Ist Somatic Experiencing (SE nach Peter Levine) wirksam?
Grundprinzipien/Theorie
Somatic Experiencing ist ein körperfokussierter Ansatz zur Trauma-Behandlung. Peter Levine entwickelte SE aus der Beobachtung, dass Wildtiere trotz lebensbedrohlicher Situationen nur selten traumatisieren – weil sie nach der Bedrohung ihren angehäuften Stress körperlich wieder abbauen (z. B. durch Zittern, schnelle Bewegung). Menschen hingegen unterdrücken oft diese natürlichen Entladungsreaktionen, wodurch unverarbeitete „traumatische Energie“ im Nervensystem steckenbleibt.
SE basiert auf der Biologie von Kampf, Flucht und Erstarrung: Das autonome Nervensystem durchläuft bei Gefahr extreme Erregungszustände, die – wenn sie nicht aufgelöst werden – zu anhaltender Dysregulation führen (Hyperarousal, Dissoziation, Chronifizierung von Trauma). Das Grundprinzip von SE ist die Titration: anstatt den Patienten das Trauma nochmal voll durchleben zu lassen, wird in kleinen, verkraftbaren Dosierungen mit den körperlichen Empfindungen der Erinnerung gearbeitet. Levine spricht von „Pendulation“ – dem Hin- und Herpendeln zwischen sicherem Zustand und aktivierter Erinnerung, wodurch das Nervensystem lernt, die Erregung abzubauen, ohne überflutet zu werden
Zentral ist auch das Konzept der Vervollständigung: Wenn z. B. ein Fluchtimpuls eingefroren wurde, wird er behutsam zu Ende gebracht (etwa indem der Patient in der Vorstellung wegrennt oder mit den Beinen drückt), um dem Körper zu signalisieren, dass die Gefahr vorüber ist.
Typische Techniken
- Körperwahrnehmung im Hier und Jetzt: Zu Beginn einer SE-Sitzung wird häufig der Ist-Zustand erhoben: „Nimm wahr, wie du sitzt; bemerkst du irgendwo Anspannung oder Wärme/Kälte?“. Dieses Gewahrsein der Gegenwart verankert den Patienten im sicheren Moment.
- Ressourcen verankern: Derdie Therapeutin erarbeitet mit dem Patienten sichere innere Orte oder stärkende Körperempfindungen (z. B. „Woran spürst du, dass du jetzt in Sicherheit bist? Wie fühlt sich das in deinem Körper an?“). Diese Ressourcen dienen als Anker während der Konfrontation mit dem Trauma.
- Pendulation: Dann wird vorsichtig ein Traumaanteil angesprochen – oft zunächst nur ein Aspekt, z. B. „Wenn du an den Unfall denkst, wo spürst du etwas im Körper?“. Sobald eine Aktivierung spürbar wird (Herzklopfen, Engegefühl etc.), unterstützt der Therapeut den Patienten, dies wahrzunehmen und nicht gleich wegzudrängen. Anschließend pendelt man zurück zur Ressource: „Nun nimm wieder die Füße auf dem Boden wahr, spür die Sicherheit hier im Raum.“Dieses Hin und Her erlaubt dem Nervensystem, Stück für Stück die Angstenergie abzubauen.
- Entladende Bewegungen: In manchen Fällen treten spontane körperliche Reaktionen auf – Zittern, tiefe Atemzüge, das Bedürfnis, bestimmte Bewegungen zu machen. SE ermutigt, solchen sensorimotorischen Impulsen zu folgen: Wenn etwa der Arm zuckt, könnte es der Impuls sein, sich zu schützen – der Patient könnte langsam eine Abwehrgeste ausführen. Solche Entladungen (wie Beben, Schluchzen, Schwitzen) werden als Zeichen gedeutet, dass der Körper Stress löst.
- Integration: Zum Abschluss hilft derdie Therapeutin dem Patienten, die Erfahrung zu verarbeiten: z. B. verbalisieren, was sich verändert hat im Körper („Meine Brust fühlt sich weiter an“), sodass Verknüpfungen zwischen körperlichem Erleben und emotionaler Bedeutung hergestellt werden.
Zielsetzung
Da ca. 70–80 % der Menschen mit BPS Traumata Missbrauch, Gewalt o.ä. in der Vorgeschichte haben, bietet SE einen Ansatz, die Wurzeln der Störung auf körperlicher Ebene anzugehen. Die Ziele umfassen:
- Traumaintegration: Viele Borderline-Symptome (starke Affektwechsel, Dissoziation, Selbstverletzung) können als Spätfolgen unverarbeiteter Traumata gesehen werden. SE zielt darauf ab, diese tief sitzende physiologische Dysregulation zu lösen. Durch dosiertes Durcharbeiten der traumatischen Körperreaktionen wird das Nervensystem „ent-traumatisiert“. Dies kann Flashbacks und intrusive Stressreaktionen reduzieren, was insgesamt zu mehr innerer Stabilität führt.
- Affektregulation: Indem der Körper lernt, von Hochspannung wieder in Entspannung zu wechseln, verbessern sich die Regulationsfähigkeiten. Patienten spüren beispielsweise, wann sie in einen Hyperarousal-Zustand geraten, und haben durch SE erlebt, dass es einen Weg zurück zur Beruhigung gibt. Dies fördert Vertrauen in den eigenen Körper und vermindert die Angst vor den eigenen Gefühlen.
- Reduktion von Dissoziation: SE arbeitet explizit mit dem Erstarrungsmechanismus (freeze). Viele BPS-Patient*innen dissoziieren bei Überforderung. Durch behutsames Aufwecken des Körpers aus der Starre (z. B. Mikro-Bewegungen) wird die Tendenz, „abzuschalten“, verringert. Die Patienten bleiben eher präsent und können dadurch auch ihre Impulse besser steuern.
- Selbstwirksamkeit & somatische Ressourcen: Ein wichtiger Aspekt ist, dass Betroffene erleben, ihr Körper kann sich selbst regulieren. Dieses neue Körpervertrauen („Ich kann körperlich spüren und aushalten, was passiert, und es geht vorbei“) wirkt sich positiv auf das Selbstwertgefühl aus. Zudem werden Techniken vermittelt, die der Patient selbst anwenden kann, um sich zu beruhigen – etwa einfache Atemfokussierung oder Schüttelübungen, was die Hilflosigkeit verringert.
Werner Eberwein