Macht der Kapitalismus depressiv?
Was der Frankfurter Soziologe und Psychoanalytiker Martin Dornes in seinem neuesten Buch „Macht der Kapitalismus depressiv? Über seelische Gesundheit und Krankheit in modernen Gesellschaften“ (Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2016) schreibt, gefällt mir politisch gar nicht. Es handelt sich um eine durch eine Flut von Daten gestützte Polemik gegen einen verbreiteten gesellschaftskritischen Ärger, der behauptet, dass es uns im Zuge der Entwicklung des Neoliberalismus psychisch immer schlechter geht. Dornes stellt diese Theorie infrage.
Seine Gegenthese lautet, dass die Verbreitung und Intensität psychischer Krankheiten in Deutschland in den letzten Jahrzehnten im Großen und Ganzen konstant geblieben sei. Die teilweise markante Zunahme bestimmter Diagnosen, z.B. Depressionen, Burnout, ADHS, narzisstische und Borderline-Störungen, Traumafolgestörungen usw. führt Dornes auf eine gesteigerte Sensibilität der Diagnostiker gegenüber diesen Störungen sowie auf eine vorher nach seiner Meinung vorhanden gewesene Unterdiagnostik zurück.
Die Analyse von Dornes kontrastiert mit meinen Erfahrungen aus meiner 30jährigen klinischen psychotherapeutischen Praxis, die, soweit ich aus Gesprächen mit Kollegen erkennen kann, von vielen Psychotherapeuten geteilt wird, und die auf eine massive Zunahme der sozial bedingten Stressbelastung bei den Patienten, die wir sehen, mit den entsprechenden psychischen Folgeerscheinungen hinweist. Allerdings bin ich weder Wissenschaftler noch Epidemiologe und kann daher nicht auf empirisch abgesicherte Daten und Studien verweisen, sondern nur auf das, was ich tagtäglich in meiner Praxis erlebe. Eigenartigerweise scheint nämlich das, was die Patienten ihren Psychotherapeuten (zumindest mir) nachvollziehbar berichten, nicht mit den empirischen Daten (die Dornes anführt) übereinzustimmen.
Mit großem empirischen und argumentativen Aufwand verteidigt Dornes die Theorie der individualpsychologischen Genese von psychischen Störungen als Persönlichkeitsmangel relativ unabhängig von den gesellschaftlichen Bedingungen, so wie es von der Mainstream-Psychoanalyse vertreten wird. Die Ursachen psychischen Leids sind seiner Meinung nach nicht in den gesellschaftlichen Bedingungen und schon gar nicht in zunehmender Arbeitsbelastung zu sehen (wie von vielen Zeitkritikern behauptet wird), sondern vielmehr im Individuum, d.h. in seiner unzulänglichen Verarbeitung sozialer Belastungen.
Nach Dornes habe der Neoliberalismus mit einigen [aber durchaus gravierenden, W.E.] Ausnahmen [z.B. zunehmende Arbeitslosigkeit, Auseinanderdriften der Schere zwischen Arm und Reich, W.E.] die Lebensbedingungen der Menschen in den hoch entwickelten kapitalistischen Ländern nicht verschlechtert, sondern vielmehr verbessert.
[Ich möchte dem entgegenstellen, dass diese unbestreitbare Verbesserung (auch den unteren Schichten in Deutschland geht es heute deutlich besser als beispielsweise in den 1950 er Jahren) nur auf Kosten der gnadenlosen Ausbeutung der ökologischen, ökonomischen und menschlichen Ressourcen in der Dritten Welt realisiert werden konnte. Die indirekten Auswirkungen dieses rücksichtslosen globalisierten Raubtierkapitalismus sehen wir heute in den sozialen, politischen und gesundheitlichen Katastrophen vor allem in den Armutsregionen Afrikas, Asiens und Südamerikas sowie indirekt in der Flüchtlingswelle, die letzten Endes auf den auf Betrug beruhenden Überfall von George W. Bush auf den Irak und die beginnenden klimatischen Veränderungen in Nordafrika aufgrund der Erderwärmung (und in der Folge Wasserknappheit) zurückzuführen ist. W.E.]
Dornes zitiert diverse epidemiologische Studien nach denen die Häufigkeit psychischer Erkrankungen in den letzten 30 Jahren Jahren im Mittel bei Erwachsenen bei 27 %, bei Kinder und Jugendlichen bei 17 % liege. Dabei habe die Erkrankungshäufigkeit in den letzten 30 Jahren nicht zugenommen, sondern sei im Großen und Ganzen gleichgeblieben. In der Erkrankungshäufigkeit gab es für praktisch alle Störungsbilder, also bei Depressionen, Süchten, Eststörungen, Psychosen usw. nach dem Zweiten Weltkrieg einen Anstieg, der sich aber nach 1975 bis heute (2016) nicht fortgesetzt habe. Auch im Osten Deutschlands sei es nach der Wende 1989 trotz aller sozioökonomischer Verwerfungen nicht zu einer Zunahme der Gesamtanzahl psychischer Erkrankungen gekommen.
Die Suizidrate sei nach dem Zweiten Weltkrieg bis etwa 1980 gestiegen, danach aber wieder gefallen, und sie falle weiter. Was den Alkoholkonsum betrifft, sei Deutschland zwar nach wie vor ein Hochkonsumland, aber der Konsum gehe kontinuierlich zurück, ebenso die alkoholbezogene Sterblichkeitsrate.
Die Idee, dass im „klassischen“ (fordischen, tailoristischen) Kapitalismus seit dem Zweiten Weltkrieg bis ungefähr in die siebziger Jahre die psychischen Erkrankungen geringer gewesen seien als heute, bezeichnet Dornes als „nostalgische Mystifizierung der guten alten Zeiten“, die es so nie gegeben habe.
Untersuchungen, wie beispielsweise in dem Buch „Gleichheit – Warum gerechte Gesellschaften für alle besser sind“ von Wilkinson und Pickett (Haffmans & Tolkemitt 2016), aus denen hervorgehen, dass sozialökonomische Ungleichheit durchweg zu einer Zunahme psychischer Störungen führe, führt Dornes auf eine selektive Auswahl der untersuchten Länder zurück. [Ich habe das zitierte Buch gelesen und fand seine Thesen empirisch außerordentlich gut empirisch belegt.]
Wenn man die Anzahl der Diagnosen einer Störung unmittelbar als Indikator der Zu- bzw. Abnahme der Erkrankungsrate interpretieren würde, müsste man, so Dornes, auch glauben, dass sich in den Vereinigten Staaten die Zahl der Autisten in den letzten 20 Jahren verzwanzigfacht und die der bipolar gestörten Kinder in zehn Jahren vervierzigfacht habe. Nach Dornes habe in Wirklichkeit in dieser Zeit lediglich die diagnostische Aufmerksamkeit für diese Störungen zugenommen.
Es sei heutzutage leichter, mit einer psychischen Erkrankung frühverrentet zu werden als etwa mit Krebs oder mit einer Herz-Kreislauf-Erkrankung, was lediglich auf die veränderte Begutachtungspraxis zurückgehe.
Die Idee, dass der spätmoderne Mensch aufgrund pausenloser Erreichbarkeit z.B. via Smartphone gestresster sei als früher, was zu einer Zunahme psychischer Störungen führe, gehe auf „dramatisierte Berichterstattung“ zurück, sei irreführend und falsch, denn nur wenige Menschen seien „ständig erreichbar“ [was allerdings gar nicht mit den Erfahrungen praktisch aller meiner Patienten, Bekannten und auch meiner Wenigkeit übereinstimmt, W.E.].
Auch die Idee, dass die Arbeitsbelastung in den letzten Jahrzehnten angestiegen sei, sei eine „Fehlwahrnehmung“. Es fühlten sich nur wenige Menschen von ihrer Arbeit überfordert, und darüber hinaus weniger als noch vor einigen Jahrzehnten. Etwa die Hälfte von 1700 Betriebsräten bezeichneten beispielsweise die Arbeitsbedingungen in ihren Betrieben als „gut“. Außerdem sei auch Unterforderung mit Arbeit und Langeweile bei der Arbeit („Bore-out“) für relevant viele Menschen ein Problem. „Zeitdruck“ in der Arbeit bedeute oft lediglich „ein schlechtes Verhältnis zum Vorgesetzten“ (S. 51).
Burnout hänge primär „von der Persönlichkeitsstruktur ab“ und nicht von den Arbeitsbedingungen (ebenda), daher sei es effektiver, den Individuen beizubringen, wie sie besser mit Stress umgehen könnten, statt die Arbeitsbedingungen zu verändern: „Verhaltensänderung … ist wirksamer als Verhältnisänderungen“ (ebenda). [Ich habe mich beim Lesen gefragt, ob Dornes sich eine körperlich, psychisch oder emotional anstrengende, sehr monotone oder stark gesundheitsbelastende Arbeit, die zu Burnout führen kann, möglicherweise nicht vorstellen kann. W.E.]
Im Laufe der letzten 60 Jahre könne man innerhalb Deutschlands keine Zunahme stressbedingter Symptome finden. Dass die Burnout-Diagnosen sich von 2000 bis 2011 verzwölffacht (!) haben, ginge ebenfalls auf eine gesteigerte diagnostische Sensibilisierung zurück. [Auch wenn es einen solchen Sensibilisierungseffekt geben mag, erscheint es mir doch vermessen, den drastischen Anstieg der Burnout-Diagnosen ausschließlich auf diesen zurückzuführen. Ich habe – bei allem Respekt – den Eindruck, dass Dornes die Daten so zurechtbiegt, dass sie seine Hauptthese bestätigen. W.E.]
Weil sich in den letzten 15 Jahren die Zahl der Psychotherapeuten in Deutschland verdoppelt hat, geht Dornes von einer „angebotsinduzierten Nachfrage“ aus: sei ein Angebot erst einmal da, werde es auch frequentiert (S. 58).
Die Zahl der Diagnosen bestimmter Störungen sei stark von den lokalen Versorgungsgrad bezüglich dieser Störungen abhängig. Beispielsweise sei auffällig, dass in Gegenden, in denen Hochburgen der ADHS-Forschungen und -Behandlung angesiedelt seien, die Zahl der ADHS-Diagnosen weit überdurchschnittlich hoch seien. Das selbe treffe auf die Depressionsziffern zu.
Im Gegensatz zu den Thesen von z.B. Ehrenberg und Byung-Chul Han fördere der Neoliberalismus Depressionen nicht. Depressionen seien in typischen neoliberalen Gesellschaften wie den USA nicht häufiger als beispielsweise in den nordeuropäischen „Sozialstaatsparadiesen“ und habe in beiden Ländern seit den siebziger Jahren nicht zugenommen.
Die drastische Zunahme der Depressionsdiagnosen (die sich zwischen 2002 und 2013 verdoppelt haben) und des Verbrauchs von Antidepressiva (2013 wurden 6 % der Erwerbspersonen in Deutschland mit Antidepressiva behandelt), wie auch von Stimulanzien wie Ritalin (dessen Verbrauche sich seit 2000 in Deutschland verzehnfacht hat) sei zwar unstrittig, gehe aber ebenfalls auf einen Ausgleich einer vorherigen Unterdiagnostik und medikamentösen Unterversorgung sowie auf eine gesteigerte diagnostische Sensibilität zurück, nicht aber auf eine Steigerung der tatsächlichen Erkrankungsraten.
Darüber hinaus habe eine schwedische Studie belegt, dass die Vervielfachung der Verschreibung von Antidepressiva mit einer Reduktion der Suizidrate um 25 % einherging. Der Verbrauch von Beruhigungsmitteln (z.B. Valium) sei dagegen in Deutschland seit 1993 rückläufig.
Auch der in der Presse oft „skandalisiert“ beschriebene „Zerfall der Familie“ sei keineswegs nur negativ zu bewerten, sondern auch als Fortschritt im Sinne einer Integration der Frauen in die Arbeitswelt, verbesserter Arbeits- und Erziehungsbedingungen usw. Eltern hätten noch nie so viel Zeit mit ihren Kindern verbracht wie heute (S. 84).
Die Arbeitswelt und die Situation der Familien habe sich mit der Herausbildung des Neoliberalismus nicht verschlechtert, sondern verbessert, was Dornes mit diversen Bezugsgrößen belegt (z.B. Abnahme schwerer körperlicher und monotoner Arbeit, Abnahme des allgemeinen Krankenstandes, Zunahme der Rentenbezugssdauer usw.)
Dass zwischen 2002 und 2012 die Fälle von Arbeitsunfähigkeit aufgrund von psychischen Diagnosen sowie die Arbeitsunfähigkeitstage und die Früh- bzw. Invaliditätsberentung wegen psychischer Diagnosen erheblich zugenommen haben, führt Dornes wiederum auf einen Einstellungswandel in Bezug auf psychische Leiden und „die zunehmende Bereitschaft“ zurück, „sich deswegen diagnostizieren, krankschreiben, behandeln und berenten zulassen“ (S. 86).
Diverse gesellschaftliche Bedingungen wie etwa die Integration Homosexueller, unehelicher Mütter und Kinder, die Abnahme häuslicher Gewalt und weiblicher Suizide, das Verbot der Prügelstrafe in den Schulen, die Zulassung der Abtreibung, verbesserte Bildungschancen für Arbeiterkinder und Mädchen, verbesserte medizinische Behandlungsmöglichkeiten, Abnahme der relativen Armutsquote, usw. hätten sich in den letzten 30 Jahren erheblich verbessert (S. 87 ff). Weltweit habe die neoliberale Globalisierung zu einer Abnahme der Einkommensunterschiede zwischen erster und dritter Welt geführt [was Daten über das zunehmende, weltweite Auseinanderdriften der Schere zwischen armen und reichen Ländern sowie zwischen dem Besitz der Superreichen und dem der Ärmsten der Welt allerdings diametral widerspricht, W.E.].
Auch die Situation der Menschenrechte, der Minderheitsrechte und der Geschlechtergleichstellung habe sich verbessert, das Nord-Süd-Gefälle und die Armut in den Entwicklungsländern habe abgenommen, die Demokratie in den Entwicklungsländern habe zugenommen. [Ich weiß nicht, ob die Opfer von Boko Haram und des IS hier zustimmen würden. Und wieso erleben wir dann zurzeit eine gigantischen Flüchtlingswelle aus den nordafrikanischen Ländern?]
Dass bestimmte Ängste, z.B. die Angst vor sozialem Abstieg, zugenommen habe, gehe in Wirklichkeit darauf zurück, dass vorher viele Menschen sozial aufgestiegen sein. Dagegen seien andere Ängste wie z.B. die Angst vor Nuklearkrieg zurückgegangen, so dass die „Summe der Angstgefühle“ nicht zugenommen habe (S. 102). [Wieso sehen wir dann zurzeit eine drastische Zunahme der Angst vor Terroranschlägen, sowie von Fremdenangst inklusive entsprechender Anschläge auf Flüchtlingsheime?]
Auch die Zunahme früher bzw. Persönlichkeitsstörungen sei „vielleicht“ nur ein Artefakt veränderter klinischer Diagnosegewohnheiten“ (S. 110).
Bei der oft berichteten Zunahme der psychischen Störungen handele es sich um eine bloß „gefühlte Zunahme“ und einen „Hype um die kranke Seele“ (S. 128).
Politisch sei die Suche nach einer Alternative zum Kapitalismus „verlorene Mühe“, vielmehr sollten wir uns auf „Veränderungspotenzial innerhalb des Kapitalismus konzentrieren“ (Seite 129).
Werner Eberwein