Beruht die Theorie der Spiegelneuronen auf einer Überinterpretation neurobiologischer Befunde?

In seinem Buch »Warum wir verstehen was andere fühlen. Der Mythos der Spiegelneuronen« (Hanser Verlag München, 2015, 364 Seiten) bringt der renommierte Hirnforscher Gregory Hickock eine Reihe von ernstzunehmenden Argumenten gegen die zur Zeit unter Psychologen und Psychotherapeuten überaus verbreitete Theorie der Spiegelneuronen vor.

Hickock ist Professor für Verhaltensforschung an der Universität von Kalifornien. Dort leitet er das Center for Language Science und das Auditory and Language Neuroscience Lab. Hickock ist einer der profiliertesten Kritiker der Spiegelneuronentheorie.

Was sind Spiegelneuronen?

Die Theorie der Spiegelneuronen geht zurück auf Experimente einer Gruppe von Neurowissenschaftlern unter Leitung von Giacomo Rizzolatti an der Universität Parma. Die Gruppe implantierte 1988 Schweinsaffen (einer Makakenart) Elektroden ins Gehirn um die elektrische Aktivität einzelner Hirnzellen zu messen. In einer Region im Frontallappen des Gehirns dieser Affen (»Region F5«) fanden die Forscher 12 von 184 untersuchten Neuronen, die sowohl dann aktiv waren, wenn der Affe eine Handlung ausführte als auch wenn er eine solche beobachtete. Sie nannten diese Neuronen zunächst »Affe-sieht-Affe-tut-Neuronen«.

Zur Bestätigung dieser Theorie wurden Experimente bei Menschen mit magnetischer Reizung des Gehirns durch die Schädeldecke hindurch (»Transkranielle Magnetstimulation«, TMS) durchgeführt. Die motorischen Zentren des Gehirns wurden so stimuliert, dass z.B. ein Finger zuckte. Nun zeigte man der Versuchsperson ein Video, bei der sich ein Finger bewegte, mit dem Effekt, dass der Finger der Versuchsperson bei gleicher magnetischer Reizung stärker zuckte. Dies wurde als Beleg für die Aktivität von Spiegelneuronen gedeutet.

Wie werden die neurobiologischen Experimente mit den Spiegelneuronen interpretiert?

Auf dieser Grundlage entstand eine der weitreichendsten Theorien der Psychologiegeschichte. Die Aufsätze der Gruppe um Rizzolatti gehören zu den am meisten zitierten Artikeln aus Psychologie und Hirnforschung in den letzten 15 Jahren.

Die Spiegelneuronentheorie interpretiert den Befund, dass die Beobachtungen einer Handlung zu Aktivitäten im motorischen System des Gehirns führen als »Simulation« der beobachteten Handlung im motorischen System des Gehirns. Diese führe dazu, dass der beobachtende Affe den Sinn der beobachteten Handlung ohne schlussfolgernde Verarbeitung durch höhere geistige Funktionen unmittelbar verstehen (neuronal »spiegeln«) könne.

Die Region F5 bei Makaken liegt anatomisch ungefähr da, wo beim Menschen das Broca-Areals liegt, das bei der motorischen Produktion von Sprache eine Rolle spielt. Daraus schlossen Rizzolatti et al analog, dass sich im Broca-Areal des Menschen vermutlich ebenfalls Spiegelneuronen befänden. Daraus wiederum schlossen sie, dass die Spiegelneuronen unter anderem »das Geheimnis der menschlichen Sprache aufdecken« könnten.

Mit der Spiegelneuronentheorie wird inzwischen alles und jedes erklärt, unter anderem:
• das Verständnis vom Handeln anderer Menschen,
• das Verständnis vom Wesen anderer Menschen,
• mentale und emotionale Bindungen,
• Liebe,
• die Gefühlsverbindung zwischen Menschen,
• komplexe soziale Interaktionen,
• Imitation,
• soziale Wahrnehmung,
• Sprache,
• Empathie,
• Theory of Mind, Mentalisierung,
• Gedankenlesen,
• Wertschätzung für Musik und Kunst,
• das Mitfiebern von Zuschauern bei Sportveranstaltungen,
• Stottern,
• Autismus,
• das Ausmaß der Erektion beim Mann,
• das buddhistische Mitgefühl (die sogenannten »Dalai-Lama-Neuronen«),
• Schizophrenie,
• Hypnose,
• die sexuelle Orientierung,
• politische Einstellungen,
• Fettsucht,
• Persönlichkeitsstörungen,
• die Fähigkeit zur Selbstreflexion,•
• Führungsqualitäten,
• die Archetypen des kollektiven Unbewussten nach C. G. Jung,
• Drogenmissbrauch,
• Vetternwirtschaft
… und vieles andere.

Da Autisten große Schwierigkeiten in der sozialen Interaktion haben, wurde rückgeschlossen, dass bei ihnen eine Schädigung des Spiegelneuronensystems vorliegen müsse.

Gegenargumente gegen die Interpretationen der Experimente mit Spiegelneuronen

Wenn man sich bewusst macht, was Empathie eigentlich ist, wird schnell klar, dass sie unmöglich durch die Arbeitsweise einzelner Zellen erklärt werden oder sogar darin verortet sein kann. Dazu ein Beispiel:

Ein Patient erzählte mir kürzlich, dass sein Vater wegen Betruges zu einer mehrjährigen Haftstrafe ohne Bewährung verurteilt worden sei. Wenn ich versuche, mich als Therapeut empathisch in diesen Patienten hineinzuversetzen, ist mir die Lebensgeschichte des Patienten im Hintergrund gegenwärtig. Ich weiß, dass man zu einer Gefängnisstrafe bei Betrug nur in einem besonders schweren oder Wiederholungsfall verurteilt wird. Mir ist bewusst, in welche schwierige Situation der Patient kommt, der selbst sehr viel Wert auf die Einhaltung sozialer Regeln legt. Ich muss mir dabei bewusst sein, was soziale Regeln sind, und was deren Einhaltung im Allgemeinen und für diesen speziellen Patienten bedeutet. Mir ist bewusst, dass seine Mutter sich vor Jahren vom Vater getrennt hat. Ich weiß, dass der Vater für den Patienten als Kind ein Vorbild war, dass er ihn immer bewundert hat und bis heute liebt, und wie schwer es für ihn ist, zu ertragen, was nun mit seinem Vater passiert. Ich muss von vorn herein über ein sprachlich organisiertes kognitives Begriffssystem verfügen, um überhaupt zu verstehen, was der Patient mir gerade mitgeteilt hat. Es gibt noch endlos viele weitere Aspekte und Ebenen, die in meine Empathie mit diesem Patienten eingehen.

Es sollte klar werden, dass Empathie unmöglich von einem einzigen spezifischen Zelltyp im motorischen Kortex realisiert werden kann. Empathie ist ein überaus komplexer intersubjektiver Prozess, der zwar biologische (ebenso übrigens wie chemische, physikalische usw.) Prozesse voraussetzt, aus diesen aber nicht erklärbar ist.

Bemerkenswert ist, dass weitreichende Interpretationen in Bezug auf den menschlichen Geist und spezifisch menschliche Fähigkeiten aus Experimenten mit Tieren abgeleitet werden, die weder sprechen können, noch ein Verständnis für Musik usw. (siehe oben) haben, und die nicht gerade besonders mitfühlend miteinander umgehen.

Da zur Ableitung einzelner Neuronen Elektroden ins Gehirn implantiert werden müssen, sind solche Experimente beim Menschen nur unter sehr speziellen Bedingungen möglich, nämlich während Operationen am offenen Gehirn (z.B. wegen medikamentös nicht behandelbarer, schwerer Epilepsie). Die einzige bisher berichtete entsprechende Untersuchung bei 21 Patienten ergab spiegelähnliche Neuronenaktivitäten, allerdings in einem anderen Gehirnbereich als bei den Schweinsaffen, nämlich in der »supplementär-motorischen Rinde« (SMA). Dies ist der bisher einzige direkte Befund, der die Existenz von Neuronen mit spiegelähnlichen Funktionen beim Menschen stützt.

Studien, bei denen die Broca-Region des Menschen bei der Ausführung von Greifhandlungen per Positronen-Emissions-Tomografie (PET) untersucht wurden, ergaben, dass
a) der Teil der Broca-Region, der der Region F5 bei den Schweinsaffen entspricht (»Pars triangularis«), bei der Beobachtung von Handlungen nicht aktiv war, und dass
b) der Teil der Broca-Region, der bei der Beobachtung von Handlungen aktiv war, während der Ausführung derselben Handlung nicht aktiv war,
was gegen die Spiegelneuronentheorie spricht.

Menschen mit Schädigungen im Broca-Areal haben bekanntermaßen Schwierigkeiten bei der Produktion von Sprache, aber keine Probleme beim Sprachverständnis. Menschen mit einer (z.B. durch einen Unfall, Schlaganfall oder Tumor) geschädigten Broca-Region können nicht oder nur sehr schwer aktiv sprechen, aber sie verstehen Sprache gut. Wenn aber die Aktivität der vermuteten Spiegelneuronen im Broca-Areal für das Sprachverständnis erforderlich wäre (wie Rizzolatti et al vermuten), müsste ihre Schädigung das Sprachverständnis unmöglich machen.

Wie ist es möglich, dass Menschen erfassen können, in welcher Stimmung ein Hund oder eine Katze ist, auch wenn wir weder schnurren noch bellen, weder unsere Ohren aufstellen noch einen Schwanz einkneifen können? Selbst von Geburt an blinde Menschen können den emotionelen Ausdruckscharakter verschiedener Arten von Hundegebell zutreffend erfassen. Also kann weder die visuelle Wahrnehmung noch die motorische Spiegelung bei dieser »zwischenartlichen« Empathie eine Rolle spielen.

Ebenso kann ein Hund erfassen, was sein Herrchen gerade tut, wenn er ein Stöckchen wirft, obwohl der Hund die Bewegung des Werfens nicht ausführen und daher auch nicht neuronal »simulieren« kann. Offenbar ist es nicht erforderlich, eine Handlung motorisch ausführen zu können um ihr Ziel und ihre kommunikative Bedeutung zu erfassen. Motorische Spiegelung kann dabei also keine ausschlaggebende Rolle spielen.

Menschen mit einer sogenannten »Apraxie« (z.B. durch Schlaganfall oder durch Alzheimer) können keine zielgerichteten Bewegungen (z.B. einen Stift in die Hand nehmen) auf eine verbale Aufforderung hin ausführen. Dennoch können diese Patienten Handlungen, die sie beobachten, erkennen und korrekt zuordnen. Nach der Spiegelneuronentheorie sollte das nicht möglich sein.

Dasselbe trifft auf Patienten mit dem sogenannten »Möbius-Syndrom« zu, die aufgrund einer angeborenen Gesichtslähmung nicht in der Lage sind, einen mimischen Gesichtsausdruck zu produzieren, die aber den emotionalen Gesichtsausdruck anderer Menschen korrekt interpretieren können. Motorische Spiegelung kann also auch hier nicht im Spiel sein. (Zur Erinnerung: Spiegelneuronen müssen motorische Nervenzellen sein, sonst könnten sie ja nicht auch bei der Handlungsausführung »feuern«.)

In vielen Fällen wäre eine neuronale motorische Spiegelung hinderlich, etwa wenn ein Torwart die Schussbewegung bei einem Elfmeter analog spiegeln würde statt in die entsprechende Ecke des Tores zu hechten.

Bei neueren Experimenten mit transkranialer Magnetstimulation des Motorcortex wurden die Versuchspersonen darauf trainiert, mit einem anderen Finger zu zucken als dem, der im Video gezeigt wurde, was problemlos gelang. Ebenso war es möglich, einen Finger auf die Stimulation hin stärker zucken zu lassen, wenn die Versuchspersonen auf neutrale Bilder zum Beispiel von Wolken oder Häuser konditioniert wurden. Offenbar sind hier Konditionierungsprozesse im Gang, die über das reine Spiegeln durch entsprechend spezialisierte Neuronen hinausgehen.

Die Spiegelneuronen der Schweinsaffen in Parma wiederum reagierten auch dann, wenn die beobachtete Bewegung mit einem Werkzeug durchgeführt wurde, zum Beispiel mit einer Zange, obwohl die Affen solche Werkzeuge weder benutzen noch benutzen können.

In Studien zur Sprachwahrnehmung wurde festgestellt, dass einen Monat alte Säuglinge und sogar Chinchillas in der Lage sind, Sprachlaute nach ihrem Kontext (»kategorial«) und nicht nach ihrem unmittelbaren Lautklang zu unterscheiden, obwohl sie selbst nicht sprechen können. Auch das spricht gegen die Theorie der motorischen Spiegelung.

Weiterhin gibt es viele Möglichkeiten, eine Bewegung auszuführen um etwas Bestimmtes zu erreichen (zum Beispiel, um eine SMS zu schreiben). Um die Absicht einer Handlung »spiegeln« zu können müssten die Spiegelneuronen alle Handlungen, die zu einem bestimmten Ziel führen, mit diesem Ziel neuronal verkoppeln können. Das scheint nicht sehr plausibel zu sein.

Ebenso wenig ist es plausibel, dass Spiegelungsprozesse beim Spracherwerb sich auf die Sprachmotorik der Sprechakte beziehen. Dagegen spricht auch, dass Hirnschädigungen in dem Bereich, der für die motorische Spracherzeugung zuständig ist (»Dysarthrie«, »infantile Cerebralparese«), keine Probleme mit der Spracherkennung erzeugten. Daher wurde die sogenannte Motortheorie der Spracherkennung schon in den 1980er Jahren aufgegeben.

Selbst wenn die linke Gehirnhälfte durch Injektion eines Schlafmittels in die linke Halsschlagader das Broca-Areal (das sich in der linken Gehirnhälfte befindet, und in dem sich die Spiegelneuronen befinden sollen) komplett betäubt wurde, können die Versuchspersonen zwar nicht mehr sprechen, aber ihre Fähigkeit zum Sprachverständnis bleibt weitgehend erhalten.

Dasselbe zeigen die Erfahrungen von Menschen, die von Geburt an gelähmt sind und dennoch sowohl Sprache als auch soziale Interaktionen verstehen können.

Motortheorien können weder erklären, wie wir abstrakte Begriffe wie z.B. »Demokratie« oder »Neurobiologie« erfassen können, die aus konkreten motorischen Handlungen nicht verstanden werden können, noch wie wir in der Lage sind, eine Melodie als dieselbe zu erkennen, auch wenn sie zuerst auf einem Klavier und dann auf einer Flöte gespielt wird.

Gegen die Theorie eines Defekts des Spiegelneuronensystems bei Autismus (oder der milderen Variante, dem Asperger-Syndrom) spricht auch, dass hunderte von Schlaganfall-Patienten mit einer Schädigung der Broca-Region (mitsamt dem Spiegelneuronensystem) zwar motorisch nicht mehr sprechen können, aber ansonsten keinerlei autistischen Symptome aufweisen.

Ein reines »Spiegeln« von Handlungen erklärt nicht, wie es möglich ist, Handlungen zu verstehen. Woher weiß ich zum Beispiel, was es bedeutet, wenn jemand eine nach einem Messer greift? Das ist höchst kontextspezifisch, eine (hypothetische) motorische Spiegelung hilft bei diesem Verständnis nicht weiter. Was bedeutet eine geballte Faust: einen drohenden Angriff, einen Ausdruck von Kraft oder ein politisches Statement? Ohne höhere geistige Funktionen und nur als motorische Spiegelung ist die Bedeutung dieser Gesten nicht verstehbar. Ähnliches gilt für nahezu alle anderen Handlungen, die nur in einem sozialen Kontext Sinn machen, insbesondere im Bereich komplexer empathischer Prozesse.

Interessanterweise reagierten in einer Reproduktion der Experimente von Rizzolatti 30 von 47 Spiegelneuronen selektiv auf die Richtung der beobachteten Bewegung also sehr selektiv auf bestimmte Bewegungen. Was das bedeutet ist zur Zeit noch unklar.

Der Hype um die Spiegelneuronen lässt sich dadurch erklären, dass die Theorie sich zunächst einmal plausibel anhört und eine sehr einfache (biologistische) Erklärung für eine Vielzahl von Fähigkeiten des menschlichen Geistes zu liefern versprach.

Nur: Eine kritische Durchsicht der neurobiologischen Befunde stützen diese (Über-)Interpretationen nicht!

Alternative Erklärungen für die Aktivität der Spiegelneuronen

Hickock schlägt vor, die Aktivität der Spiegelneuronen als Ergebnis von einfachem Assoziationslernen zu verstehen, also als klassisches Konditionieren. Das Spiegeln wäre demnach keine »eingebaute« neurophysiologische Funktion der Spiegelzellen, sondern ein erlernter Vorgang. Schweinsaffen würden sich selbst ständig bei den entsprechenden Bewegungen visuell beobachten (zum Beispiel die eigenen Hand anschauen wie sie nach einem Gegenstand greift). Wenn sie nun die Hand eines Menschen sehen, die nach einem Gegenstand greift, ist diese Bewegung mit vorherigen Lernerfahrungen assoziiert. Diese assoziative Verknüpfung wird in der Aktivität derjenigen Hirnzellen deutlich, die dann (missverständlich) als »Spiegelneuronen« bezeichnet werden. In Wirklichkeit handelt es sich, so Hickocks Hypothese, um die neuronale Repräsentation einer erlernten assoziativen Verknüpfung. Die Verknüpfung stammt aus dem experimentellen Training selbst: Die Forscher aus Parma haben ihren Affen neuronale Spiegelungsfunktion antrainiert.

Spiegelneuronen wären dann nichts anderes als sensomotorische Assoziationsneuronen.

Die Fähigkeit, Handlungen zu verstehen und noch mehr die Fähigkeit, soziale Interaktionen interpretieren zu können (»Mentalisieren«, »Theory of Mind«, »Empathie«) hängt offensichtlich »irgendwie« mit menschlichen Hirnaktivitäten zusammen. Diese Prozesse scheinen aber im Gehirn weiträumig vernetzt zu sein und nicht an einem bestimmten Ort oder gar in extra dafür spezialisierten Zellen stattzufinden.

Alternative Erklärung für Autismus

Hickock schließt ab mit einer (für mich durchaus plausiblen) Hypothese für die Ursache von Autismus. Woher Autismus kommt, wie er sich entwickelt, warum er in den letzten Jahrzehnten deutlich häufiger geworden ist, warum er deutlich mehr Jungens bzw. Männer betrifft und wie er behandelbar ist, gilt zurzeit als ungeklärt.

Die gängige Erklärung von Autismus und des Asperger-Syndroms geht von einem Defekt oder einer Unterfunktion der Hirnbereiche aus, die mit sozialer Wahrnehmung und Interaktion zusammenhängen, darunter vor allem des Spiegelneuronensystems. Die Folge sei ein Defizit im Bereich der Mentalisierungs- und Empathiefähigkeit und der »Theorie of Mind« (der Zuschreibung mentaler Prozesse an andere Personen).
Hickock zitiert Experimente mit Ratten, die noch im Mutterleib mit dem Antiepileptikum Valproinsäure ausgesetzt wurden. Diese Tiere entwickelten Symptome, die menschlichem Autismus verblüffend ähnelten. Autismus tritt bei Menschen, deren Mütter während der Schwangerschaft Valproinsäure erhielten, 11 bis 100 mal häufiger auf als in der Durchschnittsbevölkerung. Nachweislich sind die neuronalen Netzwerke im Gehirngewebe dieser Ratten übererregbar und hyperplastisch. Die Tiere sind sensorisch überempfindlich, haben ein besseres Gedächtnis, reagieren überstark auf soziale Reize und neigen in der Folge zu Angst und Vermeidungsreaktionen.

Hickock zitiert eine ganze Reihe von Selbstberichten von autistischen Menschen, die ihr Erleben nicht als Mangel an sozialer Wahrnehmung, sondern als ein Überflutetwerden durch soziale Reize beschreiben, z.B.:

»Es tut mir weh, in die Gesichter anderer Menschen zu sehen. Besonders die Augen und Münder. … Augen sind sehr intensiv und zeigen Emotionen. … Es kann gruselig sein, wenn man mit Augen gesucht wird. Das ist wie Hypnose, … und das wird richtig stressig.«

Wenn Tests zum Verstehen sozialer Interaktionen einfach genug sind, schneiden autistische Menschen dabei häufig sogar besser ab als nicht-autistische Menschen.

Hickocks Hypothese ist, dass Autisten und Asperger-Patienten unter einer Überfunktion ihrer sozialen Wahrnehmungen leiden mit dem Effekt, dass sie sich sekundär aus sozialen Interaktionen zurückziehen, weil sie diese als Reizüberflutung erleben. Das widerspricht diametral der Theorie eines Defekts des Spiegelungsystem bei Autismus.

Werner Eberwein