Was ist Resonanz?

„Resonanz ist das Versprechen der Moderne – Entfremdung ist ihre Realität.“
Hartmut Rosa

Resonanz

In seinem aktuellen Buch „Resonanz – eine Soziologie der Weltbeziehung“ (Suhrkamp Verlag Berlin 2016) beschreibt der Jenaer Professor für allgemeine und theoretische Soziologe Hartmut Rosa Resonanz und Entfremdung als allgemeine Formen der Weltbeziehung.

Den Begriff Resonanz verwendet Rosa als physikalische Metapher zur Beschreibung einer spezifischen Art und Weise, wie ein Mensch mit der Welt in Beziehung steht bzw. sich mit ihr in Beziehung setzt. Resonanz (von lateinisch resonare: wiederhallen) bezeichnet in der Physik die Beziehung zwischen zwei schwingungsfähigen Körpern, wobei der eine den anderen zum Mitschwingen in dessen Eigenfrequenz anregt. Resonanz bedeutet nicht unbedingt das Mitschwingen auf derselben Frequenz („Echo“), sondern das Anregen der Mitschwingung des anderen Körpers auf dessen eigener Frequenz, also quasi ein „Antworten“. Resonanz in diesem Sinne darf also nicht mit einer einfachen Synchronschwingung, also einer identischen Resonanz gleichgesetzt werden. Vielmehr geht es um Antworten durch Mit-Tönen in der Eigenschwingung des jeweils anderen, um ein wechselseitiges Einander-Antworten, um Dialog und Begegnung. Resonanz kann zur wechselseitigen Verstärkung der Schwingung führen, wie wenn man beispielsweise eine schwingende Stimmgabel auf den Deckel eines Klaviers stellt.

Diesen physikalischen Prozess verwendet Rosa als Sinnbild für die Art und Weise, wie ein Mensch mit der Welt und mit anderen Menschen in Beziehung tritt, wobei durch dieses In-Beziehung-Treten der Mensch als Subjekt biografisch überhaupt erst entsteht, ebenso wie die Vorstellungen, die er sich von der Welt macht. Der Mensch und seine Lebenswelt berühren und beeinflussen einander wechselseitig ebenso wie Menschen sich wechselseitig berühren und einander beeinflussen.

Nach Rosa gibt es Resonanzprozesse sowohl zwischen Menschen, als auch zwischen Psyche und Körper, Geist und Leib, als auch zwischen dem Menschen und seiner sozialen, ökologischen, ästhetischen usw. Umwelt. Resonanz in diesem Sinne bedeutet

  • „nach innen“ das Grundgefühl eines Menschen, der mit sich selbst authentisch und in möglichst vielen Dimensionen seiner Persönlichkeit mit sich selbst im Einklang steht,
  • „nach außen“ eine Beziehung mehrerer Menschen miteinander, die miteinander im Gleichklang sind.

Rosa versteht Resonanz als nichtverdinglichende Existenzweise. Seinen Platz in der Welt zu finden bedeutet vor allem das Herstellen lebendiger Beziehungen. Resonanz ist eine liebevolle, aktive Ausrichtung auf die Welt. Resonanz bedeutet,

  • dass ein Mensch offen genug für (nahe, intime) Beziehungen, andererseits aber auch
  • abgegrenzt genug ist, um den Bezug zu sich selbst nicht zu verlieren.

Obwohl Resonanz mit Gefühlen einhergeht, bezeichnet der Begriff Resonanz keinen Gefühlszustand, sondern eine Art und Weise in Beziehung zu sein. Resonanz kann sowohl mit „positiven“ als auch mit „negativen“ Emotionen einhergehen, letzteres beispielsweise, wenn jemand einen traurigen Film sieht oder einen traurigen Roman liest, der ihn vielleicht zum Weinen bringt, wodurch er sich aber tief berührt und bewegt fühlt. Dabei wird keineswegs die Trauer selbst als etwas Positives erlebt, vielmehr ist es die Resonanzwirkung, also dass etwas im Inneren berührt wird, was man als „bewegend“ und in diesem Sinne als „wesentlich“, als ein Resonanzerleben empfindet.

Resonanz steht in engem Zusammenhang mit persönlichen Werten, also mit dem, was einem Menschen wichtig ist, was ihn etwas angeht. Rosa unterscheidet zwischen

  • „Werten“ im Sinne von existenziellem Berührtsein und
  • „Wert“ im Sinne einer Leistung oder eines Ressourcenvorteils in der spätmodernen Konkurrenzgesellschaft.

Resonanz im Sinne von Rosa entsteht nur in den Bereichen, in denen wir uns in unseren existenziellen Werten angesprochen und ausgedrückt fühlen, nicht aber dort, wo es uns um etwas „wertvolles“ im Sinne von Leistungsfähigkeit oder um einen Warenwert in Form von Geld geht.

  • Wenn eine Situation oder eine Begegnung mit starken eigenen Werten übereinstimmt, sind wir „eingestimmt“.
  • Wenn die Situation oder die Begegnung starken eigenen Werten widerspricht, sind wir „verstimmt“.

Werte-bezogenes Berührtwerden und Werte-bezogen etwas bewirken können (nicht aber wert-bezogen im Sinne von Bewertung, von Leistung oder von Warenwert).

Resonanz entsteht aus dem menschliche Grundbedürfnis und der menschlichen Grundfähigkeit mit der Welt, mit anderen Menschen und mit sich selbst in wesentlicher Interaktion, in Dialog, in einem wechselseitigen Verhältnis von Anrede und Antwort zu stehen bzw. sich aktiv in ein solches Verhältnis zu setzen.

Vor diesem Hintergrund können die von Maslow so genannten höheren menschlichen Bedürfnisse als Resonanzbegehren verstanden werden: Über die biologischen Grundbedürfnisse (nach Nahrung, Schutz, Wärme, Luft zum Atmen, Sexualität im biologischen Sinne usw.) hinaus richtet sich das Begehren des Menschen auf Resonanzbezüge zu seiner Umwelt und zu anderen Menschen.

Rosas Resonanzbegriff geht über die physikalischen Aspekte der Resonanzmetapher hinaus: Die Antworten des Gegenübers sind weder vorauszusehen noch vorherzubestimmen, weder zu manipulieren noch zu dominieren, nicht zu beherrschen und nicht zu erzwingen. Resonanzantworten sind eigenständige, eigen-willige, durch die Subjektivität des anderen hindurchgegangene Antworten einer anderen Person, die mit ihrer jeweils eigenen Stimme spricht. Das kann in einer physikalischen Metapher nicht abgebildet werden.

Daraus ergibt sich, dass die Antwort immer auch ausbleiben kann. Sie kann, aus welchen Gründen auch immer, verweigert oder vorenthalten werden. Resonanz kann misslingen – Buber nennt das „Vergegnung“. Die andere Person als resonierendes Subjekt ist nicht kontrollierbar oder beherrschbar. Der Versuch, eine andere Person durch Macht, Manipulation oder Psychotricks zu einem existenziellen Antworten zu bringen oder ihre Antworten zu kontrollieren oder zu manipulieren würde die Resonanzbeziehung behindern, verhindern oder zerstören. Eine dialogische Antwortbeziehung ist eine Begegnung mit dem unhintergehbar Fremden, das sich immer auch der Begegnung entziehen oder widersprechen kann. Der Andere ist im Sinne von Rosa „unverfügbar“ – gerade das macht den Kern einer Resonanzbeziehung aus.

  • Auf der zwischenmenschlichen Ebene wird Resonanz realisiert durch Empathie, intersubjektive Begegnung und Dialog.
  •  Im Kontakt des Menschen zur Welt wird Resonanz realisiert durch Berührtwerden und Etwas-bewegen-Können („Selbstwirksamkeitserwartung“).

Subjektivität, also die Beziehung eines Menschen zu sich selbst entsteht biografisch aus Intersubjektivität und kann nur so entstehen.

„Der Mensch wird am Du zum Ich.“
Martin Buber

Der Mensch wird Subjekt nur in einem Resonanzfeld. Das Vorenthalten oder der Entzug intersubjektive Resonanz ist besonders in der Kindheit traumatisch. In der Strafjustiz wird es als Strafverschärfung eingesetzt (Einzelhaft) und in Form totaler sozialer Ächtung kann es sogar zum Tode des Geächteten führen (Voodoo-Tod). Resonanzverweigerung ist eine besonders perfide, weil scheinbar unschuldige Form des Mobbing.

Wenn zwei Menschen in Resonanz miteinander sind, sind sie sich sympathisch. Wenn das Mitschwingen untereinander fehlt, wird das als Antipathie erlebt. Resonierende sind miteinander „auf einer Wellenlänge“. Der Zustand des Verliebtseins kann als gesteigerte wechselseitige Resonanz-Sensibilität verstanden werden: Verliebte können sich an einander nicht sattsehen und sattfühlen, sie „baden im Lächeln des anderen“.

Resonanz manifestiert sich in Stimmungen, die subjektiv empfunden werden, die aber auch als „Stimmung“ eines Raumes, einer Landschaft, einer Witterung oder eines Musikstücks erlebt werden können.

Im Resonanzmodus, also wenn sie sich eingelassen haben, einander nah und offen für einander sind, sind Menschen besonders verletzbar.

„Kinder sind genuine Resonanzwesen.“
Hartmut Rosa

Auch das Gehirn kann als Resonanzorgan verstanden werden. So weist die Neurobiologin Tania Singer darauf hin, dass die Funktionsweise des Gehirns eines Menschen nur durch die Untersuchungen mehrerer, interagieren der Gehirne angemessen entschlüsselt werden kann.

Der „vibrierende Draht zur Welt“ realisiert sich auf der Gefühlsebene durch

  • Affekte: wie die Welt bzw. andere Menschen empfunden werden und
  • Emotionen: wie ein Mensch gefühlsmäßig aus sich heraus und auf andere Menschen bzw. die Welt zugeht.

Weil in dialogischen Antwort-Beziehungen auch Widerspruch, Rückzug oder die Antwort von eigenen Standpunkten aus möglich ist, ist das Ziel von Resonanzdiskursen die Verständigung, nicht aber ein strategisches Sich-Durchsetzen.

In seinem Buch „Die Kunst des Liebens“ beschreibt Erich Fromm die Liebe in ihren verschiedenen Varianten als Chance der Resonanz auch innerhalb entfremdeter Lebensbedingungen.

Resonanz spielt sich innerhalb von Resonanzräumen statt, vor allem in Partnerschaft, Familie, Freundschaft, Politik, Ästhetik, Arbeit, Schule, Wohnen, Sport, Religion, Natur, Kunst, Geschichte usw. In der spätmodernen, neoliberalen Konkurrenz- und Verwertungsgesellschaft sind Resonanzmöglichkeiten und -spielräume ständig bedroht, werden eingeschränkt oder – schlimmer noch – selbst der Logik sich immer weiter beschleunigender Konkurrenz- und Leistungsverhältnisse unterworfen.

Die Spitze der Absurdität der spätmodernen Entfremdung besteht darin, dass Resonanzverhältnisse selbst wie Waren als käufliche Dienstleistungen angeboten, von Arbeitgebern und Institutionen bürokratisch gefordert und verwaltet werden, wie beispielsweise durch ein immer weiter zunehmendes Angebot vom bezahlten Optimierungsleistungen für Körper und Seele, Kulturangebote, durch die zunehmende Virtualisierung von Kontakten und durch immer detaillierter werdende bürokratische Erfassung, Kontrolle und Verwaltung auch von professionellen Resonanzbeziehungen.

„Resonanz ist Bezogenheit.“
Hartmut Rosa

Entfremdung

In einem Zustand der Resonanz sind wir mit uns selbst, unseren Gefühlen, unserem Körper, anderen Menschen und der Welt in Einklang. Wenn Resonanz fehlt, fühlen wir uns hohl und leer. Resonanz führt zu einem Gefühl und Zustand des Getragenseins und der Geborgenheit in der Welt. Wenn die Welt oder das eigene selbst als nicht-respondent (nicht antwortend) erlebt wird, fühlt ein Mensch sich gelähmt und blockiert.

Der philosophische Begriff der Entfremdung findet sich bereits bei Rousseau. Er wurde detailliert entwickelt von Hegel, vom frühen Marx auf eine materialistische Basis gestellt und von Georg Lucacs, und der Frankfurter Schule (Adorno, Horkheimer, Marcuse, Fromm u.a.) und der existenzialistischen Philosophie und Psychologie weitergeführt. Allerdings blieb der Begriff relativ unscharf, auch deshalb, weil unklar war, wovon genau der entfremdete Mensch eigentlich entfremdet ist, bzw. sein soll. In der Regel war dann relativ vage die Rede von „der menschlichen Natur“ oder ähnlichem als Gegenpol zu Entfremdung, ohne genau benennen zu können, worin diese menschliche Natur konkret bestehen sollte bzw. wie die historischen Wandlungen und kulturellen Variationen menschlicher Lebens- und Beziehungsweisen vor dem Hintergrund einer allgemeinen „menschlichen Natur“ erklärbar sein könnten. (Rosa entwickelt daher als Gegenpol zu „Entfremdung“ den Begriff „Resonanz“.)

Marx entwarf in seinen Frühschriften, den Pariser Manuskripten, ein Konzept der entfremdeten Arbeit, in der der Arbeiter in der Arbeit außer sich ist, während er nur in seiner Freizeit bei sich ist. Menschliche Beziehungen erscheinen nach Marx verdinglicht, während die Bewegungen des Kapitals zum Subjekt der Geschichte werden. Wir sehen dies heute in der globalisierten Welt an den Auswirkungen gigantischer transnationaler Finanzströme, wenn im Sekundentakt zweistellige Milliardensummen über die Welt transferiert, bei einem Mangel an Gewinnerwartung abgezogen und blitzschnell dort reinvestiert werden, wo höherer Gewinn erwartet wird.

Entfremdung geht einher mit einem Gefühl des Ausgeliefertseins an die Welt und mit einem Mangel an Erwartung, etwas in der Welt bewirken zu können. Ein Mensch, der sich von anderen Menschen oder seiner Lebensumwelt entfremdet fühlt, kann die Welt und die Menschen nicht erreichen, er kann bei oder in ihnen und in der Welt nichts bewirken. Es fehlt ihm das, was Bandura die Selbstwirksamkeitserwartung nannte: Die Welt widersetzt sich ihm, sie berührt ihn nicht, sondern sie verletzt ihn. Der Mensch schwingt nicht mit der Welt, sondern versucht, sich durch Selbstblockierung, Dämpfung und Abschottung vor ihr und vor sich selbst zu schützen. Es entsteht das, was Rosa ein repulsives (d.h. zurückstoßendes, abstoßendes) Weltverhältnis, eine „stumme“ Weltbeziehung nennt.

Rahel Jaeggi bezeichnet Entfremdung als „Beziehung der Beziehungslosigkeit“. Ein Mensch, der sich entfremdet fühlt, kann zwar Beziehungen „haben“, sie bedeuten ihm aber nichts, sind ihm gleichgültig oder sogar zuwider, selbst wenn er überaus erfolgreich sein kann. Seine Beziehungen stehen ihm „stumm“ oder bedrohlich gegenüber. Eine solche beziehungslose Beziehung kann auch gegenüber dem eigenen Selbst und der eigenen Person bestehen.

Entfremdung ist eine Beziehung, in der die Welt und das Subjekt einander gleichgültig (indifferent) oder feindlich (repulsiv) gegenüberstehen. Der Bezug zur Welt ist lediglich äußerlich, unverbunden, stumm und Antwort-los.

Entfremdung kann – wieder in einer physikalischen Metapher gesprochen – als Prozess der „Dämpfung der Eigenschwingungen“ eines resonanzfähigen Körpers verstanden werden, analog etwa einer Stimmgabel, die in Watte gepackt oder mit den Fingern festgehalten wird. Im Zustand der gedämpften bzw. blockierten Resonanz steht der Mensch sich selbst und der Welt starr und stumm gegenüber, auch dann, wenn er sich körperlich bewegt und Worte ausspricht.

Entfremdung hängt eng zusammen mit Sinnverlust, ist mit diesem aber nicht identisch. Sinnverlust ist eine Begleiterscheinung bzw. ein Aspekt von Entfremdung, nicht aber deren Ursache oder Voraussetzung.

Die spätmoderne Entfremdung geht mit einer Verdinglichung der Dinge (als Waren) der sozialen Bezüge (als Konkurrenz) und des eigenen Selbst (als bewertetes und manipulierbares Objekt) einher.

Das Geld, also die Verwandlung immer weiterer Elemente der Lebenswelt in käufliche und verkäufliche Waren führt als „fürchterlicher Nivellierer“ zu emotionaler Bedeutungslosigkeit. Wenn andere Menschen und die Welt (die Natur, die eigene Wohnung, die urbane Umgebung, kulturelle Werke usw.) lediglich als Besitzobjekte, Leistungsbeweise oder Mittel zum Zweck betrachtet werden, dann sieht und behandelt der Mensch sich selbst, seine Seele, seinen Körper, andere Menschen und die Welt um ihn herum als bloße Dinge. Er erlebt sich selbst und die Welt ohne wesentlich berührt zu sein, ohne existenziellen Bezug, also verdinglicht, entfremdet.

Während im Mittelalter der Platz eines Menschen in der Welt im Wesentlichen vorgegeben, seine Lebensgeschichte mit der Geburt vorgezeichnet war, muss in der Spätmoderne der Platz eines Menschen in der Welt von ihm immerfort aufs Neue konkurrenzhaft ermittelt und verteidigt werden.

Die Moderne (beginnend mit der Aufklärung und der industrielle Revolution, heute in Gestalt von Globalisierung und Digitalisierung) führte einerseits zu einer Befreiung aus der mittelalterlichen, religiös verbrämten geistigen Verblödung und der von ständiger Furcht vor materiellen Gefahren geprägten Mangelwirtschaft. Andererseits führt sie durch eine fortschreitende Konkurrenz und beschleunigte Verwertung aller Elemente unserer Lebenswelt zum gnadenlosen Raubbau an den materiellen, geistigen, emotionalen, körperlichen und ökologischen Ressourcen bis hin zur Gefahr einer kompletten Zerstörung der Voraussetzungen menschlichen Lebens auf der Erde.

Paradigmatisch für die entfremdete Existenzweise des spätmodernen Menschen sind die Erzählungen von Franz Kafka, z.B. „Das Schloss“ und „Der Prozess“. Seine Hauptfiguren finden ihren Platz in der Welt nicht, sie erleben sich als in eine unverstehbare und unkontrollierbaren Welt hinein ausgesetzt und an diese ausgeliefert.

In der neoliberalen Spätmoderne besteht die Gefahr des „Verstummens“, also der Verdinglichung der Weltbeziehung in Beziehungs- und Sinnlosigkeit. Dies ist im Rahmen der Logik der Profitmaximierung durch Effizienzsteigerung der Preis für die Vergrößerung der Verfügbarkeit und Beherrschung der Welt (der „Weltreichweite“).

Diese Entfremdungsbezüge werden nicht nur mit Gewalt, Repression und sozialem Druck und Überwachung hergestellt, sondern mehr und mehr von den Subjekten freiwillig, in „formaler Freiheit“ realisiert. Eltern sind „freiwillig“ bemüht, ihren Kindern die besten Chancen im sozialen Konkurrenzkampf zu sichern. Eine endlose Phalanx von Selbstoptimierungsmöglichkeiten wird „freiwillig“ und eigenmotiviert genutzt um die eigenen Erfolgsaussichten im Beruf, in der Sexualität und im Feld sozialer Bezüge zu steigern.

Der Kontrollwahn und der Zwang zur Effizienzsteigerung führt dazu, dass immer weitere Bereiche der Lebenswelt des Menschen durch Berechnung und Berechenbarkeit kontrolliert werden, statt reale Kontakte wirklich zu fühlen. Entfremdung ist ein globaler sozialer und institutioneller Prozess, in dem durch Rationalisierung, Bürokratisierung und Verwertung die Seele und der Körper des Menschen zugänglich, verfügbar und beherrschbar gemacht werden. Ein drastisches Beispiel dafür ist der wuchernde Zwang zur Qualitätssicherung und die ausufernde Dokumentationspflicht, unter der Arbeitnehmer, Wissenschaftler, Menschen in Sozialberufen, aber auch Hartz-IV-Empfänger in zunehmendem Maße ächzen. Qualitätssicherung und Dokumentationspflicht sind Versuche, Resonanz verwaltbar, messbar, herstellbar und damit verfügbar zu machen, was notwendig in die bürokratische Hölle extremer Entfremdung führt.

In seiner Entfremdung, also Wurzellosigkeit in sich selbst und auch in seinen sozialen und Welt-Beziehungen ist der spätmoderne Mensch „obdachlos“, also nirgendwo zu Hause. Der spätmoderne Mensch ist sowohl räumlich als auch geistig, emotional und beziehungsmäßig tendenziell heimatlos geworden und träumt davon, seinen Platz in der Welt zu finden. Ein wirkliches Gefühl und ein wirklicher Zustand von Heimat und Zuhausesein könnte jedoch nur entstehen

  • im Privaten durch resonante Beziehungen,
  • im Gesellschaftlichen durch demokratische Aneignung.

Durch die neoliberale Steigerungslogik wird das tendenziell jedoch immer schwerer gemacht.

Im spätmodernen Kapitalismus wird auch der Körper verdinglicht auf grenzenlos beschleunigte Steigerung seiner Attraktivität und Leistungsfähigkeit hin. Auch das geschieht nicht mehr wie noch im Mittelalter oder im Frühkapitalismus primär durch äußeren Zwang, sondern zunehmend durch die Eigenaktivität der Menschen selbst. Wie Byung-Chul Han ausgearbeitet hat, ist äußerer Zwang heute nicht mehr erforderlich, denn die Macht wirkt durch den eigenen Willen der Subjekte. Die Menschen sind bereit, ja immer höher motiviert, alles nur Erdenkliche zu tun, um leistungsfähiger, effizienter und attraktiver zu werden. Dies kann entweder durch Eigenaktivität (Fitnessstudio, Personalcoaching usw.: „Tu was!“) oder von außen (Medikamente, Beratung, Massage, Schönheitsoperationen usw.: „Nimm was!“) geschehen.

Die subjektive Selbstachtung des Menschen ist abhängig von sozialer Anerkennung (Axel Honneth). Anerkennung bedeutet nicht nur soziale Wertschätzung z.B. in Form von Lob, Medaillen, Zertifikaten oder Lohnerhöhungen, sondern in einem weiteren Sinne das respektvolle Akzeptieren des anderen Menschen, das ihm das Gefühl gibt, als Person gesehen und in seinem Wesen angenommen zu werden. Spätmoderne Verdinglichungsprozesse gefährden das Gefühl des Anerkanntseins. Durch zunehmenden Leistungsdruck, Verknappung von Regenerationsressourcen (von Pausen, Ruhe, Erholung, Muße), durch Konkurrenz, bürokratische Kontrolle, ständige Erreichbarkeit und den Zwang zur freiwilligen Steigerung der Leistungsfähigkeit fühlen die Menschen sich in eine mehr und mehr heißlaufende Maschine eingespannt, sich als Teil einer Maschine, ja sich selbst als Maschine, also als benutzbares und verwertbares Ding. Der entfremdete Mensch fühlt sich als Maschine zur Erfüllung von Erwartungen seiner Umwelt.

Unter der „dynamischen Stabilisierung des Selbst“ versteht Rosa, dass wir immer schneller laufen müssen, um unseren Platz in der Welt zu halten. Bewegung und Fortentwicklung ist nicht mehr Freude und Vergnügen, sondern zwingend erforderlich, um fit in der Konkurrenz um Attraktivität und Leistungsfähigkeit zu bleiben. Wir laufen pausenlos immer neuen Moden, Sortware-Updates und aktuellen Produktionszyklen hinterher.

Selbst das Zeiterleben wird verdinglicht durch Uhren, Wecker, To-Do-Listen und Erinnerungs-Apps. Es ist unmöglich, in Resonanz zu sein und zugleich an die nächsten Erfordernisse zu denken, sich zu wünschen, woanders oder mit jemandem anders zusammen zu sein. Resonanz heißt sich einlassen auf das Hier und Jetzt.

Konkurrenz und Resonanz sind inkompatibel. Begegnen bedeutet gerade nicht Besitzen oder Besiegen. Zwar gehen dialogische Begegnungen auch mit Konflikten einher, in Diskursen können sich Kontroversen entfalten, aber die Resonanz darin entstammt nicht dem Konflikt, sondern der Begegnung in Berührung der Subjekte.

In der global vernetzten, digitalisierten Welt sind Menschen und Ereignisse einerseits umfassend erreichbar und verfügbar, andererseits scheinen Kontakte und Geschehnisse immer unüberschaubarer und unkontrollierbarer zu werden. Wie Byung-Chul Han herausgearbeitet hat, ist die Psychokrise der späten Moderne eine Erschöpfungskrise im Steigerungszwang.

Kreativität und Selbstverwirklichung, Sensibilität, Empathie und Kooperationsfähigkeit werden von Arbeitnehmern als verwertbare Produktivkraft erwartet und von Arbeitgebern gefordert und gefördert. Spätmoderne Formen von Projekt- und Teamarbeit erfordern resonanzfähige Persönlichkeiten.

Die Systemlogik der Profitausweitung durch aggressive Okkupation immer weiterer Bereiche der Lebenswelt setzt sich wie selbstverständlich über demokratische Verständigungsdiskurse hinweg. Die Macht ignoriert selbst den offensichtlichen Willen der Mehrheit:

  • Niemand außer dem „einen Prozent“ der Vielbesitzenden kann wollen, dass die Eigentumsschere immer weiter auseinanderdriftet.
  • Niemand außer diesen kann wollen, dass Wohnungen in attraktiven Bezirken in Großstädten unbezahlbar werden.
  • Niemand außer … (siehe oben) kann wollen, dass der soziale Status der Eltern bestimmt, ob Kinder Studieren oder nicht.
  • Der Irak-Krieg basierte auf offensichtlichen und leicht zu durchschauenden Lügen. Wir erinnern uns noch an die Fotos von Aluminiumröhren, die der UN vom damaligen US-Verteidigungsminister Chaney als Beweise für Massenvernichtungswaffen im Irak präsentiert wurden.
  • Kein verständiger Mensch mit Ausnahme der Profiteure kann zunehmende Waffenexporte Deutschlands in Krisengebiete, oft an mehrere beteiligte Parteien gleichzeitig, gut finden.

Resonanzprozesse werden sozial und institutionell unterdrückt durch Anleitung und Zurichtung zur Affektkontrolle, Handlungsplanung und Disziplin zum Beispiel in pädagogischen Einrichtungen (Kindergarten, Schule, Universität), Heil- oder Straf-Einrichtungen (Krankenhaus, Gefängnis). Wie von Elias und Foucault herausgearbeitet wurde, führt dies zu einer tendenziellen Immunisierung gegen eigene oder fremde Regungen, was für die Funktionsfähigkeit eines Militärs, Fließbandarbeiters, Chirurgen oder Juristen unter entfremdeten Bedingungen unabdingbar ist.

Inbegriffe der spätmodernen Entfremdung sind

  • die Börse in der gigantische Werte unabhängig von ihrem relationalen oder ökologischen Inhalt gehandelt werden und
  • der Drohnenkrieg, in dem das Töten von Menschen aus der Ferne mit einem Joystick wie in einem Computerspiel geschieht.

Der Makro- und mikroökonomische Beschleunigungsdruck ist ein Ergebnis des Strebens nach Profitmaximierung durch Effizienzsteigerung und Innovationszwang. Er ist einer destruktiven Eskalationslogik unterworfen: Egal wie erfolgreich ein Unternehmen, ein Verband, ein Student, ein Arbeitnehmer dieses Jahr war – nächstes Jahr muss er/es noch erfolgreicher werden.

Wer sich dem Beschleunigungszwang zu widersetzen versucht, dem droht der ökonomische und in der Folge politische Zusammenbruch. Dies kann zurzeit in Griechenland beobachtet werden, wo eine radikal linke Partei an die Macht kam, die dann aber dennoch nicht anderes konnte, als sich den über die EU-Organe vermittelten Druck des Finanzkapitals zu unterwerfen.

Der Totalitarismus (Faschismus, Stalinismus, Islamismus usw.) kann als Höhepunkt der Entfremdung betrachtet werden. Er besteht aus einer Simulation der Verschmelzung mit dem Volksganzen in Gestalt des Führers bzw. eine Ideologie bei Auslöschung bzw. Selbstaufgabe des Menschen (Kriege, Gefangenenlager, Selbstmordattentäter).

Terror-Organisationen wie Al Kaida und der sogenannte Islamische Staat können als verwirrter, verirrter und grenzenlos brutaler Protest gegen den spätkapitalistischen Wachstumswahn durch Einfrieren jeglicher politischer, kultureller und ökonomischer Entwicklung auf die Buchstaben des Koran bei Zuspitzung der Entfremdung durch Abtötung jeder Lebendigkeit verstanden werden.

Das Verhältnis von Resonanz und Entfremdung

Rosa geht nicht davon aus, dass Resonanz und Entfremdung einander blockartig und einander ausschließend gegenüberstehen oder einander einfach widersprechen. Vielmehr sieht er beide in einem dialektischen Wechsel-, Abhängigkeits- und Bewegungsverhältnis. Die selbe Tätigkeit oder dieselbe Beziehung hat immer Aspekte sowohl von Resonanz als auch von Entfremdung. Ein Theaterstück beispielsweise kann mit viel Herzblut inszeniert und gespielt sein und die Zuschauer zutiefst berühren, gleichzeitig findet es in einer Konkurrenzlandschaft zwischen den Theatern eines Ortes, in einem Bewertungszusammenhang durch Theaterkritiker und als bezahltes Dienstleistungsangebot in der kapitalistischen Kulturlandschaft statt.

Rosa stellt Strategien der Reichweitenvergrößerung (Suche nach Erfolg) und Strategien der Resonanz (Suche nach Selbstverwirklichung) einander gegenüber und arbeitet deren Dialektik heraus.

Das Streben nach Tiefe und Erleben (Resonanz) wird zum Motivator für das Streben nach Erfolg, Geld und Einfluss (Reichweitenvergrößerung). Wer mehr verdient, kann sich ein wohnlicheres Zuhause, ein Häuschen mit Garten am See, ein volldigitalisiertes Auto, Fernreisen zu romantischen Orten, Privatschulen für die Kinder und persönliches psychisches und sportliches Coaching leisten.

In der Spätmoderne sind elaborierte Strategien zum Erfolg zur Voraussetzung für Resonanzerlebnisse geworden. Um Wissenschaft und Literatur zu verstehen, ist ein gewisses Bildungsniveau erforderlich. Reisen in ferne Länder ermöglichen den unmittelbaren Kontakt mit anderen Kulturen. Das Erlernen eines Instruments oder von Fremdsprachen ermöglicht tiefe und berührende Erfahrungen. All das ist abhängig von einer gewissen Leistungsbereitschaft und wird erst möglich mit einer gewissen finanziellen Ausstattung.

Das Versprechen von Resonanzerfahrungen (Spaß, Spiel, Freude, Kontakte, Sinnlichkeit, Intimität, Selbstverwirklichung usw.) wird als zentraler Werbe-Anreiz zum Erwerb käuflicher Waren eingesetzt: „Kauf Resonanz!“ Resonanzversprechen werden zu kaufbaren Dienstleistungen. Resonanz verkommt zur bloßen Simulation in Form zunehmenden Verlangens nach Steigerung der Impression, der emotionalen Reaktion und Beeindrucktheit.

Eine Überfrachtung mit Resonanzerwartungen kann ihre Erfüllung hemmen oder unmöglich machen, beispielsweise bei den vor allem durch den Einzelhandel künstlich und unrealistisch aufgeblähten Resonanzerwartungen an das Weihnachtsfest, was durch das dann folgende, reale Zusammen-Feiern in der Regel nicht eingehalten werden kann, ähnlich wie mühsam organisierte Kindergeburtstage, Kongresspartys oder die formalisierten Trauerrituale bei Beerdigungen.

Der Körper als Leib, als Selbst dient dem Menschen als Resonanzorgan zur Verbindung mit der Welt. Der Körper als Welt, als den, als Gegenstand ist entfremdet, instrumentalisiert, er wird als Mittel zum Zweck gesehen und behandelt (z.B. durch Schönheitsoperationen, Diäten, Tattoos, Piercings).

Entfremdung und die Psyche

Durch ein riesiges und immer weiter zunehmendes Angebot an Freizeitaktivitäten und Urlaubsmöglichkeiten entsteht Aktivitätsdrang und Fernweh in der Hoffnung, irgendwo anders, bei einer anderen Aktivität oder in einer anderen Umgebung würde sich ein Empfinden von Angekommensein, In-sich-Ruhen und Einssein mit der Welt einstellen, als gebe es jeweils woanders einen „singenden“ Ort jenseits der Flachheit und Belanglosigkeit der tatsächlichen momentanen Existenz.

Die Spätmoderne geht einher mit einem Zwang zur permanenten Neuerfindung des Selbst. Umgeben von Deadlines und Benchmarks haben wir zunehmend das Gefühl, nie zu dem zu kommen, was uns wirklich wichtig ist. Entfremdung bringt das schuldige Subjekt hervor: Es wird seinen eigenen Steigerungszwängen und Resonanzwünschen nie gerecht. Was wir uns jedes Jahr an Silvester für das kommende Jahr vornehmen (mehr Disziplin in einer Hinsicht – mehr Muße in anderer) können wir doch niemals erfüllen.

Aus der spätmodernen Grundangst vor zunehmender Entfremdung (Entleerung, Vereinsamung) entspringt eine zunehmende Sucht nach fortgesetzter und immer weiter intensivierter Dauerstimulation und Erreichbarkeit (MP3-Player, Smartphones, Musikberieselung, Überflutung mit Werbeangeboten gemischt mit Nachrichten usw.) Als verdrehte, pervertiert Form des Resonanzbegehrens kann die Lust am Furchtbaren (Serienkiller-Romane, Sadomasochismus, Katastrophensüchtigkeit) gelten.

Hier ist auch die Suche nach seelischer Erschütterung um ihrer selbst willen (bspw. durch tragische Filme oder Nachrichten über Unglücke und Naturkatastrophen) einzuordnen. Die Seele sehnt sich suchtartig nach immer intensiverem Berührtwerden, erhält dies aber nicht durch wirkliche Erfahrungen und Begegnungen, sondern (in diesem Fall glücklicherweise) in entfremdeter und ins Extrem gehender medialer Form.

Entfremdung führt zur Vereinsamung mitten in einem Überfluss an Kontaktmöglichkeiten, besonders durch die sich ausweitende Digitalisierung von Kontaktmöglichkeiten (SMS, E-Mail, WhatsApp, Facebook, Tinder und viele andere).

Das Resultat sind „Fachmenschen ohne Geist und Genussmenschen ohne Herz; das Nichts bildet sich ein, eine nie vorher erreichte Stufe des Menschentums erstiegen zu haben“ (Max Weber). Durch zunehmende Reizschutzwände ist der spätmoderne Mensch erlebnisreich, aber erfahrungsarm geworden. Daher strebt er nach immer weiter gesteigerter Extremstimulation, die aber trotz ihres massiven Resonanzversprechens letztlich zum Resonanzverstummen, d.h. zur Abstumpfung führen.

Die Entfremdetheit von sozialen Beziehungen ist im typischen „Abstandhalten“, also der sozialen Reserviertheit von Großstadtmenschen in U-Bahnen, Bussen, Restaurants und Wartezimmern zu beobachten.

Auch psychische Störungen können unter dem Blickwinkel der Selbstentfremdung betrachtet werden. Als gemeinsames Element beinhalten sie, dass sich die Patienten selbst nicht mehr oder nicht mehr angemessen fühlen können. Dies beispielsweise bei Depressionen, Ängsten, psychosomatische und Essstörungen, Süchten, dissoziativen, Borderline- oder narzisstischen Störungen.

Psychische Störungen als Resonanzverlust und Entfremdung können in der Dialektik zwischen Selbstaufgabe aus Angst vor Einsamkeit und Bindungsunfähigkeit aus Angst vor Abhängigkeit bzw. vor Fusion gesehen werden.

Angst als großer Resonanzkiller erschwert (aber verunmöglicht nicht) das Sich-Einlassen und Sich-Einschwingen auf sich selbst, auf die Welt und auf andere Menschen. Verdinglichung und Konkurrenz führen zur Angst vor Misslingen von Resonanz.

Da in der spätmodernen Welt in den entwickelten Industriegesellschaften die Überlebensbedürfnisse weitgehend erfüllt sind, richten sich existenzielle Ängste nicht primär auf äußere Gefahren (Hunger, Kälte, Krieg u.a.) sondern auf selbst zu verantwortendes Versagen. Der spätmoderne Mensch befürchtet, die in ihm und von ihm selbst gesetzten Ansprüche nach fortgesetzter Steigerung seiner Fähigkeiten und seiner Attraktivität nicht oder nicht mehr erfüllen zu können. Statt sich resonant in der Welt getragen zu fühlen, fühlt er sich entfremdet und geworfen in die Welt.

  • Resonanz und Entfremdungsverminderung führen zu einem Gefühl der Sicherheit und Geborgenheit in der Welt, zu Bezogenheit und Angstfreiheit. Resonanzverlust und Entfremdung führen zu Isolation und Angst.
  • Das Begehren des Menschen (sofern es über die biologischen Grundbedürfnisse hinausgeht) richtet sich auf Resonanzprozesse.) Existenzielle Angst ist Angst vor dem „Verstummen“ der Welt durch Entfremdung.

Wenn ein System starr und fixiert oder chaotisch geöffnet ist, wird es resonanzunfähig. Sowohl eine zu starre Struktur mit rigiden Grenzen als auch eine zu vage Struktur mit zu überoffenen Grenzen erschweren Resonanz. Im entfremdeten Modus ist bzw. erscheint das Selbst und die Welt starr und rigide oder konturlos und chaotisch.

Besonders in den Übergangszeiten der Biografie (frühe Kindheit, Pubertät, Wechseljahre, Alter) aber auch in existenziellen Krisen (Krankheit, Verlust, Konfrontation mit Absurdität, Traumata) macht der Mensch die Erfahrung, dass seine Seele und sein Körper sich selbstständig machen und ihm fremd erscheinen. Dasselbe geschieht wenn ein Mensch z.B. bemerkt, dass seine sexuellen Empfindungen und sein sexuelles Begehren den mehrheitlichen oder normativen Geschlechterrollenerwartungen nicht entsprechen (Homosexualität in homophoben Gemeinschaften, Transsexualität, sogenannte Perversionen).

Depressionen können als extreme, pathologische Form misslingen Weltbezugs betrachtet werden, die entweder durch eine Verhärtung des Subjekts (Abschottung gegen die Welt und gegen sich selbst) oder durch ein Sich-Verlieren an die Welt (Über-Offenheit, Abgrenzungsmangel, Fusion) entstehen. Die Gefahr dazu besteht vor allem dann, wenn die Welt oder die Weltwahrnehmung verdinglicht oder chaotisch oder beides zugleich ist oder so wahrgenommen wird.

Das Begehren als Bewegung in die Welt hinein ist unweigerlich verknüpft mit Angst vor Zurückweisung oder dem Scheitern von Begegnung, denn Resonanz ist stets unverfügbar, unkontrollierbar, unbeherrschbar.

Die immer weiter beschleunigte Steigerung der Leistungsfähigkeit durch Selbst- und Fremdmanipulation führt zu einer Überausbeutung auch der persönlichen Ressourcen. 10% der Bevölkerung leiden unter Burnout-Symptomen, bei Lehr und Pflegeberufen sind es bereits mehr als 30%. In Japan ist der plötzliche Tod durch Überarbeitung so verbreitet, dass es dafür einen eigenen Begriff gibt: „Karoshi“.

Das Erlebnis der Macht- und Einflusslosigkeit, wenn Resonanz in vielen oder gar allen Resonanzräumen ausbleibt, verhindert oder verunmöglicht wird oder vom Subjekt nicht realisiert werden kann, führt als extremes Entfremdungserleben in die Depression. In der Depression sind die Resonanzräume „verstummt“. Der depressive Mensch erlebt die Welt als bedeutungslos, leer, grau, sie spricht ihn nicht mehr an, sie berührt ihn nicht mehr. Ebenso erlebt er sein eigenes Selbst und seinen eigenen Körper als unlebendig, stumpf, nichtvital, kraftlos. Das Begehren ist erloschen, die Welt berührt ihn nicht. Verblieben ist innere Leere und ein diffuses Gefühl des Mangels bzw. Verlustes, sowie der Unfähigkeit, Verlorenes wiederherzustellen oder nie Gehabtes zu erleben.

Resonanzunfähigkeit ist das zentrale Kennzeichen von Burnout und Depression. Burnout kann als akute und Depression als dauerhafte Form der Entfremdung im Sinne von Resonanzverlust verstanden werden. Sowohl Burnout-Kranke als auch Depressive erleben die Welt als flach, stumm, kalt und leer. Ihre Gefühle sind wie taub, verstummt und abgestorben. Die Welt erreicht sie nicht mehr, und sie können sich nicht mehr emotional in die Welt hinausbewegen. Ihr Körper, ihre Gefühle und die Welt erscheinen ihnen bleich, tot, kalt und leer.

Auch von außen, aus der Perspektive anderer Menschen, erscheinen Burnoutpatienten und mehr noch Depressive als emotional unerreichbar und unfähig zur Mitschwingung, mit Ausnahme eines nicht mehr zu beendenden „Generalbasses“ aus chronischer Selbst- und Fremdabwertung, Hilflosigkeit und Resignation. Im Extremfall führt dies zu einer quälenden Gleichgültigkeit und Gefühlslähmung, zu einer Abgetrenntheit von der Welt und einem Gefühl, von niemandem und nichts mehr berührt und erreicht werden zu können, also zu einer kompletten Abtrennung aus dem intersubjektiven Gefühlsraum. Depression ist ein Zustand der Hilflosigkeit und Bedeutungslosigkeit.

Dagegen sind Gefühle von Trauer und sogar von Verzweiflung durchaus Resonanzbeziehungen und lösen im Gegenüber Mitgefühl und Hilfsbereitschaft oder auch Hilflosigkeit, manchmal auch Aggression aus, nicht aber Empfindungen von Versteinerungen, Gefühlsverlust und emotionaler Distanz wie bei Depressiven.

Das Gegenteil eines depressiven Zustandes bezeichnet Rosa als „existenzielle Resonanzgewissheit“, also das Erleben und die Überzeugung, dass die Welt farbig, „klingend“ und voller Möglichkeiten ist, dass die Seele auf vielfältigen Ebenen von ihr berührt wird, und das Subjekt auf vielfältige Weise in der Welt etwas bewirken, also in ihr und auf sie Einfluss nehmen kann. Burnout und Depression können somit überwunden werden, wenn das Subjekt von der Welt wieder berührt wird und das Gefühl hat, in dieser etwas Werte-bezogenes bewirken zu können.

„Wir suchen nach Resonanz und versuchen, Entfremdung zu vermeiden.“
Hartmut Rosa

Professionelle Resonanzangebote

Auch Psychotherapie, Coaching und Beratung befinden sich in einer Dialektik zwischen Resonanzversprechen und Verdinglichungsdruck.

Aufgrund der immer umfassender werdenden Kontrolle und Effektivitätssteigerung bezüglich der eigenen Seele und des eigenen Körpers wird es immer schwerer, sich selbst wahrzunehmen bzw. fühlen zu können. Daher wird die Selbstwahrnehmung in Form von Ratgebern oder Dienstleistungen vermarktet.

Gerade wegen der zunehmenden Entfremdung in der Spätmoderne entsteht ein gesteigertes Resonanzverlangen. Eine gigantische Industrie an materiellen oder Dienstleistungsangeboten verspricht Intensivierung der Körpererfahrung, effektivere Kommunikation in Partnerschaft und Sexualität, gesteigerte Leistungsfähigkeit, berufliches Fortkommen, noch mehr und noch schnellere geistige Informationsaufnahme usw. Entfremdete Angebote zur „Weltreichweitenvergrößerung“ (Rosa) präsentieren sich als Resonanzversprechen, das letzten Endes aber nicht eingelöst wird. Aus diesem Grunde ist für viele Menschen das Erwerben von Gegenständen (Shopping) mitunter befriedigender als der Konsum der Gegenstände selbst. Neue Kleider, eine neue CD, ein neues elektronisches Gerät zu erwerben ist manchmal befriedigender, als dann die Kleider zu tragen, die CD zu hören oder das Gerät zu benutzen. Die Moderne träumt von umfassenden Resonanzbeziehungen, aber der Traum erfüllt sich nicht.

In entfremdeter Form werden (dialogische, empathische, akzeptierende) Resonanzbeziehungsmuster in Psychotherapie, Beratung, Pädagogik, Coaching und Fortbildung gezielt eingesetzt, um Klienten leistungsfähiger zu machen. Resonanz bzw. die Simulation von Resonanz wird zum Kapital im Konkurrenzkampf.

Die vielfältigen Angebote von Psychotherapie, Beratung, Lebenshilfe, Workshops, Seminaren, Fortbildungen, Retreats und Coachings bieten Kontakt zur Innerlichkeit, zur biografischen Vergangenheit und Zukunft, zur geistigen Welt und zu vertieften Beziehungen im Rahmen zu bezahlender oder kollektiv (durch die Krankenkassen oder die Rentenversicherung) finanzierter Dienstleistungen an, wobei die Zielvorgaben der Angebote häufig nur durch immer weiter fortgesetzte Inanspruchnahme eben dieser Angebote erreichbar zu sein scheinen. Sogar Kernbestandteile von Resonanzbeziehungen wie Romantik und Sinnlichkeit sind als kommerzialisierte Beziehungsangebote käuflich zu erwerben, beispielsweise in Form von Dating-Portalen oder Girlfriend-Angeboten durch Escort-Services, professionelle Organisatoren von Hochzeiten und Kindergeburtstagen oder entsprechende Urlaubsangebote.

Psychotherapie, Lebensberatung, Fort- und Weiterbildung, Coaching, Personalentwicklung, Fitness, Yoga, körperliche Heilverfahren und viele weitere können und müssen daher vor dem Hintergrund der Dialektik von Resonanz und Entfremdung betrachtet werden.

Wenn Resonanz als subjektive, personale, authentische Antwort, nicht aber als mechanisch-passive Reaktion („Spiegelung“) betrachtet wird, hat das immense Folgen für Psychotherapie und Beratung. Eine angemessene Reaktion bzw. Umgangsweise eines Psychotherapeuten oder Beraters mit dem Patienten wäre kein bloßes „Pacing“, kein passives Widerspiegeln, kein Echo, sondern ein subjektives Antworten im Rahmen professioneller Intersubjektivität.

In der Psychotherapie geht es primär darum, Abspaltungen (dissoziierte oder verdrängte Emotionen, Überzeugungen, Persönlichkeitsanteile oder Fähigkeiten) in das Selbst zu integrieren. Solche Abspaltungen sind biografische Produkte sozialer Entfremdungsprozesse, die durch dialogische Psychotherapie (Dialog mit sich selbst, Dialog mit anderen Menschen, Dialog mit dem Psychotherapeuten) auf Basis einer achtsamen und akzeptierenden, also resonanten therapeutischen Beziehung wieder angeeignet werden können.

Eine antwortende, dialogische Beziehung zu einem Therapeuten oder Berater ist Grundlage und zentrale Voraussetzung einer existenziellen, emanzipatorischen Psychotherapie und Beratung wie auch jeder humanen medizinischen Behandlung, Pädagogik, Pflege usw.

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