Ist Achtsamkeitsbasierte Körperarbeit (Yoga, Atemübungen, Biofeedback u.a.) wirksam?

Neben den klassischen körperpsychotherapeutischen Verfahren gewinnen in der Borderline-Behandlung auch achtsamkeits- und bewegungsbasierte Praktiken aus fernöstlicher oder komplementärmedizinischer Tradition an Bedeutung.

Diese Ansätze – z.B. Yoga, Qigong, Atemtherapie, Biofeedback – beruhen auf dem Prinzip, dass Körper und Geist ein zusammenhängendes System bilden und durch gezielte körperliche Übungen mentale Veränderungen erreicht werden können (und umgekehrt). In der Dialektisch-Behavioralen Therapie ist Achtsamkeit ein Kernbestandteil; Körper und Atem dienen dabei als Anker, um im Hier und Jetzt zu bleiben. Yoga (insbesondere Trauma-sensitives Yoga) kombiniert körperliche Bewegung, Dehnungen und Atemfokus mit einer nicht-wertenden Geisteshaltung. Atemübungen (wie Pranayama oder spezifische Atemtechniken z.B. Kapalabhati, Sudarshan Kriya) beeinflussen direkt das autonome Nervensystem – z.B. verlängertes Ausatmen aktiviert den parasympathischen „Beruhigungs“-Zweig. Biofeedback und progressive Muskelentspannung sind technikgestützte bzw. westliche Methoden, verfolgen aber ein ähnliches Ziel: durch Bewusstmachen und Regulieren körperlicher Parameter (Muskeltonus, Herzschlag, Hautleitwert) die psychische Befindlichkeit zu verbessern. Allen gemeinsam ist die Betonung von Selbststeuerung und schrittweisem Training: Der Patient lernt Methoden, um eigenständig seinen Erregungszustand zu beeinflussen und Körperempfindungen achtsam zu beobachten, ohne impulsiv zu reagieren.

Typische Techniken

  • Hatha-Yoga-Übungen: In therapeutischem Kontext werden vor allem einfache Asanas(Körperhaltungen) praktiziert – z.B. der Berg (Tadasana) zur Erdung, Kindeshaltung zur Entspannung, Kriegerpose zur Stärkung des Selbstvertrauens. Wichtig ist die Traumasensibilität: Bestimmte Positionen, die z.B. Enge am Hals erzeugen oder Hilflosigkeit triggern könnten, werden vermieden oder angepasst. Oft werden Yoga-Sequenzen im Atemrhythmus geleitet (Vinyasa-Prinzip), was die Aufmerksamkeit bündelt.
  • Atemübungen: Klassisch sind z.B. tiefe Bauchatmung (Zwerchfellatmung) zum Stressabbau, 4-7-8-Atmung (in 4 Sek. ein, 7 halten, 8 aus) gegen akute Angst oder eben Sudarshan Kriya, eine spezielle Folge von langsamen und schnellen Atemzügen, die in Studien mit BPS-Patienten eingesetzt wurde.
    Auch die sogenannte Wechselatmung (Nadi Shodhana) kann beruhigend wirken. Diese Techniken zielen darauf ab, die physiologische Erregung runterzufahren und gleichzeitig Achtsamkeit zu schulen.
  • Body Scan und Meditation: Der Body-Scan (gedankliches Durchwandern des Körpers mit der Aufmerksamkeit) lehrt, Empfindungen wahrzunehmen, ohne sofort zu reagieren oder zu bewerten. Bei Borderline-Patient*innen wird das oft integriert, um die Schwelle zu senken, sich überhaupt im Körper aufzuhalten. Anschließend können kurze Sitzmeditationen folgen, wo z.B. der Atem oder ein Mantra fokussiert wird.
  • Bewegungstherapeutische Sportelemente: Auch Ausdauersport oder Krafttraining kann achtsamkeitsbasiert durchgeführt werden. In einigen Kliniken gibt es z.B. Jogginggruppen mit Achtsamkeitsfokus (laufen und dabei Atmung spüren) oder einfache Thai-Chi / Qigong-Kurse, welche langsame fließende Bewegungen lehren. Diese verbessern Balance und fördern innere Ruhe.
  • Biofeedback: Hierbei werden körpereigene Signale mit Geräten sichtbar gemacht (Herzrate, Hautleitwert). Patienten lernen, durch Entspannung oder Atmung diese Werte zu beeinflussen. Das schafft Motivation und ein direktes Feedback, welches insbesondere bei Impulsivität hilfreich ist („Ich sehe auf dem Bildschirm, wie mein Stresspegel sinkt, wenn ich langsam atme“).
  • Progressive Muskelentspannung (PMR): Das gezielte An- und Entspannen von Muskelgruppen in bestimmten Reihenfolgen. Es hilft, muskuläre Spannung (die bei BPS häufig durch chronischen Stress erhöht ist) abzubauen und ein besseres Gefühl für Anspannung vs. Entspannung zu entwickeln.

Zielsetzung

Achtsamkeitsbasierte Körperarbeit hat bei Borderline-Patient*innen mehrere Zielrichtungen:

  • Akute Spannungsreduktion: Viele Übungen (Yoga, Atmung, PMR) dienen als Skills, um extreme Anspannung oder Hochstress herunterzuregulieren. Dies hilft unmittelbar gegen selbstverletzungsdruck und starke Erregungszustände. Patienten lernen: „Ich kann durch meinen Atem/meine Bewegung Einfluss auf mein Erleben nehmen“, was die Abhängigkeit von äußeren (oft schädlichen) Beruhigungsstrategien verringert.
  • Verbesserung der Affektwahrnehmung: Indem regelmäßig geübt wird, in den Körper hineinzuspüren, registrieren Betroffene zunehmend frühzeitiger körperliche Anzeichen von Gefühlen. Das ist essentiell, um z.B. Wut zu bemerken, bevor sie zum unkontrollierbaren Ausbruch wird. Die Körperoberflächen-Achtsamkeit (etwa das Fühlen von Luft auf der Haut oder Boden unter den Füßen) schult das rechtzeitige Wahrnehmen innerer Zustände. Dadurch können Emotionen im Vorfeld erkannt und benannt werden, anstatt sie als diffusen Spannungsballon wahrzunehmen.
  • Impulskontrolle und Distresstoleranz: Yoga und Co verlangen Übung und Durchhaltevermögen. Ein Borderline-Patient, der sich in einem schwierigen Asana befindet und den Impuls hat abzubrechen, lernt vielleicht durch Anleitung, „noch drei Atemzüge auszuhalten“. Solche Erfahrungen können die Fähigkeit stärken, unangenehme Zustände auszuhalten, ohne panisch zu reagieren – eine Kernkompetenz der Distresstoleranz. Auch das bewusste Pausieren (Meditation) zwischen Reiz und Reaktion erhöht die Impulskontrolle.
  • Positive Körpererfahrung & Selbstfürsorge: Im Gegensatz zu konfrontativeren Methoden zielt achtsamkeitsbasierte Arbeit auch darauf ab, dem Körper angenehme Erlebnisse zu verschaffen. Etwa Entspannungsgefühle nach PMR, ein Gefühl von Kraft und Flexibilität nach dem Yoga, oder schlicht das Wohlbefinden nach einer ruhigen Atemsession. Borderline-Betroffene berichten oft von chronischem Anspannungsniveau und dem Gefühl, keine angenehmen Körperempfindungen zu haben außer vielleicht Schmerz (in dysfunktionaler Weise). Hier können diese Methoden ihnen zeigen: Es gibt auch Wohlgefühl, Ruhe, sogar Stolz auf den eigenen Körper, wenn man Fortschritte im Training macht. Das fördert die körperliche Selbstakzeptanz(„mein Körper kann etwas Gutes für mich tun“), was wiederum wichtig gegen Selbsthass ist. Eine Studie aus Indien fand z.B., dass insbesondere Kundalini-Yoga (körperlich-spirituelle Übung) signifikant die Stimmung stabilisierte und Gefühle von Leere und Wut bei BPS-Patienten verbesserte
  • Allgemeine Stressresilienz: Regelmäßige Praxis von Atem/Yoga senkt oft die Grundanspannung (gemessen z.B. an niedrigeren Cortisolwerten und besserer Herzratenvariabilität in Studien). Für Borderliner, die schnell unter Alltagsstress dekompensieren, ist das sehr wertvoll. Somit zielen diese Methoden auch auf eine langfristige gesündere Stressverarbeitung und Prophylaxe von Rückfällen.

Werner Eberwein