Gegenübertragung bei Borderline-Persönlichkeitsstörung
Was bedeutet „Gegenübertragung“?
Der Begriff stammt aus der Psychoanalyse und beschreibt die emotionalen Reaktionen des Therapeuten auf den Patienten – bewusst oder unbewusst.
Warum ist Gegenübertragung bei Borderline besonders herausfordernd?
Menschen mit Borderline-Störung zeigen oft intensive Gefühle, plötzliche Stimmungswechsel und komplexe Beziehungsmuster. Diese Dynamiken können beim Therapeuten starke emotionale Reaktionen auslösen.
Typische Formen der Gegenübertragung bei Borderline:
- Retter-Impuls
Der Therapeut möchte den Patienten unbedingt „retten“ oder besonders beschützen. - Zurückweisung oder Ärger
Nach anfänglicher Idealisierung folgt oft eine plötzliche Entwertung – das kann verletzend wirken. - Ohnmacht oder Verwirrung
Das ständige Wechselspiel von Nähe und Distanz, Liebe und Wut, kann verunsichern. - Angst vor Fehlern
Die emotionale Intensität des Patienten kann Druck auslösen, alles „richtig“ machen zu müssen.
Warum ist das Erkennen von Gegenübertragung wichtig?
- Unreflektierte Gegenübertragungen können die Therapie belasten.
- Bewusste Auseinandersetzung damit (z. B. in Supervision) ermöglicht es, die emotionale Dynamik konstruktiv zu nutzen – etwa als Spiegel für Beziehungsmuster des Patienten.
Praxisbeispiel:
Sitzung 1:
Die Patientin sagt:
„Sie sind der erste Mensch, der mich wirklich versteht. Können wir heute länger machen? Ich weiß nicht, wie ich die Woche ohne Sie überstehen soll…“
Innere Reaktion des Therapeuten:
„Sie braucht mich dringend. Vielleicht sollte ich ihr wirklich mehr Zeit geben.“
Sitzung 5:
Die Patientin kommt wütend:
„Sie sind genauso kalt wie alle anderen! Ich wusste, dass ich Ihnen nicht trauen kann.“
Innere Reaktion des Therapeuten:
„Eben war ich noch der Gute – jetzt der Böse. Was habe ich falsch gemacht?“
Analyse:
Diese inneren Reaktionen – Mitgefühl, Verunsicherung, Ärger – sind typische Formen der Gegenübertragung. Sie sind nicht falsch, sondern menschlich. Entscheidend ist, dass der Therapeut sie erkennt und reflektiert – statt unbewusst danach zu handeln.
Werner Eberwein