Empathie oder Auseinandersetzung?

Eine ähnliche Dialektik gibt es zwischen Empathie auf der einen Seite und Auseinandersetzung auf der anderen.

Empathie ist zentral für psychotherapeutische Prozesse. Rein verstandesmäßig, durch Tests, Fragebögen oder direkte Befragung kann der Therapeut höchstens auf einer kognitiven Ebene erfassen, was den Patienten beschäftigt und wie es ihm geht. Das Ergebnis kognitiven Erfassens sind abstrakte numerische Kategorien wie zum Beispiel »Depressivität 4, posttraumatische Belastung 8 auf einer Skala von 0 bis 10«.Das sind Zahlen und Begriffe, die den Patienten wie ein Werkstück betrachten und  behandeln: »Eisengehalt 9%, Bleigehalt 24%«. Der Mensch erscheint als Objekt. Über ihn werden scheinbar objektive Aussagen gemacht. Über seine seelische Befindlichkeit wird so gesprochen, als sei sie so etwas wie sein Körpergewicht oder seine Augenfarbe.

Versetzen Sie sich bitte mal in den Patienten: Wenn ihr Therapeut weiß, dass ihre Depressivität »4« und ihre posttraumatische Belastung »8« ist, was weiß ihr Therapeut dann über sie als Mensch? Fühlen Sie sich von diesem Therapeuten gesehen und verstanden?

Nur ein Mensch kann einen Menschen verstehen, indem er sich in die Empfindungen des anderen einfühlt und seine Zustände und Gedanken nachvollzieht. Nur von einem empathischen Gegenüber fühlt sich ein Mensch gesehen und verstanden. Dieses Gesehen-und-verstanden-Werden ist nicht nur ein diagnostisches Instrument, sondern ein zentraler, ja der zentrale Aspekt des psychotherapeutischen Heilungsprozesses.

Dass sich ein Mensch in einer schwierigen Situation nicht gesehen und nicht verstanden fühlt, ist entscheidend für die Entstehung jeder Form von psychischem Leid. Nehmen wir an, ein Kind ist vier Jahre alt und kriegt mit, wie seine Eltern sich anhaltend streiten und schließlich trennen. Das zerreißt dem Kind das Herz. Vielleicht fühlt es sich verantwortlich für die Trennung und tut alles, um die Eltern wieder zusammenzubringen, schafft es aber nicht. Vielleicht verliert das Kind sein Grundvertrauen in die Stabilität von Bindungen. Vielleicht wird es als Erwachsener depressiv, ängstlich oder zwanghaft.

Es ist nicht die Trennung der Eltern an sich (die schmerzhaft genug ist), die zu einer Verfestigung seines emotionalen Leides führt, sondern vor allem, dass die Eltern in ihrem und durch ihren Konflikt nicht genug bei dem Kind sind, ihm nicht genug Aufmerksamkeit geben können, nicht genug Sicherheit, ihm nicht erklären, was passiert und kein Ohr für seinen Schmerz haben. Was zu einer Verfestigung und Verewigung seines Leidens führt, ist ein Mangel an verständnisvoller und haltgebender Begleitung und Unterstützung gerade auch dafür, wie das Kind die Trennung erlebt.

Viele zwischenmenschliche Konflikte gehen auf einen Mangel an Empathie zurück. Empathie darf nicht verwechselt werden mit herablassendem Mitleid (»Lieber Gott, ich danke dir, dass ich nicht bin wie diese…«) oder Mit-Leiden mit der anderen Person unter Aufgabe des eigenen Selbst. Empathie geht nur, wenn man auch sich selbst im Unterschied zum Leidenden wahrnimmt. Empathie setzt Selbstempathie voraus, das heißt, dass man mit sich selbst im Gefühlskontakt ist und bleibt.

Wenn ein Therapeut von einem Borderline-Patienten massiv angegriffen und beleidigt wird und darauf nur mit anhaltendem Einfühlen reagiert, ohne dem Patienten auch auf eine professionelle Weise Grenzen zu setzen, dann ist das nicht Empathie sondern Selbstaufgabe, und dann ist der Burnout nicht weit, und dem Patienten hilft das auch nicht weiter.

Empathie setzt Auseinandersetzung voraus. Ein Psychotherapeut ist nicht nur empathisch mit dem Patienten, er setzt sich auch gemeinsam mit dem Patienten aktiv über die und mit den Schwierigkeiten des Patienten auseinander. Ein Therapeut, der sich immer nur einfühlt und mitfühlt, hilft dem Patienten nicht aus seinen Mustern heraus. In einem nur-empathischen Prozess teilt der Therapeut das Leiden des Patienten. Beide gehen zusammen in die schmerzhafte Welt des Patienten und bleiben zusammen dort stecken.

Ein depressiver Patient, der sich dumpf und sinnlos fühlt, der an nichts mehr Interesse hat und seine Gefühle weitgehend abstellt, braucht es, dass sein Therapeut das depressive Muster nicht nur empathisch spiegelt, sondern sich auch engagiert und konfrontativ damit auseinandersetzt. Der Therapeut darf den Patienten nicht einfach in seinem leidvollen Muster belassen und mit ihm darin verharren. Er muss versuchen, Anstöße dafür zu geben, dass der Patient aus seinem depressiven Loch herauskommt, was der Patient in der Regel will, aber auch nicht will. Dabei muss der Therapeut sich unter anderem mit depressiven Zwangsgedanken (»Hat doch sowieso alles keinen Sinn«) auseinandersetzen, mit depressiven Selbstbildern (»Ich bin nun mal dick und hässlich«), mit depressiven Verhaltensmustern (Inaktivität, Dauerfernsehen usw.). Er stellt diese Muster aktiv infrage und regt den Patienten dazu an, sich mit sich selbst auseinanderzusetzen.

Psychotherapie ist im Kern eine vom Therapeuten eingeladene, unterstützte und begleitete Auseinandersetzung des Patienten mit sich selbst. Gleichzeitig muss sich der Therapeut in diesem Prozess unweigerlich auch mit seinen eigenen Mustern auseinandersetzen. Depressive (sowie ängstliche, abhängige, zwanghafte usw.) Muster sind dem Therapeuten ja auch nicht fremd. Immer wieder stößt der Therapeut an eigene Abwehrprozesse, die es ihm schwer machen, den Patienten zu unterstützen. Wo der Therapeut selbst Angst hat, geht es für den Patienten nicht weiter. Wo der Therapeut durch Scham oder Scheu blockiert ist, ist auch der Patient blockiert. Psychotherapie ist auch eine fortgesetzte Auseinandersetzung des Therapeuten mit sich selbst.

Psychotherapeutische Auseinandersetzung erfordert Einfühlung in das eigene Selbst, besonders in die Bereiche, die sich am Rande des Bewusstseins befinden, also nur vage erfasst und zunächst kaum in Worten beschrieben werden können. Auseinandersetzung setzt Empathie und Selbstempathie voraus. Beide sind Pole einer Dynamik, die einander widersprechen und zugleich ergänzen und die die Bewegung des therapeutischen Prozesses ermöglichen und vorantreiben.

Werner Eberwein