Was ist eine postinfektiöse Depression?

Eine postinfektiöse Depression ist eine depressive Erkrankung, die im Anschluss an eine körperliche Infektion auftritt. Sie wird als eine Form der reaktiven oder somatogenen Depression betrachtet – das heißt, sie steht in einem engen zeitlichen und ursächlichen Zusammenhang mit einer vorangegangenen Infektion.

Typische Merkmale:

  • Zeitlicher Zusammenhang: Die Depression beginnt typischerweise Tage bis Wochen nach einer Infektion, z. B. einem grippalen Infekt, COVID-19, Pfeifferschem Drüsenfieber oder einer bakteriellen Infektion.
  • Symptome:
    • Antriebslosigkeit, Müdigkeit, Erschöpfung
    • gedrückte Stimmung, Freudlosigkeit
    • Schlafstörungen
    • Konzentrationsprobleme
    • evtl. körperliche Beschwerden ohne organischen Befund (z. B. Kopfdruck, Gliederschmerzen)
  • Unterscheidung zu Long-COVID/Fatigue-Syndromen ist teilweise schwierig, da es Überschneidungen gibt.

Mögliche Ursachen:

  • Entzündungsprozesse im Gehirn: Bestimmte Infektionen aktivieren das Immunsystem, und es werden Zytokine freigesetzt, die auch das zentrale Nervensystem beeinflussen können.
  • Veränderung des Neurotransmitterhaushalts (z. B. Serotonin, Dopamin)
  • körperliche Schwächung durch die Infektion – daraus kann eine psychische Erschöpfung resultieren.
  • psychische Belastung durch schwere Krankheitsverläufe oder Isolation

Häufige Auslöser:

  • Influenza (echte Grippe)
  • Epstein-Barr-Virus (Pfeiffersches Drüsenfieber)
  • COVID-19
  • bakterielle Infekte mit hohem Fieber oder langen Verläufen

Behandlung:

  • Psychotherapie, besonders bei leichten bis mittelschweren Fällen
  • Medikamentöse Behandlung (z. B. Antidepressiva), falls erforderlich
  • Schlafregulation, Tagesstruktur, Bewegung
  • interdisziplinäre Betreuung, v. a. bei unklaren körperlichen Beschwerden

Fallbeispiel: Anna, 43 Jahre

Hintergrund:
Anna ist eine 43-jährige Grundschullehrerin, verheiratet, zwei Kinder. Sie gilt als engagiert, zuverlässig und lebensfroh. Keine psychiatrische Vorgeschichte.

Verlauf:
Vor etwa drei Monaten hatte Anna eine schwere Influenza mit hohem Fieber, Husten und starker körperlicher Schwäche. Sie war zwei Wochen krankgeschrieben, fühlte sich auch danach noch erschöpft, nahm aber wieder ihre Arbeit auf.

Symptomentwicklung:
Etwa vier Wochen nach der Infektion begannen schleichend psychische Symptome:

  • Anna fühlte sich anhaltend müde und energielos, auch ohne körperliche Anstrengung.
  • Sie beschrieb eine innere Leere und „als hätte jemand den Stecker gezogen“.
  • Dinge, die ihr früher Freude machten (z. B. Singen, Spaziergänge), erschienen ihr sinnlos.
  • Sie konnte sich schlecht konzentrieren und berichtete von „Gedanken, die im Nebel stecken“.
  • Nächtliches Grübeln, Einschlafprobleme und morgendliches Früherwachen verstärkten die Erschöpfung.
  • Ihre Familie merkte, dass sie emotional distanziert wirkte – „nicht mehr richtig da“.

Arztbesuch und Diagnose:
Nach mehreren Arztbesuchen wegen der anhaltenden Erschöpfung ohne körperlich erklärbare Ursache wurde sie an eine Psychotherapeutin überwiesen. Diese stellte nach einer ausführlichen Anamnese und unter Berücksichtigung des zeitlichen Zusammenhangs die Diagnose „Depressive Episode nach Infektion“ (ICD-10: F32.0 in Kombination mit Z73.0 Erschöpfung).

Behandlung:
Anna begann eine psychotherapeutische Behandlung mit verhaltenstherapeutischem Fokus:

  • Psychoedukation über postinfektiöse Depression und körperlich-psychisches Zusammenspiel
  • Aufbau eines realistischen Tagesrhythmus (Aktivitätsaufbau)
  • Förderung von Selbstfürsorge und achtsamer Körperwahrnehmung
  • Bearbeitung von Schuldgefühlen („Ich bin zu schwach“, „Ich lasse die Familie im Stich“)

Nach vier Monaten berichtete sie über eine spürbare Besserung: mehr Antrieb, wieder Freude am Alltag, weniger Grübeln. Eine medikamentöse Therapie war nicht notwendig.

Fallbeispiel: Anna, 43 Jahre (tiefenpsychologisch betrachtet)

Anlass und Hintergrund:

Anna, 43 Jahre, verheiratet, zwei Kinder (10 und 13 Jahre), kommt nach Zuweisung durch ihre Hausärztin in die psychotherapeutische Praxis. Etwa drei Monate zuvor hatte sie eine starke Virusgrippe, von der sie sich körperlich nur langsam erholte. Die psychischen Beschwerden begannen etwa vier Wochen nach der körperlichen Genesung.

In der Anamnese zeigt sich: Anna war bislang psychisch stabil, leistungsbereit, perfektionistisch, mit starkem Verantwortungsgefühl für ihre Familie und ihren Beruf als Lehrerin. Ihre Kindheit war geprägt von einem hohen Anpassungsdruck, besonders durch die Mutter, die häufig krank war und von Anna „funktionierendes Verhalten“ erwartete.

Symptome (aus psychodynamischer Sicht):

  • Affektverflachung, Freudlosigkeit, sozialer Rückzug
  • Leistungsunlust und Schuldgefühle („Ich schaffe nichts mehr“ / „Ich bin eine schlechte Mutter“)
  • Körperliche Schwäche als Symbol eines inneren Konflikts: Anna empfindet sich als leer, erschöpft und „wie gelähmt“
  • Verstärkter innerer Kritiker mit Gedanken wie „Ich muss mich zusammenreißen“ – obwohl ihr Körper nicht mehr „mitspielt“
  • Wiederauftauchen früher Gefühle der Hilflosigkeit und Überforderung

Psychodynamische Deutung:

Die Influenza wirkt wie ein „Entlastungsventil“ oder ein psychischer Einbruchspunkt: Die körperliche Schwächung durch die Infektion durchbricht das bisherige „Funktionieren-Müssen“. In der Zeit nach der Infektion gelingt es Anna nicht, in ihre alte Funktionsweise zurückzukehren – stattdessen bricht ein unbewusster, lange unterdrückter Konflikt hervor:

Konflikt zwischen Autonomie und Anpassung
Anna spürt (körperlich und seelisch) die Erschöpfung eines Lebensstils, in dem sie ständig für andere funktioniert. Die Depression erscheint als Regressionsbewegung – ein Rückzug in Passivität und Schwäche, um unbewusst ein „Nein“ zur Überforderung zu signalisieren.

Ich-Schwäche und hohe Über-Ich-Ansprüche
Die inneren Anforderungen („Ich muss stark sein“, „Ich darf nicht ausfallen“) stehen in starkem Gegensatz zur tatsächlichen Erschöpfung – was innere Spannung und depressive Symptome erzeugt.

Behandlungsansatz (tiefenpsychologisch fundiert):

  • Übertragungsdeutung: Anna erlebt die Therapeutin anfangs als fordernd und kritisch – ein Spiegelbild früher Muttererfahrungen.
  • Arbeit mit dem Über-Ich: Die rigiden inneren Maßstäbe werden thematisiert, um Annas Selbstfürsorge und innere Erlaubnis zur Erholung zu fördern.
  • Affektarbeit: Alte Gefühle von Hilflosigkeit, Traurigkeit und Wut werden erkundet, anerkannt und verarbeitet.
  • Stärkung des Ichs: Anna lernt, ihre Bedürfnisse wahrzunehmen und Grenzen zu setzen, ohne Schuldgefühle.

Verlauf:

Nach etwa 20 Sitzungen berichtet Anna, dass sie klarer fühle, was ihr gut tut, sich öfter Zeit für sich nehme, Hilfe annehmen könne – ohne sich als Versagerin zu erleben. Die depressive Symptomatik klingt spürbar ab. Die körperliche Schwäche bleibt noch latent, wirkt aber weniger bedrohlich. Sie beginnt, sich wieder als handelnde Person zu erleben.

Fallbeispiel: Anna, 43 Jahre (systemisch betrachtet)

Anlass der Therapie:

Anna wird von ihrer Hausärztin empfohlen, eine Psychotherapie aufzusuchen. Seit einer Grippe vor drei Monaten fühlt sie sich dauerhaft erschöpft, kraftlos und emotional „abgekoppelt“. Ihre Stimmung ist gedrückt, sie hat Schwierigkeiten, sich zu motivieren, zweifelt an sich selbst und fühlt sich ihren Anforderungen als Lehrerin, Ehefrau und Mutter nicht mehr gewachsen.

Systemische Perspektive:

Die Therapeutin interessiert sich zu Beginn nicht nur für Annas Symptome, sondern für das Beziehungsnetzwerk, in dem sie lebt, sowie für die Bedeutung, die die Symptome im Kontext dieses Systems haben könnten.

Systemische Grundfrage:
„Wofür ist das Symptom eine (unbewusste) Lösung?“
Oder: „In welchem Beziehungskontext ist die Depression sinnvoll?“

Relevante systemische Aspekte:

  • Familiensystem:
    Anna übernimmt sehr viele Aufgaben in der Familie: Hausarbeit, Kinderorganisation, emotionale Versorgung des Mannes. Ihr Mann arbeitet viel, ist oft müde und wenig präsent. Die Kinder sind eher fordernd als unterstützend.

Hypothese: Annas „Ausfall“ durch die Depression bringt das System in Bewegung – andere müssen plötzlich Aufgaben übernehmen, die vorher selbstverständlich an Anna delegiert wurden.

  • Rollen und Loyalitäten:
    Anna beschreibt sich selbst als „verlässlich“, „unermüdlich“, „für alle da“. Diese Zuschreibungen stammen aus ihrer Herkunftsfamilie – dort musste sie als älteste Tochter früh Verantwortung übernehmen.

Hypothese: Die Depression bricht ein überforderndes Loyalitätsmuster auf und ermöglicht (notgedrungen) eine neue Rollenverteilung.

  • Narrative und Zuschreibungen:
    Anna sagt: „Ich war immer die Starke – jetzt bin ich plötzlich schwach.“
    → Die Therapeutin arbeitet mit dieser Identitätserschütterung und hilft, neue Geschichten über sich selbst zu entwickeln: „Ich darf Hilfe brauchen“, „Ich bin auch ohne Leistung wertvoll“.

Interventionen:

  • Zirkuläre Fragen:

„Was glauben Sie, wie Ihre Familie darauf reagiert, dass Sie sich zurückziehen?“
„Was könnte sich ändern, wenn Sie wieder 100 % funktionieren würden?“
„Wer profitiert (bewusst oder unbewusst) davon, dass Sie sich zurückziehen? Wer leidet darunter?“

  • Skalierungsfragen:

„Auf einer Skala von 0 bis 10 – wie sehr fühlen Sie sich derzeit in der Lage, für sich selbst zu sorgen?“
„Was müsste passieren, damit Sie von 4 auf 5 kommen?“

  • Genogrammarbeit:
    Erforschung transgenerationaler Muster von Selbstaufopferung, Schwächeverbot, Krankheitsdynamiken
  • Reframing der Depression:
    Die Therapeutin bietet Anna eine neue Sichtweise an:

„Vielleicht ist Ihre Erschöpfung nicht Ausdruck von Schwäche, sondern ein mutiger Versuch Ihres Systems, etwas zu verändern.“

  • Arbeit mit dem System:
    Anna bezieht – wenn gewünscht – ihren Mann in die Gespräche ein. Themen: Rollenmuster, gegenseitige Erwartungen, Kommunikation, Grenzen.

Verlauf und Veränderung:

Nach einigen Wochen beginnt Anna, kleine Veränderungen in der Familie zu etablieren:

  • Aufgaben werden klarer verteilt
  • Sie nimmt sich wieder Zeit für sich selbst
  • Ihr Mann erkennt, dass sein Rückzug mitverantwortlich für die Dynamik war
  • Anna gewinnt das Gefühl zurück, ihr Leben mitgestalten zu können – nicht nur zu „funktionieren“

Die depressive Symptomatik geht parallel zurück, ohne dass sie „aktiv bekämpft“ werden musste. Die Therapie hilft, dass sich das System verändert – und mit ihm auch Anna selbst.

Fallbeispiel: Anna, 43 Jahre (hypnotherapeutisch betrachtet)

Anlass:

Anna kommt nach einer überstandenen Virusinfektion mit anhaltender Erschöpfung, depressiver Verstimmung, Antriebslosigkeit und dem Gefühl „nicht mehr in sich selbst zu wohnen“. Sie ist ratlos – körperlich gesund, aber „wie abgeschnitten von der Welt“. Vor der Erkrankung war sie leistungsstark, strukturiert, fürsorglich. Nun fühlt sie sich leer, wie betäubt, „wie im falschen Film“.

Sie formuliert:

„Es ist, als hätte mir jemand den inneren Stecker gezogen.“

Hypnotherapeutische Sichtweise:

Hypnotherapeutisch wird die Depression nicht als Störung, sondern als veränderter Bewusstseinszustand verstanden – eine Art ungewollte Trance. Diese Trance ist geprägt von Fixierung auf Erschöpfung, Rückzug, Negativfokus und körperlicher Blockade.

Ziel: Die vorhandene „depressive Trance“ in eine heilsame, kreative Trance zu überführen, in der Annas unbewusste Ressourcen wieder erfahrbar und nutzbar werden.

Sitzungsverlauf (Ausschnitt):

Nach einem einfühlenden Gespräch wird Anna eingeladen, in eine leichte Trance zu gehen:

„Vielleicht magst du einfach den Atem wahrnehmen … wie er kommt … und geht … und während dein bewusster Verstand sich ein wenig ausruht … darf ein anderer Teil von dir auf Entdeckungsreise gehen … dorthin, wo deine Kraft einmal war … vielleicht nur als Ahnung … wie ein Licht hinter einem Vorhang …“

In der Trance erinnert Anna intuitiv ein Bild aus der Kindheit:

„Ich war im Garten meiner Oma … ich lag unter einem Holunderbusch und habe den Wind beobachtet … das war Frieden.“

Die Therapeutin nutzt das Bild:

„Vielleicht war dieser Holunderbusch damals eine Art Quelle – eine, zu der du jetzt wieder zurückfindest … und vielleicht kannst du heute etwas mitnehmen von dort … vielleicht nur ein feines Gefühl … oder ein inneres Leuchten.“

Symbolarbeit und Re-Imprint:

In späteren Sitzungen wird dieses Bild vertieft – ein innerer Ort von Ruhe, Verwurzelung und Selbstverbundenheit entsteht. Anna entdeckt im Tranceprozess eigene Bilder von Schutz, Regeneration und gesunder Abgrenzung.

In einem inneren Dialog begegnet sie auch einer „inneren Antreiberin“, die sie jahrelang zum Funktionieren gezwungen hatte – diese bekommt eine neue Rolle: Sie darf jetzt auf den Körper hören und Pausen einfordern.

Interventionen:

  • Indirekte Suggestionen („Manche Menschen spüren …“)
  • Arbeit mit Metaphern („der innere Garten“, „die Lichtquelle unter dem Moos“)
  • Ressourcenaktivierung in Trance: frühere Kraftquellen, Momente von Lebendigkeit
  • Körperfokussierung („Wo im Körper spürst du gerade eine kleine Spur von Wärme, vielleicht nur einen Hauch?“)

Verlauf:

Über die Sitzungen hinweg spürt Anna:

  • Wieder mehr Körpergefühl und Selbstwahrnehmung
  • Wachsendes Vertrauen in ihren eigenen Rhythmus
  • Neue Bilder von Selbstfürsorge („Ich darf ausruhen, ohne zu verschwinden“)

Die depressive Trance weicht einer regenerativen Trance: Die Heilung geschieht nicht durch kognitive Kontrolle, sondern durch Erleben, innere Bilder und die Arbeit mit unbewussten Prozessen.

Werner Eberwein