Dissoziale Persönlichkeitsstörung

F.60.2 Dissoziale Persönlichkeitsstörung (ICD-10, 2011)

Eine Persönlichkeitsstörung, die durch eine Missachtung sozialer Verpflichtungen und herzloses Unbeteiligtsein an Gefühlen für andere gekennzeichnet ist. Zwischen dem Verhalten und den herrschenden sozialen Normen besteht eine erhebliche Diskrepanz. Das Verhalten erscheint durch nachteilige Erlebnisse, einschließlich Bestrafung, nicht änderungsfähig. Es besteht eine geringe Frustrationstoleranz und eine niedrige Schwelle für aggressives, auch gewalttätiges Verhalten, eine Neigung, andere zu beschuldigen oder vordergründige Rationalisierungen für das Verhalten anzubieten, durch das der betreffende Patient in einen Konflikt mit der Gesellschaft geraten ist.

Die ICD-10-Kriterien beschreiben Egozentrik, mangelndes Einfühlungsvermögen und defizitäre Gewissensbildung. Kriminelle Handlungen sind also nicht zwingend erforderlich!
Mindestens drei der folgenden Eigenschaften oder Verhaltensweisen müssen vorliegen:
1. herzloses Unbeteiligtsein gegenüber den Gefühlen anderer,
2. deutliche und andauernde verantwortungslose Haltung und Missachtung sozialer Normen, Regeln und Verpflichtungen,
3. Unfähigkeit zur Aufrechterhaltung dauerhafter Beziehungen, obwohl keine Schwierigkeit besteht, sie einzugehen,
4. sehr geringe Frustrationstoleranz und niedrige Schwelle für aggressives, einschließlich gewalttätiges Verhalten,
5. fehlendes Schuldbewusstsein oder Unfähigkeit, aus negativer Erfahrung, insbesondere Bestrafung, zu lernen,
6. deutliche Neigung, andere zu beschuldigen oder plausible Rationalisierungen für das Verhalten anzubieten, durch welches die Betreffenden in einen Konflikt mit der Gesellschaft geraten sind.

Beschreibung

Dissozial sind Menschen dann, wenn sie sich in die Verhaltensnormen der Gesellschaft und ihre soziale Umwelt nicht einfügen können oder wollen und deren Sozialisierungsprozesses missglückt ist. Eine Dissoziale Person ist ein Mensch, der aus der Gesellschaft herausgelöst, nicht mit ihr verbunden ist. Die Menschen sind nicht in der Lage, Beziehungen einzugehen, sie leben auf Kosten anderer. Ihnen ist eigen, dass sie eine emotionale Taubheit, eine Unfähigkeit zu Empathie haben, Wertbezüge können nicht hergestellt werden. Die Menschen werden als dickfellig empfunden, sind emotional unbeteiligt, können nicht sich in anderen Menschen hineinversetzen, sind innerlich unbeteiligt. Sie sind rücksichtslos und werden zur Last und zu sozialer Gefahr. Sie können sich nicht wirklich freuen, nicht wirklich genießen.

Sie haben eine typische Haltlosigkeit, sie können weder an sich halten, noch können sie sich auf äußere Strukturen, Regeln und Grenzen einhalten. Sie setzen sich über alle sozialen, ethischen., moralischen Schranken hinweg, für sie gibt es das alles schlichtweg nicht. Es zählen nur ihre eigenen Vorstellungen, Bedürfnisse, Impulse und Verlockungen. Ihr schrankenloses und rücksichtsloses, schamloses Verhalten ist daher auch nicht begleitet von negativen oder gar „sanktionierten“ Gefühlen. Wenn Sie beschuldigt werden, wird alles rundweg abgelehnt, geleugnet, zurückgewiesen, auf andere projiziert, anderen vorgeworfen oder mit falschen, auch frei erfundenen, „erlogenen“ Erklärungen neutralisiert, „wegrationalisiert“.

Sie sind ständig und leicht reizbar, wenn ihnen etwas nicht gefällt. Sie sind nicht in der Lage, ein Gefühl für das Rechte und Unrechte zu entwickeln, also auch die Entwicklung von einem Gewissen ist rudimentär. Sie kennen keine Verantwortung, auch kein Lernen in moralischen Belangen. Sanktionen und Bestrafungen fruchten kaum. Die dissoziale Persönlichkeitsstörung (oder antisoziale Persönlichkeitsstörung) ist eine psychische Erkrankung und Verhaltensstörung. Typisch für diese Persönlichkeitsstörung sind Verantwortungslosigkeit und Missachtung sozialer Normen, Regeln und Verpflichtungen, fehlendes Schuldbewusstsein sowie geringes Einfühlungsvermögen in andere. Oft besteht eine niedrige Schwelle für aggressives oder gewalttätiges Verhalten, eine geringe Frustrationstoleranz sowie mangelnde Lernfähigkeit aufgrund von Erfahrung. Beziehungen zu anderen Menschen werden eingegangen, sind jedoch nicht stabil.

Menschen mit dissozialer Persönlichkeitsstörung kommen häufiger als im Bevölkerungsdurchschnitt mit dem Gesetz in Konflikt. Laut DSM-5 sind etwa 3 % der Männer und 1 % der Frauen betroffen. Am häufigsten findet sich die antisoziale Persönlichkeitsstörung (teilweise mehr als 70 % der Untersuchten) bei Menschen in Suchtbehandlungszentren, in Gefängnissen und im Maßregelvollzug.

Die antisoziale Persönlichkeit macht sich meist schon im Kindes- und Jugendalter durch Missachtung von Regeln und Normen bemerkbar (z. B. Schuleschwänzen, Vandalismus, Fortlaufen von Zuhause, Stehlen, häufiges Lügen) sowie durch die Unfähigkeit zu sozialem Lernen aus Erfahrungen. Wenn das Verhalten vor dem 10. Lebensjahr beginnt, entwickelt sich diese Persönlichkeitsstörung meist aus einer chronischen Störung des Sozialverhaltens. Im Erwachsenenalter führen Betroffene ihr Verhalten oft fort und fallen häufig durch nur zeitweiliges Arbeiten, Gesetzesübertretungen, Gereiztheit und körperlich aggressives Verhalten, Nichtbezahlen von Schulden, Rücksichtslosigkeit und teilweise auch durch Rauschmittelkonsum auf. Nicht selten landen sie deshalb im Gefängnis.

Kriminalität ist allerdings nicht notwendig für die Diagnose von einer dissozialen Persönlichkeit, da es auch viele angepasste Menschen mit APS gibt, die beruflich erfolgreich sind. In der Berufswelt können dissozialen Persönlichkeitzüge zum Vorteil werden: Ergebnisse einer Studie weisen darauf hin, dass Führungspersonen von Unternehmen häufiger von dieser Störung betroffen sein könnten. Auch darf man nicht den Fehler begehen, bei jedem delinquenten Menschen von einer dissozialen Persönlichkeit auszugehen.

Personen mit einer dissozialen Persönlichkeit sind häufig impulsiv, leicht reizbar und planen nicht voraus. Darüber hinaus zeigen sie keine Reue für ihre Vergehen und Straftaten. Ihre gefühlsmäßigen Beziehungen zu anderen Personen sind so schwach, dass sie sich nicht in Personen hineinversetzen können und keine Schuldgefühle oder Verantwortungsbewusstsein kennen. Dadurch fällt es ihnen schwer, persönliche Grenzen zu respektieren und auf andere Menschen Rücksicht zu nehmen. Ihr eigenes Gefühlsrepertoire (besonders das für negative Gefühle) kann beschränkt sein, weswegen sie Gesten von anderen Personen imitieren. Gefühle anderer hingegen nehmen sie gut wahr und können sie manipulierend ausnutzen, während sie selbst mitunter außergewöhnlich charmant sein können. Sie können aber auch eine spielerische Leichtigkeit ausstrahlen und bei guter intellektueller Begabung unter Umständen recht geistreich, witzig und unterhaltsam sein.

Subtypen

Instrumentell-dissoziales Verhalten

Dieser Subtyp ist vor allem auf Geld, materielle Werte sowie Macht ausgerichtet. Die Personen haben keinen Leidensdruck, sondern ein übersteigertes Selbstvertrauen und Machtgefühl und daher keine Veränderungsbereitschaft. Diese Wesensart hat Ähnlichkeit mit dem, was früher als Psychopathie bezeichnet wurde: Fehlen von Einfühlungsvermögen, Schuldgefühl oder Angst, oberflächlicher Charme und Gefühlsregungen und instabile, wechselnde Beziehungen. Allerdings kann dies manchmal der gesellschaftlichen Norm entsprechen.

Impulsiv-feindseliges Verhalten

Charakteristisch ist eine geringe Handlungskontrolle, hauptsächlich aufgrund starker Impulsivität. Die fehlende Handlungskontrolle ist der Person selbst kaum bewusst. Die gemütsmäßige Beteiligung ist hier hoch; unter anderem sind Wut und Ärger fast immer zu finden. Materieller Gewinn ist hier kein entscheidender Handlungsauslöser. Handlungen von anderen werden ähnlich wie bei der paranoiden Persönlichkeitsstörung vorschnell als negativ, zum Beispiel als Bedrohung oder Provokation gedeutet, und es wird, kombiniert mit geringer Frustrationstoleranz, dementsprechend aggressiv reagiert. Die Handlungen sind dabei spontan und ungeplant.

Ängstlich-aggressives Verhalten

Die dritte Gruppe ist vor allem im forensischen Bereich auffällig. Hier findet man oft deprimierte, schüchterne und ängstliche Personen, die in Extremsituationen Gewaltausbrüche produzieren, welche diejenigen der anderen beiden Subtypen übertreffen können. Außerhalb ihrer Ausbrüche sind die meisten beherrschte und sonst weniger auffallende Menschen. Traumatische Erlebnisse finden sich hier am häufigsten.

Genese

Bowlby konnte einen Zusammenhang zwischen APS und fehlender mütterlicher Zuwendung feststellen. Glueck und Glueck stellen bei den Müttern der Personen mit APS einen Mangel an Zuwendung und eine Neigung zur Impulsivität fest. Außerdem neigten sie zum Alkoholismus. Antisoziale Persönlichkeiten kommen häufig aus zerrütteten Elternhäusern, in denen entweder Gewalt vorherrschte oder in denen sie vernachlässigt wurden. Dazu kommt ein Mangel an Liebe und Fürsorge, der zu fehlender Orientierung seitens des Kindes führt. In vielen Fällen gab es familiäre Konflikte. Viele antisoziale Persönlichkeiten sind in einer Großfamilie auf engem Raum aufgewachsen, erfuhren uneindeutige Erziehungsstile der Eltern, die prosoziales Verhalten nicht oder selten beachtet haben, oder hatten delinquente Geschwister. Ein Vorbote für das im Erwachsenenalter feststellbare antisoziale Verhalten war das Vorhandensein dissozialer Verhaltensauffälligkeiten im Kindesalter.

Eine Studie von Horwitz et al. aus 2001 bestätigt diese Vermutung, dass Betroffene, die im Kindesalter misshandelt worden waren, auch noch nach 20 Jahren eher mit einer antisozialen Persönlichkeitsstörung diagnostiziert werden konnten. Lobbestael et al. verwiesen im Jahre 2010 noch einmal darauf, dass besonders physischer Missbrauch ein erhöhtes Risiko einer antisozialen Störung hervorrufen würde.

Durch diese fehlende Zuwendung konnten die Patienten kein Urvertrauen in der frühen Kindheit aufbauen und ebenfalls keine emotionale Bindung eingehen. Durch diese fehlende Sozialisation entwickeln sie nach dem frühen Kindesalter nur noch Beziehungen, in denen sie Macht ausüben können oder in denen sie sich zerstörerisch verhalten.

Therapie

Prinzipiell wird die Behandlung auf Grund der Komorbiditäten schwierig, da die Störung des Sozialverhaltens meist mit anderen Störungen auftritt, z. B. Suchterkrankungen, einer affektiven Störung oder einer Psychopathie. Der Erfolg vonTherapie hängt von der Schwere des Einzelfalls ab, allerdings sind die meisten Fälle mit geringerer Wahrscheinlichkeit therapierbar. Die Einnahme von Psychopharmaka scheint ebenfalls nur wenig dazu beizutragen, eine antisoziale Persönlichkeitsstörung wirksam und dauerhaft zu verändern.

Zudem ist der Mangel an emotionalem Einfühlungsvermögen des Patienten ein negativer Indikator, der sich auf den psychotherapeutischen Austausch auswirkt. Des Weiteren kann es durchaus vorkommen, dass der Patient den Therapeuten zu manipulieren versucht oder aber vollkommenen Widerstand mittels einsilbiger Antworten zeigt. Durch den schwach ausgeprägten subjektiven Leidensdruck verfügt der Patient über eine geringe Therapiemotivation und externalisiert jegliche Verantwortung. Es ist nicht unüblich, dass der Patient versucht, gegenüber dem Therapeuten zu dominieren bzw. Machtkämpfe ausübt, um ein Gefühl der Kontrolle über ihn zu erhalten.

Eine weitere Komplikation kann für den Therapeuten das Phänomen der Projektion sein, d. h. der Patient nimmt den Therapeuten als unehrlichen und nur an persönlicher Ausbeutung interessierten Menschen wahr. Er projiziert dementsprechend seine eigenen Charakterzüge auf den Therapeuten.

Psychotherapeutische Ansätze

Die psychotherapeutische Behandlung ist die bekannteste Behandlung der antisozialen Persönlichkeitsstörung. Das Ziel hierbei ist es, jene Eigenschaften des Patienten langfristig zu ändern, welche zu Aggressivität, Gewalttätigkeit und kriminellen Handlungsweisen führen können. Dabei sollen die zwischenmenschlichen und sozialen Kompetenzen verbessert werden und eine bessere Kontrolle der Impulsivität erreicht werden. Zudem kann das Einfühlungsvermögen der Betroffenen gefördert werden und dabei insbesondere bezogen auf die Auswirkungen ihrer Handlungen für die betroffenen Personen der fehlenden Empathie.

Des Weiteren lernen die Patienten Strategien kennen, mit denen sie Rückfälle in alte Verhaltensmuster vermeiden können. Dabei wird auf Ansätzen von Schuldbewusstsein aufgebaut. Wenn die Patienten unter einer Komorbidität mit z. B. Depression leiden, sind sie häufig eher bereit, in der Therapie mitzuarbeiten und über Veränderungen zu sprechen.

Tiefenpsychologisch-fundierte Therapie

Diese Therapieform dient vor allem der Unterstützung und bringt viel Strukturierung in den Alltag des Patienten. Im Vordergrund stehen hauptsächlich die Hintergründe der Störung und die Möglichkeiten zur Veränderung, welche dem Patienten nähergebracht werden sollen. Therapieansätze, welche wenig Struktur aufweisen und in denen Deutungen bzw. Ambiguitäten eine wichtige Rolle spielen, werden dagegen als wenig zielführend angesehen.

Kognitive Verhaltenstherapie

Die kognitive Verhaltenstherapie kann sowohl das kriminelle Verhalten verringern als auch Persönlichkeitsmerkmale günstig verändern. Es werden die sozialen Kompetenzen verbessert, was als wichtigstes Element der Therapie gilt. Der Patient soll hierbei lernen wie man eigene Bedürfnisse verwirklicht, aber auch auf die Bedürfnisse anderer Menschen Rücksicht nimmt.

In dieser Therapieform übt der Patient, Wünsche, Absichten und Gefühle anderer Menschen besser wahrzunehmen, die eigene Selbstkontrolle zu verbessern, positive zwischenmenschliche Beziehungen aufzubauen und mit Ärger besser umzugehen. Dies kann beispielsweise mit Rollenspielen, gedanklichen Übungen und Verhaltensexperimenten geübt werden.

Ein weiterer wichtiger Aspekt der Verhaltenstherapie ist die Entwicklung von Mitgefühl für die von ihrem Verhalten betroffenen Personen. Dazu gehört vor allem die Übernahme von Verantwortung für die eigenen Taten, z. B. durch Vorstellung dieser. Bekannt ist die Technik, zwei Briefe zu schreiben, von denen einer eine Stellungnahme aus der Sicht des Betroffenen beinhaltet und der andere eine Entschuldigung bei der betroffenen Person.

All diese Gedanken, Gefühle und Verhaltensweisen werden gebündelt dokumentiert, um Rückfällen vorzubeugen, indem diese bei Androhung eines Rückfalls mit dem Therapeuten erneut aufgearbeitet werden. Dabei werden die eigenen Strategien, mit denen gewalttätigen Handlungen frühzeitig vorgebeugt werden kann, schriftlich festgehalten, sodass gewährleistet ist, dass alle Beteiligten einem Hineingleiten in erneute Gewalt frühzeitig entgegenwirken können.

Quellen
  • https://de.wikipedia.org/wiki/Dissoziale Persönlichkeitsstörung
  • ICD-10-WHO (Version 2019)
  • Längle, A.: Das betrogene Selbst, von sozialen Verlorensein zur dis-sozialen Lösung, Existenzanalyse 23/2/2006

Werner Eberwein