Wie funktioniert Wahrsagen und Hellsehen?
„Wahrsager“, „Hellseher“ und „Mentalisten“ arbeiten mit einer Psychotechnik, die als „Cold Reading“ bezeichnet wird. Sie erwecken damit Eindruck, z.B. Gedanken lesen zu können oder etwas über die Vergangenheit oder die Zukunft des Kunden zu wissen. Es handelt sich um eine Kommunikationstechnik auf Basis von Pacing und Kalibrierung, also nicht um etwas Übernatürliches, sondern um die praktische Anwendung eines Sets von psychologischen Techniken bzw. um ein „Spiel“, in dem man so tut, als könne man etwas über einen anderen Menschen sagen, was man eigentlich nicht wissen kann, weil man ihn noch nie gesehen hat.
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In der Praxis kommt der „Kunde“ in der Regel mit einer Lebensfrage zum „Reader“, und dieser gibt ihm auf diese Frage eine Antwort – manchmal ohne die Frage zu kennen. Die Technik basiert auf einer Kombination aus
- „offenen Formulierungen“, die immer oder fast immer stimmen,
- der präzisen Beobachtung der nonverbalen Signale des Kunden,
- der Beobachtung der Reaktion des Kunden auf Aussagen oder Aufforderungen des Readers,
- professioneller Erfahrung,
- Lebenserfahrung sowie
- Nutzung statistischer Wahrscheinlichkeiten.
Man unterscheidet zwischen
- „Open-Eyed-Mind-Readers“, also Personen, die die entsprechenden Methoden im Wissen dessen verwenden, was sie tun, sie also als ausgefeilte Kommunikationstechniken verstehen, und
- „Shut-Eyed-Mind-Readers“, also Personen, die vorgeben oder selbst daran glauben, übersinnliche Fähigkeiten zu haben oder beispielsweise daran, dass z.B. Tarot-Karten tatsächlich etwas über den Kunden aussagen.
„Hot Reading“ (im Gegensatz zum Cold Reading) wird von manchen professionellen Unterhaltungskünstlern, aber auch von Betrügern angewandt. Hier sammelt der Reader heimlich Vorinformationen über den Kunden, beispielsweise über das Internet, durch Privatdetektive, durch „Spione“ oder Kameras im Vorraum oder durch einen Einwegspiegel im Wartezimmer und gibt dann dem Kunden Informationen zurück, von denen der Kunde nicht weiß, dass bzw. woher der Reader sie hat.
Um es deutlich zu sagen: Für die Existenz von Hellsehen, Vorhersagen der Zukunft oder Gedankenlesen gibt es keinerlei wissenschaftliche Nachweise. Bestenfalls kann man daran glauben, aber bewiesen wurde – entgegenlautenden Behauptungen zum Trotz – bisher niemals etwas Entsprechendes.
Dagegen ist es durchaus plausibel – und das wird durch die Ergebnisse der Sozialpsychologie gestützt – dass es Prozesse der unterschwelligen, unbewussten Kommunikation z.B. durch subtile nonverbale Signale („psychosomatische Resonanz“) gibt, über die ein erfahrener Reader auf empathische und technisch versierte Weise Informationen über den Kunden erhält, deren Quelle nicht offensichtlich ist, und deren Herkunft ihm unter Umständen auch selber nicht unmittelbar bewusst ist.
Kernbestandteil des Cold Reading sind „offenen“ Formulierungen, die wir auch in der Hypnose-Induktion z.B. zur „Abdeckung aller Möglichkeiten“ verwenden, und die praktisch immer stimmen. Häufig werden dafür von Readern Formulierungen verwandt, die Polaritäten aufspreizen, z.B.:
- „Sie sind/waren/werden sein XYZ … aber auch YBC ….“
- „Sehen Sie, diese Tarot-Karte steht für einen Menschen mit einem stabilen, gefestigten Charakter, der weiß, was er will, und die zweite Karte steht für Offenheit neuen Erfahrungen gegenüber, Flexibilität und emotionale und intellektuelle Beweglichkeit.“
… Damit sind praktisch alle Möglichkeiten der entsprechenden Polarität abgedeckt, und man findet in den sehr „offenen“ Formulierungen in jedem Fall etwas, von dem man sich zutreffend beschrieben fühlt.
Die Fragen, mit denen die meisten Kunden zu einem Reader kommen, stammen ja in der Regel aus einigen wenigen Themenbereichen bzw. Problemstellungen:
- Liebe/Partnerschaft,
- Arbeit/Karriere,
- Sozialleben/Freunde,
- Familie/Kinder,
- Körper/Krankheiten.
Der Reader kann in allgemeiner Form zunächst diese Themenbereiche aufzählen bzw. andeuten, und – ständig die Reaktionen des Kunden auf seine Aussagen beobachtend – den Bereich allmählich einengen, bis er dann relativ genau sagen kann, in welchem Bereich sich die Frage bewegt, mit der der Kunde zu ihm kommt. (Diese Methode wird im NLP als „Kalibrieren“ bezeichnet.)
Der Reader macht dann Aussagen, die auf alle Menschen mit hoher Wahrscheinlichkeit zutreffen, oder zumindest auf die Untergruppe, der er den Kunden zuordnet (z.B. „weiblich, Anfang 50, etwas mollig, aus einfachen Verhältnissen stammend“).
Er bindet seine Aussagen in ein überzeugungsförderndes Setting ein (Einrichtung des Raumes, Gestaltung des Readings als Ritual, Sprechweise).
Er unterfüttert die Sitzung mit einer Reihe von „Gimmicks“ wie Tarot-Karten, Horoskope, Rituale des Gedankenlesens, eine Kristallkugel, Handlinien, Kartenlegen, Runen, Werfen von Münzen oder Steinen usw. Diese Gimmicks dienen der Ablenkung, also der Bindung der Aufmerksamkeit des Kunden, aber auch zum Zeitschinden (wenn dem Reader gerade nichts Inhaltliches einfällt), und zur Delegation der Verantwortung auf das Gimmick („Es tut mir leid – nicht ich, sondern die Karten sagen das …“).
Wenn die Aussagen des Readers nicht zutrifft, wird es entweder als etwas geframed, was „die Karten“ oder Ähnliches (also die Gimmicks) sagen, oder es wird „sekundären Anteilen“, „ungenutzten Potenzialen“ o.ä. zugeordnet (z.B.: „Der Aszendent steht für Möglichkeiten, die man hätte, aber noch nicht lebt.“), oder aber als etwas, was sich in der Vergangenheit ereignet hat oder sich in der Zukunft ereignen könnte. Auf diese Weise konstelliert der Reader einen Kontext, in dem seine Aussagen scheinbar immer zutreffen.
Wichtig ist dabei die präzise Beobachtung des Kunden durch den Reader, auch in der peripheren (und dadurch nicht so offensichtlichen) Wahrnehmung, insbesondere die Wahrnehmung der nonverbalen Reaktionen des Kunden auf die Aussagen des Readers. Ein erfahrener Reader erhält eine Fülle von subtilen Informationen durch den körperlichen und stimmlichen Ausdruck, die Kleidung, die Körperhaltung und den Körperausdruck, Schmuck, die Sprechweise, den Haarschnitt, Kosmetik usw. des Kunden.
Manche Reader bitten den Kunden während des Readings, einfache Entscheidungen zu fällen, und nutzen diese dann „diagnostisch“, zum Beispiel: „Soll ich aus Ihrer Hand lesen, wollen wir die Karten befragen, oder bevorzugen Sie die Iris-Diagnose?“ Auch eine skeptische Haltung des Kunden kann in das Reading eingebaut und ihm subtil als anscheinend auf übersinnliche Weise empfangene Information zurückgespiegelt werden.
Wichtig ist, dass der Reader den Kunden stets das sagt, was der Kunde hören will bzw. zu hören erwartet, es aber auf eine Weise sagt, die den Kunden verblüfft, und dabei konkrete Aussagen vermeidet (weil die verkehrt sein könnten).
Reader gehen davon aus, dass sich die Menschen weit weniger voneinander unterscheiden, als sie glauben, und dass die wichtigen Lebensereignisse und -fragen vieler Menschen relativ ähnlich sind, auch wenn sie sich dessen nicht bewusst sind.
Reader nutzen den sog. Barnum-Forer-Effekt der „Täuschung durch persönliche Validierung“, der die Neigung von Menschen bezeichnet, vage und allgemeingültige Aussagen über die eigene Person als individuell zutreffende Beschreibung zu akzeptieren. Der Begriff ist nach dem Zirkusgründer P. T. Barnum benannt. Barnum-Aussagen sind beispielsweise in Zeitungshoroskopen zu finden. Die Testreihen des amerikanischen Psychologen B. R. Forer beziehen sich auf solche Zeitungshoroskope.
Wenn der Reader etwas sagt, was eindeutig oder gefühlt für den Kunden nicht zutrifft, dann unterliegt das teilweise im Laufe der folgenden Tage im Kunden der Amnesie. Der Wunderglaube des Kunden und sein Bedürfnis nach magischen, mystischen Erlebnissen hat ebenfalls einen relevanten Anteil an der retrograden Begradigung des Readings in Richtung auf subjektiv erlebte Stimmigkeit.
Wenn der Reader Voraussagen für die Zukunft macht oder Hinweise für ein für den Kunden günstiges Verhalten gibt, so können diese Voraussagen oder Hinweise außerdem als Suggestionen wirken und die Lebenskonstellation erst herstellen oder fördern, die der Reader scheinbar zutreffend vorhergesagt hat.
Eine spannende Übung zur Demonstration dieser Effekte ist es, einem fremden Menschen ein zureichend zutreffendes „Reading“ zu geben, indem man scheinbar die Lebensgeschichte, Probleme, innere Konflikte usw. des Kunden detailliert beschreibt, dabei nur auf konkrete Namen, Daten, Orte und Fakten verzichtet, sich also relativ allgemein ausdrückt („weil das in den Karten sooo eindeutig nie zu sehen ist …“), dabei aber in Wirklichkeit entweder
- über sich selbst spricht, oder
- einen guten Freund beschreibt,
… woraufhin sich der Kunde erstaunlicherweise nach dem Barnum-Effekt oft sehr zutreffend und individuell beschrieben fühlt.
Im Cold Reading werden also Techniken verwandt, die auch erfahrenen Hypnotiseuren vertraut sind, und diese werden eingebunden in ein „magisches“ Setting und verknüpft mit Materialien (z.B. Karten usw.), so dass ein überzeugendes Setting entstehen kann, was zu den bisweilen begeisterten und verblüfften Berichten von Sitzungen bei Wahrsagern, Hellsehern usw. führt.
Werner Eberwein