Was ist Scham?

Scham ist ein sehr schmerzhaftes Gefühl – oft leise, aber tiefgreifend. Sie tritt auf, wenn wir uns in unserem Wert, unserer Zugehörigkeit oder unserer Würde verletzt fühlen. Es ist, als würde plötzlich ein grelles Licht auf einen inneren Teil von uns scheinen, den wir eigentlich verbergen wollten – und wir fühlen uns dabei bloßgestellt, falsch oder nicht richtig.

Scham ist ein zutiefst soziales Gefühl. Sie entsteht nicht im luftleeren Raum, sondern im Kontakt – oder in der Vorstellung von Kontakt. Es geht dabei immer um die Beziehung zum Anderen:
„Wie sehe ich in den Augen der anderen aus?“
„Bin ich so, wie ich bin, noch liebenswert?“
„Gehöre ich noch dazu?“

In der Therapie sehen wir Scham oft als eine Art inneren Wächter, der uns schützen will – vor Ablehnung, vor Ausschluss, vor Schmerz. Wenn wir uns schämen, wollen wir uns verstecken oder im Boden versinken. Das ist ein uralter Schutzmechanismus, der uns früher geholfen hat, in der Gruppe nicht aufzufallen, um nicht ausgestoßen zu werden.

Aber:
Dieser Wächter ist manchmal zu streng.
Er meldet sich nicht nur, wenn wir wirklich eine Grenze überschritten haben – sondern auch, wenn wir einfach nur menschlich, verletzlich oder anders sind. Dann kann Scham lähmend wirken. Sie hält uns davon ab, zu zeigen, wer wir sind, was wir brauchen oder was uns weh tut.

In der therapeutischen Arbeit versuchen wir, mit dieser Scham in Kontakt zu kommen – vorsichtig, ohne zu entblößen. Wir versuchen zu verstehen:

  • Woher kommt sie?
  • Wofür hat sie gedient?
  • Und wie können wir sie ein Stück weit wandeln – in Selbstmitgefühl, Würde und Kontaktfähigkeit?

Ein zentraler Schritt dabei ist: Die Erfahrung, mit der eigenen Scham gesehen und trotzdem angenommen zu werden.
Wenn das gelingt – im geschützten Raum der Therapie –, kann etwas sehr Heilsames geschehen:
Die Scham verliert ihre Macht, und ein tieferes Gefühl von Selbstakzeptanz und menschlicher Verbundenheit wird möglich.

Scham ist ein komplexes Gefühl, das entsteht, wenn wir glauben, gegen innere oder gesellschaftliche Normen verstoßen zu haben und uns dadurch entwertet, bloßgestellt oder als unzulänglich erleben.

Wesentliche Merkmale von Scham:

  • Soziale Emotion: Scham entsteht im Kontakt mit anderen – real oder innerlich vorgestellt. Es geht darum, wie wir von anderen gesehen (oder gesehen werden könnten).
  • Selbstbewertung: Scham betrifft nicht nur ein Verhalten („Ich habe etwas falsch gemacht“), sondern oft das ganze Selbst („Mit mir stimmt etwas nicht“).
  • Körperliche Reaktionen: Typisch sind Erröten, Wegschauen, ein Sinken in sich selbst, das Bedürfnis, sich zu verstecken oder zu verschwinden.
  • Unterschied zur Schuld: Während Schuld sich auf eine konkrete Handlung bezieht („Ich habe etwas falsch gemacht“), bezieht sich Scham oft auf das eigene Wesen („Ich bin falsch“).

Beispiele für Schamsituationen:

  • Ein Kind wird ausgelacht, weil es etwas nicht weiß.
  • Ein Erwachsener spricht über ein intimes Thema und fühlt sich danach bloßgestellt.
  • Jemand wird beim Lügen oder Versagen ertappt.

Funktion von Scham:

  • Soziale Anpassung: Scham dient evolutionär dazu, soziale Regeln zu lernen und Zugehörigkeit zu sichern.
  • Grenzen spüren: Sie zeigt an, wenn etwas unsere Integrität, Intimität oder Zugehörigkeit bedroht.
  • Rückzug oder Korrektur: Sie motiviert, sich zurückzuziehen oder Verhalten zu ändern, um soziale Harmonie wiederherzustellen.

Pathologische Scham:

Wenn Scham übermäßig stark, dauerhaft oder unberechtigt auftritt, kann sie zu Problemen führen:

  • Selbstwertprobleme
  • Depressionen
  • soziale Ängste
  • Rückzug und Isolation

Umgang mit Scham:

  • Annehmen und benennen: Scham verliert an Macht, wenn sie bewusst wahrgenommen und geteilt werden kann.
  • Empathie: Verständnis von anderen lindert Scham.
  • Selbstmitgefühl: Freundlich mit sich selbst zu sein, hilft, Scham zu transformieren.

Werner Eberwein