Systemische Therapie

Systemische Therapie … ist ein psychotherapeutisches Verfahren, dessen Schwerpunkt auf dem sozialen Kontext psychischer Störungen, insbesondere auf Interaktionen zwischen Mitgliedern der Familie und deren sozialer Umwelt liegt. … Vertreter dieser Therapierichtung betonen die Bedeutung impliziter Normen des Zusammenlebens für das Zustandekommen und die Überwindung psychischer Störungen (Familienregeln). … Weitere Mitglieder des für den Patienten relevanten sozialen Umfeldes werden in die Behandlung einbezogen.

Theoriegeschichte

Seit Ende 2018 ist in Deutschland die Systemische Therapie in den Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenkasse aufgenommen.

Salvador Minuchin entwickelte die strukturelle Familientherapie. In der strukturellen Familientherapie erhält die Unterscheidung familiärer Subsysteme (wie Eltern-, Kind-Systeme) hohen Stellenwert. Als Schüler von Minuchin mitentwickelte Jay Haley die strategische Familientherapie. Jay Haley beschrieb mit dem perversen Dreieck eine in Familien häufig grundlegend dysfunktionale (Kommunikations-)Struktur, was als (dysfunktionale) Triade in die Familientherapie Einzug fand und noch heute als relevantes Störungsmuster Beachtung findet.

In den 1950er Jahren arbeitete Virginia Satir bereits mit Familienskulpturen. 1956 wurde in einem Forschungsbericht die Wirkung von Doppelbotschaften als paradoxes Kommunikationsmuster in zwischenmenschlichen Beziehungen und die wissenschaftsgeschichtlich prominente „Doppelbindungstheorie“ … veröffentlicht.

Eine wichtige Voraussetzung dieser Entwicklungen waren die Vorarbeiten zum Themenkomplex Kybernetik durch Norbert Wiener. Auf dieser Basis entwickelte sich dann das neue Konzept der Familientherapie.

Der problemlösende Ansatz der systemischen Therapie wurde in den fünfziger Jahren am Mental Research Institute (MRI) in Palo Alto (Kalifornien) von Don D. Jackson, Gregory Bateson, John Weakland und Richard Fisch entwickelt. Es entstand die Palo-Alto-Gruppe, aus der viele wichtige Familientherapeuten inspiriert wurden.

Die systemische Familientherapie entstand mit Mara Selvini Palazzoli und ihrer Mailänder Gruppe ab 1971. 1973 veröffentlichte Iván Böszörményi-Nagy seine „Unsichtbare Loyalität – Gegenseitigkeit in der Familientherapie zwischen den Generationen“, was als frühes Grundlagenwerk der Familientherapie gilt. Iván Böszörményi-Nagy gilt als wesentlich für die Mehrgenerationen-Perspektive. Von ihm stammen die Begrifflichkeiten Loyalität, Parentifizierung, Ausgleich (der Beziehungskonten bzw. Gerechtigkeit) und Ordnung in familientherapeutischen Kontexten. …

Das Mailänder Modell

Einen wesentlichen theoriegeschichtlichen, aber auch praktischen Ansatz in der (systemischen) Familientherapie stellt das Mailänder Modell der Gruppe um Mara Selvini Palazzoli, Luigi Boscolo, Gianfranco Cecchin und Giuliana Prata dar. Sie wurden kontinuierlich unterstützt von Paul Watzlawick, der regelmäßig nach Mailand reiste und die Ergebnisse des dortigen Zentrums für Familientherapie mit den Therapeuten diskutierte. Die Mailänder Gruppe erzielte in kurzer Zeit Erfolge bei schizophrenen Familienmitgliedern und bei Essstörungen.

Eine prägende Methodik und Vorläufer des reflektierenden Teams war die Zwei-Kammer-Methode, bei der Therapeut und Klienten in einem Raum saßen und räumlich getrennt von den Co-Therapeuten beobachtet wurden. Diese verfolgen die Therapie durch Einwegscheibe oder Videoübertragung. Behandelnde und beobachtende Therapeuten besprechen das Konzept der Therapiesitzung (Hypothesendiskussion). Das Gespräch führt der eigentliche Therapeut. Gegebenenfalls halten Therapeut und Co-Therapeut(en) während kurzer Unterbrechungen Rücksprache. Nach Ende des Gesprächs berät sich das Therapeutenteam, um eine optimale Abschlussintervention (z.B. eine Hausaufgabe oder eine Symptomdeutung) zu finden, die den Klienten direkt im Anschluss mitgeteilt wird. Sinn dieser Intervention ist, das System (aus Familienmitgliedern und wichtigen anderen Personen) in ihren Interaktionsmustern zu verstören und sekundär die beklagte Symptomatik zu verändern.

Reflecting Team

Vom norwegischen Sozialpsychiater Tom Andersen wurde das therapeutische Setting um das so genannte Reflecting Team erweitert. Dabei tauschen … am Ende einer Therapiesitzung Therapeut und Klient(en) mit dem Co-Therapeuten-Team die Plätze. Therapeut und Klient(en) beobachten nun, wie das Co-Therapeuten-Team das bisherige Geschehen aus ihrer Sicht in einer hilfreichen und unterstützenden Art und Weise reflektiert. Der erhöhte Aufwand (mehrere Therapeuten) bringt eine höhere Vielfalt der Perspektiven, vermindere Therapiefehler und Einseitigkeiten und werde mit hoher Effektivität belohnt.

Virginia Satir

Virginia Satir gilt als Mutter der systemischen Therapie. Sie hat das systemische Repertoire und die Methodik erweitert und weiterentwickelt – durch Familienskulptur, Familienrekonstruktion, Parts Party. Dadurch können biographische Muster und generationsübergreifende Problemstellungen entdeckt und bearbeitet werden, bzw. bei der Parts Party eigene Persönlichkeitsanteile sichtbar gemacht und integriert werden. Satirs Arbeit gilt als Vorläuferin der systemischen Aufstellungsarbeit. …

Inneres Team

Die Arbeit von Virginia Satir gab auch Inspiration für das „Innere Team“ (1998), ein Modell des Hamburger Psychologen Friedemann Schulz von Thun, um Persönlichkeitsanteile und deren Eigenschaften bewusst zu machen. Schulz von Thun spricht von der „Pluralität des menschlichen Innenlebens“. Das Modell vom Inneren Team wurde in den Jahren ab 1998 zunehmend für Psychotherapie benutzt, um Persönlichkeitsanteile oder Symptome systemisch aufzustellen. …

Heidelberger Schule

Der deutsche Psychoanalytiker und Pionier der Familientherapie Helm Stierlin war von 1974 bis 1991 Inhaber des Lehrstuhls für Psychoanalytische Grundlagenforschung und Familientherapie der Universität Heidelberg. Um ihn sammelte sich ein Kreis junger und engagierter Therapeuten, die Heidelberger Schule, und propagierte den narrativen Ansatz, Mehrgenerationenperspektive, Genogramm und Paartherapie. Zu Stierlins Mitarbeitern zählten Arnold Retzer, Gunther Schmidt, Fritz B. Simon, Hans Rudi Fischer und Gunthard Weber.

Narrativer Ansatz

Beeinflusst von Michel Foucault (1980) wird der in der Systemischen Therapie häufig angewandte narrative Ansatz auf Michael White (1990) und David Epston (1992) zurückgeführt. Dabei handelt es sich um ein poststrukturalistisches Postulat, dass individuale sowie gesellschaftliche Phänomene aus sprachlichen Überlieferungen und anschließenden Manifestationen von Wirklichkeitskonstruktionen resultieren. Die Identität des Individuums wird demnach als narrativ gebildet und insofern als de- bzw. rekonstruierbar verstanden.

Therapeutischer Dialog und Autonomie des Klienten

Als Leitfiguren des narrativen Ansatzes gelten außerdem Harold A. Goolishian und Harlene Anderson (1988), die den therapeutischen Dialog sowie die Autonomie des Klienten in der Systemischen Therapie begründeten.

Aufstellungsarbeit

Systemaufstellungen werden, wenn diese dem narrativ-konstruktivistischen Ansatz entsprechen, heute in der Systemischen Therapie im deutschen Sprachraum hauptsächlich nach Insa Sparrer und Matthias Varga von Kibéd durchgeführt.

Schule von Milwaukee

Insoo Kim Berg und Steve de Shazer konzipierten in Milwaukee die lösungsfokussierte Kurzzeittherapie. Philosophisch beeinflusst vom österreichischen Philosophen Ludwig Wittgenstein geht dieser Ansatz davon aus, dass Problem und Lösung zwei verschiedenen Welten angehören. Die Problemstellung tritt in den Hintergrund, ebenso die Familie als System (mit den Familienmitgliedern als Entitäten). Von Milton H. Erickson inspiriert, versteht Steve de Shazer das gesamte „Therapiegeschehen“ als Prozess der Entwicklung und Loslösung vom jeweiligen Problem. Wichtige Instrumente der lösungsfokussierten Kurzzeittherapie sind eine Problemskalierung (zwischen 1 und 10 nach Belastungsgrad) und der Interventionsablauf, der als Wunderfrage bezeichnet wird („Wenn über Nacht ein Wunder geschehen würde, dein Problem über Nacht verschwunden wäre, woran würdest du es [nach dem Erwachen] merken?“). …

Gebräuchliche Techniken

  • Zirkuläre Fragen, die auf den vermuteten Standpunkt Dritter (auch Anwesender) abzielen
  • Skalenfragen, zur Verdeutlichung von Unterschieden und Fortschritten
  • Positives Konnotieren und Herausarbeiten der positiven Aspekte von problematischen Sachverhalten
  • Reframing von Sachverhalten, um Bedeutungs- bzw. Interpretationsveränderungen anzuregen
  • Paradoxe Intervention, i. d. R. Verschreibung des problematischen Verhaltens, um Automatismen zu verändern
  • Metaphernarbeit, Parabeln und Geschichten als Umgehungstechnik für potentielle „Widerstände“
  • Skulptur, Darstellen von Familienbeziehungen als Standbild aus Personen im Raum
  • Soziogramm, die grafische Darstellung der sozialen Beziehungen
  • Reflecting Team
  • Hausaufgaben diverser und individuell angepasster Art zur Erledigung zwischen den Sitzungen

Wissenschaftliche Anerkennung

In Deutschland wird seit Ende 2008 die Systemische Therapie als wissenschaftliches Psychotherapieverfahren anerkannt. Bestätigt wird die Wirksamkeit der Systemischen Therapie in der Behandlung von Erwachsenen …

Kritik

Nach der konstruktivistischen (narrativen) Wende in der Systemischen Therapie in den 1980ern wurde teilweise bemängelt, „dass die systemische Therapie sich zu sehr sprachlich-konstruktivistisch verstehe und dabei emotionale und biographische Momente vernachlässige.“

In der Systemischen Therapie besteht keine dezidierte Störungslehre, da eine Diagnostik von „Störungen“ oder gar „psychischen Krankheiten“ samt traditionellen Psychopathologie-Konzeptionen größtenteils explizit als inadäquat abgelehnt wird. … Die Systemische Theorie steht damit im Gegensatz zu Grundorientierungen der etablierten psychotherapeutischen Versorgung und dem Selbstverständnis des deutschen Gesundheitssystems, das weitgehend störungsorientiert operiert und theoretisch hauptsächlich behavioristisch oder psychoanalytisch orientiert ist. In der Systemischen Therapie werden soziale oder psychische Auffälligkeiten nicht als „krank“ bzw. pathologisch, sondern als prinzipiell verstehbare Reaktion auf Probleme oder Anforderungen gesehen, die gelegentlich selbst problematisch sein können.

(aus: https://de.wikipedia.org/wiki/Systemische_Therapie Zusammenfassung)