Was sind die „Ebenen“ einer Interaktion?

Patient und Therapeut sind im psychotherapeutischen Prozess gegenseitig aufeinander bezogen, und zwar bewusst und unbewusst, kognitiv, emotional und vegetativ. Die Interaktion zwischen Patient und Therapeut findet nicht nur auf der kognitiven Ebene der sprachlichen Inhalte statt. Auch die Gefühle, die psychovegetativen Regulationsprozesse, die Fantasien, Impulse und Intentionen interagieren miteinander. Patient und Therapeut kommunizieren durch Worte, aber auch durch ihre Stimmlage, ihr Sprechtempo, ihre Körperhaltung, ihre Mimik und ihre Ausdrucksgesten miteinander (Storch et al 2010, Fogel 2013).

Spontan oder mit Hilfe bestimmter Techniken können beide vorübergehend einen virtuellen, dissoziativen Standpunkt außerhalb ihrer unmittelbaren Interaktion einnehmen, um über sich selbst oder ihren Dialog zu reflektieren. Sie können ihr Erleben und Handeln selbst zum Gegenstand der vertieften Wahrnehmung und des begreifenden Erfassens machen. Patient und Therapeut sind dabei involviert in ihr unmittelbares Erleben und Miterleben, Handeln und Mithandeln und reflektieren dieses zugleich.

Die Patient-Therapeut-Beziehung ist das Handlungsfeld der psychotherapeutischen Interaktion. Hier spielt sich die Psychotherapie ab. Zugleich ist die Patient-Therapeut-Beziehung ein Ort der Reaktivierung alter Beziehungsmuster und ein Reflexionsraum für die Verarbeitung, Weiterentwicklung und Transformation dieser Muster.

Patient und Therapeut sind im verbal-kognitiven Kontakt auf der Ebene der Inhalte ihrer Gespräche und zugleich in einer emotio-vegetativen Resonanz auf der Ebene der Gefühle und psychosomatischen Körperreaktionen.

Die Patient-Therapeut Beziehung wird in der humanistischen Psychotherapie verstanden als:

  • ein kooperatives, professionelles Arbeitsbündnis,
  • eine reale Begegnung wirklicher Personen,
  • ein Feld, auf dem alte Beziehungsmuster wiederholt (und damit unmittelbar erlebbar) werden,
  • ein Raum um diese Muster zu reflektieren und weiterzuentwickeln oder zu überwinden,
  • ein Raum, um korrektive, neue Beziehungs- und Bindungserfahrungen zu machen.

Patient und Therapeut befinden sich in kognitiver, emotionaler und physiologischer Resonanz. Der Begriff Resonanz ist hier nicht in einem mechanischen, physikalischen Sinn zu verstehen, sondern im Sinne eines intersubjektiven Dialogs, eines wechselseitig aufeinander bezogenen Erlebens-und-Handelns-Miteinander.

Aus der Perspektive des Therapeuten gesehen bedeutet das nicht, dass er einfach identisch oder auch nur ähnlich miterlebt, was der Patient erlebt. Vielmehr erlebt er das, was der Patient ihm direkt oder indirekt übermittelt als eigene Person und durch seine eigene Person hindurch mit und reagiert kognitiv, emotional und vegetativ, erlebend und handelnd darauf auf der Basis seiner eigenen Lebenserfahrungen, seines Fachwissens und seiner durch Ausbildung und Eigentherapie geschulten Reflexionsfähigkeit:

  • Auf einer kognitiven Ebene bemüht sich der Therapeut, den Inhalt der Äußerungen des Patienten zu verstehen, sich damit auseinanderzusetzen und den Patienten zu einer Auseinandersetzung mit sich selbst einzuladen. Zugleich stimuliert er den Patienten auch geistig z.B. durch das Angebot alternativer Sichtweisen.
  • Auf einer emotionalen Ebene wird der Therapeut von den Gefühlszuständen und -prozessen des Patienten berührt. Er bemüht sich, sich bis an die Grenze seines Gewahrseins empathisch in den Patienten einzufühlen und diesen zur Selbstempathie einzuladen. Zugleich bewirken die Gefühle des Therapeuten emotionale Reaktionen im Patienten. Das geschieht weitgehend nonverbal, z.B. durch subtile mimische, gestische oder stimmliche Signale von Anteilnahme oder Distanz, Zustimmung oder Widerspruch, Überraschung, Erschrecken, Wärme oder Irritation u.v.a.
  • Auf einer physiologischen (vegetativen, körperenergetischen) Ebene wird der Therapeut von den wechselnden und oft ambivalenten psychophysiologischen Zuständen des Patienten (z.B. Anspannung, Aufgebrachtheit, Resignation, Erstarrung usw.) berührt. Zugleich bewegt auch z.B. die Wachheit oder Müdigkeit, Agitiertheit oder Passivität, Anspannung oder Entspanntheit usw. des Therapeuten beim Patienten vegetative Resonanzen.

Die Vielebenen-Resonanz in der Patient-Therapeut-Beziehung hat sowohl symmetrische als auch komplementäre Anteile:

  • Beide erleben Aspekte des Erlebens des anderen mit, die dessen Erleben ähnlich sind (symmetrische Resonanz).
  • Sie erleben aber auch Aspekte mit, die das interaktive Gegenstück des Erlebens des anderen sind (komplementäre Resonanz).

Beispiel: Eine Patientin berichtet von einem heftigen Streit mit ihrem Mann am vorangegangenen Abend. Sie fühlt sich von ihm alleingelassen, weil der Mann sich zu wenig um die 3-monatige Tochter kümmere. In dem Streit war die Patientin außer sich vor Wut, vor allem, weil ihr Mann irgendwann „dicht machte“ und „überhaupt nicht mehr reagierte“.

  • Der Therapeut kann den unmittelbaren Inhalt der Auseinandersetzung kognitiv nachvollziehen, also den Konflikt auf der realen Ebene verstehen. Die Patientin hat schon oft über die aus ihrer Sicht ungerechte Verteilung der Kinderbetreuung des Paares berichtet.
  • Auf einer emotionalen Ebene spürt der Therapeut Mitgefühl mit der Verzweiflung der Patientin, die sich hinter ihrer Wut verbirgt, und die sie im Streit mit ihrem Mann nicht unmittelbar ausdrücken kann.
  • Die Patientin fühlt sich beruhigt, weil sie das Mitgefühl des Therapeuten wahrnimmt.
  • Vor der Massivität ihres Hasses erschrickt der Therapeut und spürt, wie er sich emotional verschließt. Er fragt sich, ob er mit dem „Dichtmachen“ des Mannes der Patientin identifiziert ist.
  • Als die Patientin merkt, dass der Therapeut beginnt „dichtzumachen“, sagt sie, sie habe den Impuls, ihn zu rütteln: „Verstehen Sie denn nicht, wie schrecklich das für mich ist?!“
  • Der Therapeut spürt Ärger in sich aufsteigen, der vermutlich
    – zum Teil ein persönlicher Selbstschutz des Therapeuten ist, dem die Attacke der Patientin zu viel wird,
    – zum Teil ein Überschwappen der Wut der Patientin auf ihn (d.h. eine symmetrische Resonanz ist) und
    – zum Teil eine Identifikation mit dem unterdrückten Ärgers des Mannes.
  • Körperlich erlebt der Therapeut eine zunehmende Anspannung seiner Nackenmuskulatur und in der Bauchregion. Seine Mimik erstarrt, sein Atem wird flach, er fühlt sich angespannt und erschöpft.
  • Als sie den subtilen Ärger des Therapeuten spürt, macht ihr das Angst, und sie beginnt nun selbst, sich zu verschließen und zu erstarren.

Die Verwicklung der Patientin mit ihrem Mann (aufgrund biografisch alter Beziehungsmuster) hat sich in der therapeutischen Beziehung in Resonanz mit den Mustern des Therapeuten reaktiviert und wird unmittelbar erlebbar. Die persönliche Betroffenheit beider (Mitgefühl, Schreck, Ärger, Erstarrung usw.) und ihre professionelle Aufgabe (Arbeit am Heilungsprozess der Patientin) kommen miteinander in Konflikt.

Der Therapeut nimmt seine emotionalen und vegetativen Reaktionen wahr und bemerkt auch das Interaktionsmuster, das sich konstelliert hat. Mit einem Teil seines Bewusstseins nimmt er eine distanzierte, reflektierende Position dazu ein. Nun thematisiert er behutsam seine Gefühlsreaktionen und – auf fragende Weise – seine Ideen dazu, was gerade zwischen der Patientin und ihm passiert.

„Gehalten“ durch die fürsorgliche Zuwendung des Therapeuten und durch seine selbstdistanzierende Kommunikation kann die Patientin ihrerseits in ein „Doppelbewusstsein“ gehen und die aktivierte Konstellation reflektieren. Sie entwickelt eine „Dritte-Person-Perspektive“ auf sich selbst. Das hilft ihr, auch in der Auseinandersetzung mit ihrem Mann „auf dem Teppich zu bleiben“ und aus der Wut-Rückzugs-Eskalation mit ihm auszusteigen.

Werner Eberwein