Was sind Ich-syntone Störungen?

Nicht alles, was einem Patienten oder dessen sozialem Umfeld (und damit indirekt auch wieder dem Patienten) Probleme bereitet, ist dem Patienten als Problem bewusst. Manches nimmt er gar nicht wahr, anderes erscheint ihm als selbstverständlich („das machen doch alle“, „so war ich schon immer“), oder nicht als Problem („so bin ich nun mal“). Wir sprechen hier von Ich-syntonen Störungen, also von Leid aufrechterhaltenden Beziehungsmustern, die mit den momentanen Normen und Werten des Patienten übereinstimmen.

Ich-syntone pathologische Dynamiken sind besonders häufig im Bereich der Persönlichkeitsstörungen anzutreffen. Je stärker die Strukturstörung eines Patienten ist, umso weniger ist er in der Lage, sich selbst reflektierend aus einer Dritte-Person-Perspektive zu betrachten, sich also gleichsam von außen zu sehen. In diesen Bereichen erscheinen dem Patienten seine Muster als selbstverständlich, unproblematisch und nicht reflexions- oder veränderungswürdig, obwohl sie zum Leid des Patienten oder zu destruktiven Beziehungskreisläufen beitragen.

Beispiel: Eine Patientin versucht immer wieder, dem Therapeuten Details seines Privatlebens zu entlocken. Sie begründet das damit, dass sie einem Menschen nur dann vertrauen könne, wenn auch er sich ihr gegenüber öffne. Außerdem sei ein humanistischer Psychotherapeut ja angeblich in der Therapie auch persönlich sichtbar, so habe sie gelesen. Wenn die Patientin etwas Persönliches vom Therapeuten erfahren hat, lenkt sie das Gespräch darauf, sobald in der Therapie Themen zur Sprache kommen, die ihr zu nahe kommen. Es fällt dem Therapeuten schwer, eine klare Grenze zu ziehen zwischen dem, was er bereit ist von sich preiszugeben und dem, was er für sich behalten möchte. Als der Therapeut versucht, die Bredoullie zu thematisieren, in der er sich fühlt, stellt die Patientin seine fachliche Kompetenz in Frage und überlegt, den Therapeuten zu wechseln.

Ich-syntone Dynamiken erfordern einen behutsamen Umgang mit Regeln und Grenzen, mit Machtverhältnissen und Vorgaben in der Therapie. Da der Patient in diesen Bereichen keine Veränderungsmotivation hat, sieht er auch keinen Grund dafür, sich mit diesen Mustern selbstkritisch auseinanderzusetzen. Oft ist es zunächst nicht klar, ob ein Problem des Patienten oder ein Problem des Therapeuten oder ein Problem der spezifischen Dynamik zwischen diesen beiden angesprochen ist. Hier ist es erforderlich, dass der Therapeut das Erleben des Patienten und sein eigenes zunächst annimmt, aber dann auch infrage stellt. So kann allmählich die Bereitschaft des Patienten geweckt werden, auch Ich-syntone Muster in ihren Wirkungen zu erkennen und zu hinterfragen.

Sofern Ich-syntone leidvolle Dynamiken unverkennbar und latent therapie-, selbst- oder fremdgefährdend sind, weist der Therapeut den Patienten auf die möglichen Folgen seines Verhaltens hin, auch dann, wenn dieser sie zunächst als angemessen und berechtigt empfindet. Im obigen Beispiel besteht z.B. die Gefahr, dass die Therapie scheitert, wenn die Patientin darauf besteht, private Details aus dem Leben des Therapeuten zu erfahren, die dieser für sich behalten möchte.

Werner Eberwein