Was ist Schematherapie? (Teil 3 von 3)

Kritische Anmerkungen zur Schematherapie

Die Schematherapie tritt mit hohen Ansprüchen an. Behauptet wird unter anderem (vgl. Jacob/Arntz 2014, S. 12), durch Schematherapie könnten

  • eindeutige Zusammenhänge zwischen Schemata/Mustern und dysfunktionalen Verhaltensweisen/Symptomen hergestellt werden,
  • konflikthafte und widersprüchliche Zustände, Motive und Gefühle bei Persönlichkeitsstörungen erklärt werden,
  • psychotherapeutische Interventionen dem jeweils dominanten Modus angepasst werden,
  • Behandlungsblockaden überwunden werden.

Es erscheint mir (Werner Eberwein) fraglich, ob die Schematherapie diese selbstgesteckten Ansprüche auch erfüllen kann. Ich finde es grundsätzlich gut, dass die Schematherapie versucht, die traditionellen Begrenzungen der Verhaltenstherapie auf beobachtbares Verhalten und kognitive Prozesse zu überwinden und Elemente anderere Verfahren aufzunehmen. Ich kann auch gut nachvollziehen, dass viele Patienten und Therapeuten schematherapeutische Vorgehensweisen gegenüber einer klassischen oder kognitiven Verhaltenstherapie bevorzugen. Daher habe ich in den ersten beiden Teilen dieses Beitrages versucht, die Leistungen der Schematherapie zu würdigen.

Hier möchte ich nun eine Reihe von Kritikpunkten an der Schematherapie zumindest stichpunktartig benennen:

  • Die Techniken, die die Schematherapie vor allem für Verhaltenstherapeuten so interessant machen (z.B. Emotionsaktivierung, „Nachbeelterung/Reparenting“, Nutzung der therapeutischen Beziehung, Stuhl-Dialog u.v.a.) werden in den Humanistischen Therapieformen schon seit 60 Jahren angewandt. Es wird in der schematherapeutischen Literatur in der Regel nur vage auf humanistische Quellen verwiesen, in der Regel ohne genau anzugeben, woher diese Techniken stammen, und wer sie wann entwickelt hat.
  • Die Schematherapie entnimmt aus den psychodynamischen und humanistischen Verfahren konzeptuelle und technische Versatzstücke, gliedert diese in ein verhaltenstherapeutisches Paradigma ein und ignoriert dabei die theoretische und philosophische Basis sowie das Menschenbild, das aber die Grundlage dieser Konzepte ist.
  • Die Schematherapie gibt in der Theorie eine Präzision vor, die sie in der Anwendung nicht einhalten kann (z.B. die Zuordnung bestimmter Personen oder symtpomatischer Beziehungsverhaltensweisen zu einem bestimmten Schema und in der Folge zu einer bestimmten Behandlungstechnik).
  • Sie führt durch eine Flut von Benennungen, Begriffen und Konzepten zu einer Verwirrung bei den Therapeuten und den Patienten (wer kann sich schon 18 unterschiedliche Schemata, 5 Schemadomänen und eine im Prinzip unendliche Vielzahl von Modi merken?).
  • Die Theorien zur Entstehung der Schemata sowie die beschreibenden Begriffe entstammen eher der Alltagspsychologie als (wie vorgegeben) aus begründeten Untersuchungen über die biografische Entwicklung und Funktion von Mustern.
  • Schematherapeuten gehen davon aus, dass man die Schemata und Modi eines Patienten in einem Anamnesegespräch zu Beginn der Therapie erfassen könne, und dass sie dem Patienten weitgehend bewusst und Ich-synton seien, und dass der Patient eine Veränderungsmotivation dafür hat – was aber besonders bei Pateinten mit Persönlichkeitsstörungen in der Praxis nur selten der Fall ist.
  • In der Schematherapie geht man davon aus, dass der Mensch als Motivationsziel energie- und spannungsarme Ruhezustände anstrebe, weil Spannungen Unwohlsein auslösten („Nirwana-Motivation“, der Mensch als spannungsflüchtiges Wesen). Das ist auf dem heutigen Stand motivationstheoretischer Forschung nicht haltbar.
  • Der Anspruch, ein neurobiologisch begründetes Konzept zu entwickeln, wird von der Schematherapie nicht eingehalten. Tatsächlich bezieht sie sich vor allem auf Ergebnisse der Verhaltens- und Bindungsforschung sowie der kognitiven Entwicklungspsychologie. Die Bezüge zur Hirnforschung bleiben entweder bloße Schlagworte („limbisches System“, „Amygdala“, „neuronale Netzwerke“ usw.) oder beziehen sich auf veraltete Konzepte („linkshemisphärisch“ versus „rechtshemisphärisch“). Die zur Begründung der Schematherapie herangezogenen neurobiologischen Konzepte haben eher den Charakter metaphorischer Analogien als wissenschaftlichen Begründungs- und Aussagewert.
  • In der Schematherapie werden als „dysfunktional“ etikettierte Anteile in der Therapie auf Basis einer linear-kausalen Denkweise imaginativ zurückgewiesen oder ausgegrenzt, was aus systemischen Sicht psychotherapeutisch nicht sinnvoll sein kann.
  • Die Theorie der Entstehung maladaptiver Schemata geht von einer simplifizierten, mechanischen Traumatheorie aus, die darauf hinausläuft, stets die Eltern des Versagens am Kind zu beschuldigen, was so nicht immer zutrifft und möglicherweise die aktuelle Familiendynamik des Patienten im Nachhinein zusätzlich belastet.
  • Die Schematherapie geht von einer Theorie der Krankheitsentstehung aus, nach der dysfunktionale Schemata linear durch die Nichtbefriedigung kindlicher Bedürfnisse durch die Eltern entstünden. Mehr noch, durch die Nichtbefriedigung bestimmter Bedürfnisse entstünden linear stets  bestimmte maladaptive Schemata. Das ist weder psychotherapeutisch evident noch empirisch belegt.
  • Man geht in der Schematherapie davon aus, dass autosuggestive Sätze in die Hirnstruktur „eingebrannt“ (gräßlicher Begriff, W.E.) seien bzw. werden könnten, was schon aufgrund der lebenslangen Plastizität des Gehirns nicht haltbar ist.
  • Die Schematherapie präsentiert in weiten Teilen neue Begriffe für altbekannte Phänomene (Muster/Introjekt/Charakterstruktur heißt nun: Schema; Zustand/Ego-State/Persönlichkeitsanteil heiß nun: Modus usw.).
  • Der explizit pädagogischer Ansatz der Schematherapie etabliert de facto eine Lehrer-Schüler-Beziehung zwischen Therapeut und Patient, in der der Therapeut sich selbst als sozial kompetent und den Patienten als sozial inkompetent definiert. Der Schematherapeut als Person präsentiert sich selbst als nachzuahmendes Modell gesunden, erwachsenen Verhaltens. Tatsächlich sind Therapeuten nicht mehr und nicht weniger psychisch gesund oder sozial kompetent als andere Menschen.
  • Die Schematherapie basiert auf einem pädagogisch-normativen Modell von Gesundheit, als ob klar unterschieden werden könnte, was psychisch „gesund“ versus „krank“ sei, sowie auf der schein-klaren Unterscheidung zwischen „adaptiven/gesunden/normalen“ und „maladaptiven/kranken/gestörten“ Schemata/Modi.
  • Die Schamatherapie übt Druck in Richtung einer unreflektierten „Normalität“ (was ist das?) aus, wodurch die Behandlung im Effekt zu einer Anpassung an sozial erwünschtes Verhalten bzw. an die Normen des Psychotherapeuten wird.
  • Der Schematherapeut führt den therapeutischen Prozess auf eine pädagogisch-autoritäre Weise und beansprucht die volle Deutungsmacht für sich – eine Haltung, die in der Geschichte der Psychoanalyse zu jahrzehntelangen, heftigen Kontroversen geführt hat, weil sie den Selbstbestimmungs- und Emanzipationsbestrebungen des Patienten zuwiderläuft. Diese wichtigen Debatten sind in der Schematherapie nicht angekommen.
  • In der Schematherapie werden die Patienten auf „schematische“ Weise in Verhaltenstyptypologien einsortiert und mit „schematisierten“ Behandlungsverfahren behandelt, die der individuellen Persönlichkeit des Patienten und seinen komplexen sozialen Interaktionsstrukturen nicht gerecht werden.
  • Schematherapie integriert psychodynamische und humanistische Konzepte, aber sie verbleibt letztlich in einem verhaltenstherapeutischen Paradigma. Die Begrifflichkeit der Schematherapie ist im Kern mechanistisch (z.B. „Verhaltensautomatismen“, „vorprogrammiert“, „eingebrannt“, „Autopilotenmodus“ u.v.a.). Schematherapie betrachtet den Patienten als Automaten (hier scheint das alte Reiz-Reflex-Schema der Verhaltenstherapie durch) und den psychotherapeutischen Prozess als Automatismus, der auf mechanische Weise durch psychoedukative Interventionen seitens des Therapeuten verändert werden könne. (Psychotherapie wird also ausdrücklich nicht als dialogischer, kooperativer, also gemeinsamer und ergebnisoffener Such- und Bewältigungsprozess verstanden wie in der Humanistischen Psychotherapie.)
  • Das Einsortieren des Patienten in die Schema-Kategorien ist nichts anderes als ein diagnostisches Etikettieren. Statt mit einer ICD-Diagnose läuft der Patient dann mit einem Schema-Etikett herum, was ebenfalls die Gefahr beinhaltet, sich mit diesem Etikett zu identifizieren und es damit aufrechtzuerhalten.
  • Das Verständnis von Gesundheit als „Erwachsenenmodus“ ist problematisch, denn „erwachsen“ ist nicht gleich „gesund“: meines Erachtens gibt es ebenso viele psychische leidende Erwachsene und gesunde Kinder, wie es psychisch leidende Kinder und gesunde Erwachsene gibt.
  • Was in der Schematherapie als „empathische Konfrontation“ bezeichnet wird, besteht in Wirklichkeit aus einem Ausüben von Druck auf den Patienten in Richtung normativer Werte und sozialer Angepasstheit: der Patient wird gedrängt, sein Verhalten den Vorgaben des Therapeuten anzupassen. Dieses Vorgehen wird dann (zusätzlich konfusionierend) als „Kooperationsförderung“ bezeichnet.
  • Der Versuch des Therapeuten, der Übertragungs-Gegenübertragungs-Dynamik durch psychodramatische projektive Techniken zu entkommen kann psychodynamisch als agierte Abwehr einer Gegenübertragung verstanden werden: der Therapeut versucht, der Verwicklung mit dem Patienten zu entgehen, indem er der therapeutischen Beziehung ein technisches Modell überstülpt. Damit entkommt er der Beziehung nicht, sondern er dominiert sie und etabliert sich selbst als kontrollierende Macht- und Führungsfigur.
  • Das Verständnis der Schematherapie von primären Konfliktbewältigungsprozessen (Kampf, Flucht, Erstarrung, Unterwerfung) ist aus Tier-Modellen entnommen und berücksichtigt spezifisch menschliche Konfliktbewältigungsmöglichkeiten nicht. Es reduziert den Menschen auf animalische Prozesse der Aggressionsbewältigung. Höhere geistige und soziale Möglichkeiten der Konfliktbewältigung wie zum Beispiel Metareflexion, verbale Klärung oder respektvolle Abgrenzung bleiben unberücksichtigt.
  • Die sogenannten Basisemotionen (Freude, Überraschung, Ärger, Ekel, Trauer, Angst) sind ein überaus grobes Raster, das die komplexen, vielschichtigen und ambivalenten Gefühle beispielsweise in einer Beziehung oder in einem zwischenmenschlichen Konflikt nicht angemessen abbilden kann.
  • Die Orientierung in eine Situation der Kindheit hinein per Affektbrücke führt unweigerlich zu konkreten Situationen, so wie der Patient sie erinnert oder sie imaginiert. Wir wissen jedoch, dass
    a) Erinnerungen stets aus einer subjektiven Perspektive geschehen und insofern biografisch-historisch nicht zuverlässig sein können, und dass
    b) Beziehungsmuster (außer bei schweren Monotraumata) nicht in einzelnen biografischen Situationen entstehen, sondern meistens durch zeitlich überdauernde Beziehungskonstellationen, die aus einer großen Vielfalt verschiedener einzelner Situationen bestehen. Durch die Orientierung auf eine bestimmte Ursachen-Situation entsteht ein simplifizierendes kausal-traumatisches Modell (Ursprungszene => Primärkonflikt => Schema => psychische Störung), das entwicklungspsychologisch so nicht haltbar ist.
  • Die schematherapeutische Theorie der Grundbedürfnisse (nach Bindung und Selbsterhaltung) ignoriert die höheren, spezifisch menschlichen Bedürfnisse nach psychosozialer Weiterentwicklung, kreativer Gestaltung, Wissen, Ressourcenentfaltung usw.
  • Die Methode des „imaginativen Überschreibens“ kann zu einem Dissonanzerleben im Patienten führen: „Ja aber so war das doch nicht, in Wirklichkeit war das doch ganz anders!“. Das kann (besonders bei Patienten mit strukturellen Störungen, für die die Methode ja gerade gedacht ist) zu einer Verwirrung über ihre biografische Vergangenheit führen: „Wie war das denn jetzt eigentlich wirklich?“.
  • Die Dauer und Sitzungsfrequenz sowie ihre Veränderung im Laufe der Therapie folgt den Kontingent-Vorgaben der Krankenkassen (maximal 80 Sitzungen für eine ambulante Einzel-Verhaltenstherapie), aber nicht den Bedürfnissen des Patienten und den Notwendigkeiten einer Psychotherapie bei Persönlichkeitsstörungen (die m.E. einen deutlich größeren Sitzungsumfang erfordern würde).

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Integrative Ansätze der Psychotherapie auf Basis eines humanistischen Menschenbildes vermittle ich in meinen Fortbildungen.

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Literatur (Auswahl)

  • Jacob, G. & Arntz, A.: Schematherapie (Fortschritte der Psychotherapie). Hogrefe 2013
  • Jacob, G. & Seebauer, L.: Schematherapie. Fallvideos zu Persönlichkeitsstörungen und Suizidalität. Weinheim: Beltz 2013
  • Roediger, E.: Einführung in die Schematherapie. Workshop im Rahmen des Kongresses Psychodynamische Psychotherapie – Wandel und Bewegung, 8.-10.Mai 2015 in Berlin, 2 CDs.
  • Roediger, E.: Fortschritte der Schematherapie. Konzepte und Anwendungen. Hogrefe 2010
  • Roediger, E.: Praxis der Schematherapie. Lehrbuch zu Grundlagen, Modell und Anwendung. München: Schattauer 2011
  • Young, E.: Schematherapie. Ein praxisorientiertes Handbuch. Junfermann 2008

Werner Eberwein