Was sind Beziehungsmuster?
In der humanistischen Psychotherapie geht es zentral um das Erkunden und Transformieren generalisierten Beziehungsmuster.
Unter Beziehung werden hier sowohl
– dauerhafte Strukturen der Gestaltung des Kontakts mit anderen Menschen verstanden, als auch
– die Art und Weise, wie ein Mensch auf sich selbst (z.B. auf seine Identität, seine Überzeugungen, seinen Körper, seine Geschichte, seine Zukunftspläne usw.) bezogen ist, und auch
– die vielfältigen Interaktionen zwischen Anteilen der Persönlichkeit, die selbst wechselseitig und komplex aufeinander bezogen sind.
Manche Beziehungsmuster sind im unmittelbaren Erleben präsent, andere werden nur in ihren Auswirkungen erlebt, dann müssen die zugrundeliegenden Beziehungsmuster erst entschlüsselt und zugeordnet werden.
Beispiel: Eine Patientin ist schwer erschüttert, weil ihr Mann sie nach sechs Ehejahren plötzlich, ohne Erklärung und für sie völlig unerwartet, verlassen hat (interpersonale Beziehung). Sie ist schockiert und tief verletzt (Beziehung zu ihren Gefühlen). Ihr Selbstwertgefühl ist „implodiert“ (Beziehung zu ihrem Selbstbild). Phantasien vom nächsten Urlaub und vom Kinderkriegen sind „geplatzt“ (Beziehung zur Zukunft). Ihren Körper nimmt sie als unlebendig war, „wie ein Gefäß ohne Inhalt“ (Beziehung zum Körper).
Viele Beziehungsmuster bestehen aus Gewohnheiten, die die Selbstregulation und den sozialen Umgang regeln, derer wir uns normalerweise nicht bewusst sind, und die es ermöglichen, dass die meisten alltäglichen Verrichtungen beiläufig und wie automatisiert ablaufen, ohne dass wir über jedes Detail jeweils im Einzelnen nachdenken und entscheiden müssten. Dazu zählen auf der zwischenmenschlichen Ebene beispielsweise:
- Begrüßungs- und Verabschiedungsrituale,
- Formen der Anrede und der Benennung sozialer Beziehungen (z.B. „meine Frau/mein Mann“, „mein Kollege/Freund/Nachbar“),
- Automatismen der Nähe- und Distanzregulation (z.B. Abstandhalten in der U-Bahn),
- die Regulation der Rede-Abfolge in einem Gespräch (z.B. den anderen ausreden lassen),
- Signale im Körperausdruck, die z.B. Interesse, Distanz, Anteilnahme oder Betroffenheit kommunizieren
… und viele andere.
Manche dieser automatisierten Muster tragen jedoch zur Aufrechterhaltung von psychischem Leid bei. Diese sind der spezielle Gegenstand psychotherapeutischer Arbeit in der humanistischen Psychotherapie. Leid aufrechterhaltende („pathologische“ bzw. „pathogene“) Muster sind biografisch entstanden durch psychische Traumata und/oder pathogene Beziehungsverstrickungen.
- Psychische Traumata sind einzelne Ereignisse, die die psychischen Verarbeitungsmöglichkeiten eines Menschen, dem es vor dem Trauma im Wesentlichen gut ging, überfordern, und die daher nur durch psychische Notfallmaßnahmen (siehe unten) notdürftig verarbeitet werden können.
Unterschieden werden noch einmal:
– einzelnen versus wiederholte Traumata und
– von Menschen gemachten versus naturbedingte Traumata.
Sie unterscheiden sich stark in ihren Folgen: Mehrfach oder vielfach wiederholte sowie von Menschen gemachte Traumata sind psychisch schädlicher als einzelne und naturbedingte Traumata. - Eine pathogene Beziehungsverstrickung ist ein komplexerer Vorgang, der mit dem Begriff Trauma nicht angemessen beschrieben werden kann. Hier handelt es sich um anhaltende, eventuell sogar die ganze Kindheit und/oder Jugend eines Menschen überdauernde, Leid erzeugende („pathogene“) Beziehungsmuster mit den Eltern oder mit anderen primären Bezugspersonen. Von einer pathogenen Beziehungsverstrickung sprechen wir zum Beispiel dann, wenn Eltern ein Kind als Ausstellungsobjekt eigener Kompetenz und Großartigkeit brauchen, wodurch die Beziehung zu dem heranwachsenden Kind dauerhaft von Erfolgsdruck geprägt ist. Egal ob das Kind die (narzisstischen) Forderungen seiner Eltern aufnimmt und umzusetzen versucht, oder ob es sich beispielsweise durch Leistungsverweigerung dagegen sträubt, in jedem Fall ist es unter dem Einfluss dieser Dynamik aufgewachsen, die sich tief in seine Seele eingegraben hat.
Psychische Traumata und pathogene Beziehungsverstrickungen schädigen die Integrität und verzerren die Struktur der Persönlichkeit. Sie gehen einher mit unverarbeitbaren, überstarken Gefühlen und Impulsen (z.B. zugleich Suche nach Schutz und Vernichtungwünsche, sexuelle Erregung und Ekel, Verschmelzungswünsche und Auflösungsängste), die nicht integriert werden können, und daher abgespalten werden müssen.
Traumata und Verstrickungen führen in Anpassung an eine pathogene Beziehungskonstellation zu subjektiven Wertesystemen und Sinngebungsstrukturen, die im späteren Leben zur Aufrechterhaltung von psychischem Leid beitragen. Als (oft alternativlos) erlernte und unter hoher emotionaler Erregung eingeprägte Erfahrungen dessen, wie „die Welt ist“, wie ihre Primärbeziehungspersonen mit einem umgehen und wie man sich selbst in dieser so erlebten Welt fühlt und identifiziert, werden pathogene Muster zu Aspekten des Selbstbildes, der Identität, also dessen, wie ein Mensch zunächst selbstverständlich glaubt zu sein.
Pathogene Muster bestehen aus
- der emotionalen Verarbeitung von Traumata oder Beziehungsverstrickungen mithilfe von psychischen Notfallmaßnahmen, beispielsweise durch Verdrängung, Verleugnung, Erstarrung, Projektion, Dissoziation oder Identifikation,
- einer bleibenden Sensibilität Vulnerabilität für Erfahrungen oder Konstellationen, die Bezüge zur Ursprungskonstellation aufweisen,
- der als sicher erlebten Erwartung, dass sich die Ursprungskonstellation immer wieder wiederholen wird,
- spezifischen, wie automatisiert auftretenden Reaktionen auf entsprechende, das Muster auslösende Konstellationen.
Beziehungsmuster wirken wie eingefahrene Spurrillen des Erlebens und Verhaltens, in denen ein Mensch seine Umwelt, besonders seine soziale Umwelt, erlebt, und innerhalb derer er auf die entsprechenden Konstellationen reagiert, ohne darüber nachzudenken, weil ihm das quasi selbstverständlich bzw. alternativlos erscheint.
Beispiel: Eine 25-jährige Patientin wurde in ihrer Kindheit und Jugend jahrelang von ihrem Vater oft in seinem täglichen Alkoholrausch brutal geschlagen, unflätig beschimpft und massiv entwertet. In ihrer aktuellen Beziehung zu ihrem Freund ist sie jeweils über längere Zeit hinweg „überaus vorsichtig, um ihn nicht zu provozieren“, obwohl ihr bewusst ist, dass ihr Freund ein sehr liebevoller und zurückhaltender Mensch ist. In gewissen Abständen jedoch und aufgrund von außen betrachtet minimaler Auslöser (beispielsweise wenn ihr Freund es versäumt, auf eine SMS unverzüglich zu antworten) „flippt“ sie „total“ aus, überschwemmt ihren Freund mit einer endlosen Serie von zum Teil absurden Vorwürfen, die sie hinterher selbst übertrieben und unbegründet findet, droht mit Beziehungsabbruch, bricht dann zusammen, beklagt tränenüberströmt ihre Verletztheit „durch ihn“ und ist dann unglaublich froh, dass ihr Freund sie nicht verlässt und weiter zu ihr steht.
Werner Eberwein