Was ist Identitätspolitik?
Identitätspolitik bezeichnet politische Haltungen und Bewegungen, die sich auf die Interessen und Perspektiven spezifischer sozialer Gruppen stützen – meist basierend auf Merkmalen wie Geschlecht, Hautfarbe, ethnische Herkunft, sexuelle Orientierung, Religion oder Behinderung. Ziel ist es, Diskriminierung und Benachteiligung zu bekämpfen und gesellschaftliche Anerkennung, Rechte und Teilhabe für diese Gruppen zu fördern.
Der Begriff entstand in den 1970er-Jahren im Kontext von Bürgerrechts-, Frauen- und LGBTQ+-Bewegungen, etwa beim Combahee River Collective, einem Zusammenschluss afroamerikanischer Feministinnen. Dort wurde Identitätspolitik als notwendig angesehen, um gegen Mehrfachdiskriminierungen anzukämpfen (z. B. schwarze Frauen, die sowohl von Rassismus als auch von Sexismus betroffen sind).
Kerngedanken
- Gruppenzugehörigkeit prägt die Erfahrungen von Macht, Unterdrückung und Chancen.
- Sichtbarmachung marginalisierter Perspektiven ist zentral für gesellschaftlichen Fortschritt.
- Repräsentation in Politik, Medien, Bildung etc. ist wichtig, um Gerechtigkeit zu fördern.
Kritik an Identitätspolitik
Kritiker werfen Identitätspolitik unter anderem vor:
- Spaltung der Gesellschaft in immer kleinere Gruppen („Tribalismus“),
- Vernachlässigung gemeinsamer Interessen (z. B. soziale Ungleichheit oder Klassenpolitik),
- Betonung von Unterschieden statt Gemeinsamkeiten,
- Gefahr eines moralischen Dogmatismus („Wokeness“, Cancel Culture).
Verteidigung von Identitätspolitik
Befürworter argumentieren:
- Es geht nicht um Spaltung, sondern um Gleichberechtigung und Gerechtigkeit.
- Die Kritik blendet reale Machtverhältnisse und Diskriminierungen aus.
- Identitätspolitik ergänzt gesamtgesellschaftliche Politik, sie ersetzt sie nicht.
Feministische Bewegungen
- #Aufschrei (2013)
Eine der ersten großen feministischen Twitter-Kampagnen in Deutschland zu Sexismus im Alltag. Auslöser war ein anzüglicher Kommentar des FDP-Politikers Brüderle. - Kritik an Gender Pay Gap
Frauen verdienen im Schnitt weniger als Männer. Forderung nach politischer und gesellschaftlicher Anerkennung dieses strukturellen Problems.
Antirassismus und Migration
- „Black Lives Matter“-Bewegung in Deutschland (2020)
Nach dem Tod von George Floyd gab es auch in vielen deutschen Städten Demonstrationen gegen Rassismus und Polizeigewalt, insbesondere gegen People of Color. - Initiative Schwarze Menschen in Deutschland (ISD)
Setzt sich seit den 1980er-Jahren für die Rechte und Sichtbarkeit Schwarzer Menschen in Deutschland ein.
Muslimische Identität und Islamfeindlichkeit
- Debatten um das Kopftuchverbot
Muslimische Frauen, die ein Kopftuch tragen, kämpfen gegen Ausschlüsse im öffentlichen Dienst oder in Schulen. Die Diskussion ist ein Beispiel für Identitätspolitik: zwischen Religionsfreiheit und säkularem Neutralitätsanspruch. - #MeTwo (2018)
Eine Social-Media-Kampagne, in der Menschen mit Migrationshintergrund von Alltagsrassismus berichteten. Initiiert von Fußballspieler Mesut Özil nach seinem Rücktritt aus der Nationalmannschaft.
LGBTQ+ Rechte
- Ehe für alle (2017)
Einführung der gleichgeschlechtlichen Ehe war ein Erfolg der queeren Bewegung und ein Beispiel für die Durchsetzung identitätspolitischer Forderungen. - Christopher Street Day (CSD)
Neben Feier auch politische Demonstration für Sichtbarkeit und Rechte queerer Menschen – oft auch gegen Diskriminierung in Behörden, Kirchen oder Medien.
Menschen mit Behinderungen
- Aktionsbündnis „Nicht mein Gesetz“ (2020)
Protest gegen das Intensivpflege- und Rehabilitationsstärkungsgesetz (IPReG), das Menschen mit Behinderungen befürchteten, könne sie aus ihrer häuslichen Pflege zwingen.
Identitätspolitische Forderung: Selbstbestimmung über den eigenen Lebensort.
Postmigrantische Identität
- „Kanak Sprak“ und Autoren wie Feridun Zaimoğlu, Fatma Aydemir oder Max Czollek
Literarische und politische Selbstbehauptung von Menschen, die als „nicht richtig deutsch“ wahrgenommen werden – obwohl sie in Deutschland geboren sind.
Czollek spricht von „Erinnerungspolitik“ aus marginalisierter Perspektive.
Fazit
Identitätspolitik ist ein umstrittenes, aber wichtiges Konzept in modernen Demokratien. Es stellt die Frage: Wer wird gehört, wer darf mitreden, und wer bleibt unsichtbar?
Identitätspolitik in Deutschland ist kein Import aus den USA, sondern wird hier aktiv gelebt – oft als Antwort auf reale Ausschlüsse und Diskriminierungen. Sie hat wichtige Veränderungen angestoßen, wird aber auch kritisch diskutiert, etwa wenn sie als zu einseitig oder spaltend empfunden wird.
Werner Eberwein