Was bedeutet „Gegenübertragung“ im Zusammenhang mit Narzissmus?

Gegenübertragung ist ein Begriff aus der Psychoanalyse. Er beschreibt die emotionalen Reaktionen und unbewussten inneren Prozesse, die eine Therapeutin oder ein Therapeut im Kontakt mit einer Patientin oder einem Patienten erlebt.

Bei Menschen mit narzisstischer Persönlichkeitsstörung – oder stark narzisstischen Anteilen – kann die Gegenübertragung besonders intensiv und herausfordernd sein. Typische emotionale Reaktionen der Therapeutin oder des Therapeuten sind:

  • Gefühle von Abwertung oder Inkompetenz: Man fühlt sich plötzlich klein, unwirksam oder unbedeutend. Das kann ein Spiegel der narzisstischen Abwehrmechanismen des Patienten sein.
  • Bewunderung oder Idealisierung: Der Therapeut erlebt sich als besonders wichtig oder einzigartig für den Patienten – ein Hinweis auf dessen Bedürfnis nach Bestätigung und Bewunderung.
  • Wut, Ärger oder Frustration: Anspruchsverhalten, emotionale Kälte oder mangelnde Empathie des Patienten können Gereiztheit und Hilflosigkeit auslösen.
  • Retterfantasien oder übermäßiges Engagement: Der Wunsch, dem Patienten unbedingt helfen oder ihn „retten“ zu wollen, kann Ausdruck unbewusster Projektionen sein, die vom Patienten ausgehen.

Warum ist das wichtig?

Gegenübertragung ist nicht einfach eine störende Nebenerscheinung – im Gegenteil: Wenn sie bewusst wahrgenommen und reflektiert wird, kann sie ein wertvolles diagnostisches Instrument sein. Sie ermöglicht einen Zugang zu unbewussten, nicht ausgesprochenen Aspekten der inneren Welt des Patienten.

Beispiel 1: Überlegenheitsgefühle und Abwertung anderer

Ein Patient mit stark narzisstischen Zügen kommt zur Therapie. Er spricht ausführlich darüber, wie unfähig andere Menschen sind – Kollegen, Vorgesetzte, frühere Therapeutinnen. Gleichzeitig stellt er sich selbst als besonders klug, überlegen und unverstanden dar.

Reaktion der Therapeutin (Gegenübertragung):
Sie spürt plötzlich Unsicherheit: Bin ich ihm überhaupt gewachsen? Gleichzeitig ist sie innerlich gereizt – der Patient zeigt kaum Interesse an echter Beziehung. Vielleicht denkt sie sogar: Warum kommt er überhaupt, wenn er alles besser weiß?

Was geschieht hier?
Die narzisstische Abwehr des Patienten (Selbstüberhöhung, Abwertung anderer) löst beim Gegenüber Gefühle aus, die der Patient selbst nicht zulassen kann: Unsicherheit, Wut, Minderwertigkeit. Die Therapeutin erlebt also etwas, das tief mit dem inneren Erleben des Patienten verbunden ist.

Therapeutischer Nutzen:
Wenn sie dies erkennt und innerlich Abstand gewinnt, kann sie z. B. sagen:
„Mir fällt auf, dass Sie viele Menschen in Ihrem Umfeld als inkompetent empfinden. Ich frage mich, ob es für Sie manchmal schwer ist, sich wirklich verstanden oder angenommen zu fühlen.“
So wird die Gegenübertragung zum Tor in die emotionale Welt des Patienten – statt in ein unbewusstes Reaktionsspiel zu münden.

Beispiel 2: Kontrolle und emotionale Distanz

Eine Patientin mit narzisstischer Problematik erscheint perfekt gestylt, kontrolliert und sachlich. Sie spricht kaum über Gefühle, sondern vor allem über Leistungen, Erfolge und Statussymbole. Auf persönliche Nachfragen reagiert sie mit kühler Distanz oder Ironie.

Reaktion der Therapeutin (Gegenübertragung):
Sie bemerkt in sich eine leise Traurigkeit und ein Gefühl von Einsamkeit – obwohl die Patientin davon nichts direkt zeigt. Gleichzeitig verspürt sie den Impuls, besonders freundlich und bestätigend zu sein – fast, als müsste sie die Patientin „wärmen“, obwohl diese das gar nicht einfordert.

Was geschieht hier?
Die Therapeutin nimmt unbewusst etwas von der verborgenen Not der Patientin wahr. Ihre Gegenübertragung signalisiert: Hinter der perfekten Fassade scheint jemand zu stecken, der sich einsam und unverbunden fühlt.

Heilender Umgang:
Die Therapeutin reagiert nicht nur auf die äußere Perfektion, sondern auf das, was sie zwischen den Zeilen spürt. Sie sagt zum Beispiel:
„Obwohl Sie sehr klar und kontrolliert sprechen, habe ich manchmal das Gefühl, dass es in Ihnen auch einen verletzlicheren Teil gibt – vielleicht einen, der sich allein fühlt. Könnte das sein?“

Die Patientin ist zunächst irritiert – aber etwas in ihr fühlt sich gesehen, vielleicht zum ersten Mal. Die Gegenübertragung hat der Therapeutin geholfen, etwas Verborgenes zu erspüren. Ihre Resonanz ermöglicht eine tiefere emotionale Verbindung – und das wirkt heilend.

Werner Eberwein