Gegenübertragung bei Borderline-Persönlichkeitsstörung

Was bedeutet „Gegenübertragung“?

Der Begriff stammt aus der Psychoanalyse und beschreibt die emotionalen Reaktionen des Therapeuten auf den Patienten – bewusst oder unbewusst.

Warum ist Gegenübertragung bei Borderline besonders herausfordernd?

Menschen mit Borderline-Störung zeigen oft intensive Gefühle, plötzliche Stimmungswechsel und komplexe Beziehungsmuster. Diese Dynamiken können beim Therapeuten starke emotionale Reaktionen auslösen.

Typische Formen der Gegenübertragung bei Borderline:

  1. Retter-Impuls
    Der Therapeut möchte den Patienten unbedingt „retten“ oder besonders beschützen.
  2. Zurückweisung oder Ärger
    Nach anfänglicher Idealisierung folgt oft eine plötzliche Entwertung – das kann verletzend wirken.
  3. Ohnmacht oder Verwirrung
    Das ständige Wechselspiel von Nähe und Distanz, Liebe und Wut, kann verunsichern.
  4. Angst vor Fehlern
    Die emotionale Intensität des Patienten kann Druck auslösen, alles „richtig“ machen zu müssen.

Warum ist das Erkennen von Gegenübertragung wichtig?

  • Unreflektierte Gegenübertragungen können die Therapie belasten.
  • Bewusste Auseinandersetzung damit (z. B. in Supervision) ermöglicht es, die emotionale Dynamik konstruktiv zu nutzen – etwa als Spiegel für Beziehungsmuster des Patienten.

Praxisbeispiel:

Sitzung 1:
Die Patientin sagt:
„Sie sind der erste Mensch, der mich wirklich versteht. Können wir heute länger machen? Ich weiß nicht, wie ich die Woche ohne Sie überstehen soll…“

Innere Reaktion des Therapeuten:
„Sie braucht mich dringend. Vielleicht sollte ich ihr wirklich mehr Zeit geben.“

Sitzung 5:
Die Patientin kommt wütend:
„Sie sind genauso kalt wie alle anderen! Ich wusste, dass ich Ihnen nicht trauen kann.“

Innere Reaktion des Therapeuten:
„Eben war ich noch der Gute – jetzt der Böse. Was habe ich falsch gemacht?“

Analyse:

Diese inneren Reaktionen – Mitgefühl, Verunsicherung, Ärger – sind typische Formen der Gegenübertragung. Sie sind nicht falsch, sondern menschlich. Entscheidend ist, dass der Therapeut sie erkennt und reflektiert – statt unbewusst danach zu handeln.

Werner Eberwein