leid und Schmerz unweigerlich Aspekte unseres Lebens sind.
Werner Eberwein