Was ist Intersubjektivität?
In der humanistischen Psychotherapie versteht man die therapeutische Beziehung als intersubjektiven Prozess professioneller Auseinandersetzung mit den Problemen des Patienten.
Das intersubjektive, dialogische Verständnis wurde von humanistischen Psychotherapeuten bereits in den 1960 er Jahren betont, lange bevor es von nahezu allen anderen psychotherapeutischen Verfahren adaptiert wurde (Bohm 2017, Buber 1999, Doubrawa & Staemmler 2003, Friedmann 1987, Hycner 1989, Staemmler 2015, Wenck 2008, Yontef 1999 u.v.a.).
Der Ausgangspunkt des intersubjektiven Ansatzes ist die Erkenntnis, dass eine Betrachtung des Menschen als Ding unter Dingen aus Sicht der humanistischen Psychotherapie gerade das Wesentliche des Menschen verfehlt. Der Mensch in seinem Erleben und Handeln kann nicht angemessen wie ein Gegenstand, wie ein Objekt erforscht und behandelt werden, weil er ein bewusstes, empfindungs-, handlungs- und reflexionsfähiges Subjekt ist, das auf vielfältige Weise im Kontakt mit anderen Subjekten steht. Auch die Patient-Therapeut-Beziehung wird daher in der humanistischen Psychotherapie als (asymmetrische) Vielebenen-Interaktion zwischen Subjekten verstanden.
Eine konsequent zu Ende gedachte intersubjektive Sichtweise stellt alle objektivierenden, also verdinglichenden Konzepte, Begriffe und Umgangsweisen in der Psychotherapie in Frage. Korrekterweise dürfte nicht von kontext- bzw. beziehungsunabhängigen Eigenschaften (z.B. Störungen, Strukturen usw.) gesprochen werden, sondern nur von aktuell und kontextspezifisch aktivierten, multivariablen Interaktionsmustern, also von interpersonellen Dynamiken, die sich in dieser Situation zwischen diesen Personen konstellieren, und die sich in der Zeit und je nach personellem und funktionalem Kontext verändern können, ohne dass ihre Entwicklung determiniert oder vorhergesagt werden könnte (vgl. Ermann 2014, Jaenicke 2006, Stolorow et al 1996).
Eine konsequente interpersonelle Sichtweise betrachtet jedes Erleben und Handeln als dynamischen Aspekt innerhalb multipler Interaktionsfelder. Daraus resultiert eine gewisse Unsicherheit, weil nichts Psychisches oder Kommunikatives individuell fixierbar ist, sondern stets als in bewegliche, intersubjektive Wechselbeziehungen eingebettet betrachtet wird.
Als psychotherapeutische Fachperson versucht man gern, sich dieser Unsicherheit durch verdinglichende Konzepte (z.B. durch Beschreibung etikettierender Diagnosen oder scheinbar mechanisch anwendbarer Techniken) zu entziehen. Auch in der humanistischen Psychotherapie wird nicht selten zur Vereinfachung die intersubjektive Sichtweise in den Hintergrund gerückt, und der Patient oder der Therapeut werden wie statische, isolierte Individuen betrachtet und beschrieben.
Dennoch eröffnet gerade ein dialogisches, also intersubjektives Verständnis überhaupt erst die Möglichkeit psychotherapeutischer Veränderung. Wenn ein Patient immer so wäre, wie er ist, dann wäre psychotherapeutische Veränderung nicht möglich. (Wäre er dagegen nicht so, wie er gerade ist, dann wäre Psychotherapie nicht nötig.) Wenn Psychotherapie kein wechselseitiger Dialog zwischen wahlfreien Subjekten wäre, dann wäre sie eine Umerziehung oder Umprogrammierung und damit alles andere als humanistisch (Eberwein 2012).
Humanistische Psychotherapie ist interaktive, kooperative Auseinandersetzung zweier Subjekte mit den Problemen und Themen des Patienten. Dabei ist die Patient-Therapeut-Beziehung zielorientiert und asymmetrisch:
- Der Patient kommt als Hilfe- und Unterstützung Suchender in die Therapie, daher muss er auch die Bezahlung des Therapeuten sicherstellen.
- Der Therapeut agiert als Experte für psychische Heilung in einem professionellen Rahmen, dafür erhält er ein Honorar.
Das Ziel und der Inhalt der psychotherapeutischen Interaktion ist vorgegeben: die pathologischen Anteile des psychischen Leids des Patienten zu lindern. An gesellschaftlichen (politischen, ökonomischen, ökologischen, historischen, kulturellen) Makrostrukturen, die erhebliche Auswirkungen auf individuelles Wohlbefinden oder psychisches Leid haben, kann individuelle Psychotherapie – leider – nichts ändern, sondern bestenfalls am subjektiven Umgang mit diesen. Humanistische Psychotherapie ist eine professionelle Dienstleistung, aber sie ist nicht nur das. Vielmehr wird ein humanistischer Psychotherapieprozess überhaupt erst möglich als Interaktion realer Personen als Subjekte. Patient und Therapeut sind zuerst Menschen, und dann erst Funktionsrollen.
Humanistische Psychotherapie ist Therapie in der Beziehung. Die Arbeit an der Beziehung, also die Reflexion der reaktivierten Muster, die sich in der psychotherapeutischen Beziehung konstellieren, ist Teil der psychotherapeutischen Arbeit, aber (im Unterschied z.B. zur Psychoanalyse) nicht ihr zentraler Inhalt.
In der humanistischen Psychotherapie wird die Reflexion der auch in der Patient-Therapeut-Beziehung reaktivierten biografisch alten Muster psychotherapeutisch genutzt. Die Reaktivierung wird aber nicht (beispielsweise durch betonte Passivität des Therapeuten) aktiv eingeladen oder gefördert.
Die Reflexion der Patient-Therapeut-Beziehung dient dazu, die Kontakt- und Beziehungsmuster des Patienten in den sozialen Beziehungen seines alltäglichen Lebens, sowie seine Vorstellungen von sich selbst und sein Umgang mit sich selbst zu verstehen, in Frage zu stellen, gegebenenfalls zu wandeln und weiterzuentwickeln. In der humanistischen Psychotherapie werden die Beziehungsmuster, die sich zwischen Patient und Therapeut konstellieren also thematisiert, reflektiert, auf ihre biografischen Zusammenhänge und Tiefendynamiken hin untersucht, aber das ist nur ein Aspekt dessen, was zwischen Patient und Therapeut passiert.
Werner Eberwein