Was ist Übertragung und Gegenübertragung?
Grundsätzlich handelt es sich bei den als „Übertragung“ und „Gegenübertragung“ bezeichneten Prozessen um Phänomene, die in jeder Form von Kontakt zwischen Menschen auftreten. Gemeint ist damit, dass alte Erfahrungenen in zwischenmenschlichen Beziehungen und Bindungen, alte Gefühle, Erwartungen, Fantasien, Wünsche und Ängste in aktuellen Beziehungen reaktiviert werden.
Die vielfältigen Bezüge zwischen der alten Dynamik, so wie sie real damals gewesen ist, ihrer bewussten und unbewussten Verarbeitung und Interpretation durch die Beteiligten und den unterschiedlichen Formen ihrer Reaktivierung in aktuellen Interaktionen stellen ein komplexes System dar, in dem vielerlei Faktoren und Ebenen eine Rolle spielen. Das Grundprinzip ist jedoch recht einfach:
[seminar_links]
- So wird beispielsweise ein Mensch, der als Kind die Erfahrung gemacht hat, dass seine Eltern ihn in seiner Entwicklung einfühlsam und zugleich gut abgegrenzt begleitet haben, und die zuverlässig für ihn dagewesen sind, wahrscheinlich eine eher stabile Selbst- und Bindungsstruktur entwickeln und später, als Erwachsener davon ausgehen, dass andere Menschen ihm zunächst einmal wohlgesonnen und in ihrem Bindungsverhalten zuverlässig und vertrauenswürdig sind.
- Ein Mensch dagegen, der als Kind erlebt hat, dass seine Eltern emotional unzuverlässig, überbedürftig, instabil, unempathisch oder grenzüberschreitend waren, wird wahrscheinlich eine eher instabile Selbst- und Beziehungsstruktur entwickeln und als Erwachsener erwarten bzw. befürchten, dass andere Menschen ebenso mit ihm umgehen, wie seine Eltern damals, und versuchen sich durch verschiedene, mehr oder weniger automatisierte Selbstschutzmaßnahmen davor zu schützen und dabei unbewusst die alte Konstellation tendenziell wiederherstellen.
Alte Beziehungsmuster werden in jeder aktuellen Beziehung bewusst oder unbewusst reaktiviert, also auch in der therapeutischen Beziehung zwischen Patient und Psychotherapeut. Dieser Zusammenhang ist in allen psychotherapeutischen Richtungen bekannt, wird aber unterschiedlich benannt. In der humanistischen Psychotherapie spricht man beispielsweise von reaktivierten Beziehungsmustern, in Psychoanalyse und Tiefenpsychologie von Übertragung und Gegenübertragung. Dort spielen die entsprechenden Dynamiken die entscheidende Rolle im therapeutischen Prozess.
Bewusst oder unbewusst kommt der Patient zum Therapeuten mit einer Angst (und der Erwartung) einer Wiederholung der pathogenen Beziehungsdynamiken, die sein Leiden verursacht hat (vor „Retraumatisierung“) und zugleich mit einem Wunsch nach einer Beziehungserfahrung, die geeignet ist, die alte, leidvolle Erfahrung und ihre Folgen im Hier und Jetzt zu korrigieren („korrektive Erfahrung“).
Der alte, Freudianische Begriff von Übertragung und Gegenübertragung
Das Wort „Übertragung“ verwandte Sigmund Freud, der Begründer der Psychoanalyse, erstmals 1895 in den „Studien über Hysterie“. Aber erst in der Darstellung des „Falles Dora“ 1905 definierte er ihn als psychoanalytischen Begriff.
Freud entdeckte den Prozess der Übertragung durch intensive Verliebtheitsgefühle von Patientinnen ihrem Therapeuten gegenüber, die sogenannte „Übertragungsliebe“. Diese intensiven Emotionen erschreckten die Begründer der Psychoanalyse zunächst, weil sie ihre eigene psychische Stabilität (und ihre ehelichen Bindungen) bedrohten, so zum Beispiel so geschehen bei Eugen Breuer, einem frühen Kollegen von Freud, der eine frühe analytische Kur abbrach, als seine Patientin sich in ihn verliebte, was die Ehe mit seiner Frau zu bedrohen begann.
Im Rahmen des ursprünglichen psychoanalytischen Triebkonzepts erschien diese Form der Übertragung als „Besetzung“ des Analytikers mit „sexueller Triebenergie“ der Patientin, was mit einer Wiederholung früherer Bindungswünsche und Traumatisierungsängste z.B. in Bezug auf den Vater der Patientin einherging. Für Freud war die so konzipierte Übertragung sozusagen ein Fenster in die Vergangenheit der Patientin, weil man in ihren dem Therapeuten gegenüber reaktivierten Gefühlen anscheinend unmittelbar eine pathogene Dynamik mit frühen Bindungspersonen erfassen und dadurch analysieren konnte („objektivischer Übertragungsbegriff“).
Der Analytiker selbst erschien hier als bloßer Empfänger der Übertragungen des Patienten, sozusagen als unbeschriebenes Blatt, Spiegel, auf den die Übertragungswünsche und -ängste des Patienten gerichtet sind.
Klassisch wird unterschieden zwischen:
- positiver Übertragung, also der Übertragung „positiver“ Beziehungsanteile wie Liebe, Vertrauen, Zärtlichkeit usw. und
- negativer Übertragung, also der Übertraung „negativer“ Beziehungsanteile wie Hass, Misstrauen, Abscheu usw.
Erst später, zunächst nur andeutungsweise und unter großem Zögern, mussten Freud und die ersten Psychoanalytiker erkennen, dass der Analytiker keineswegs nur ein reines Bewusstsein war, sondern dass er auch emotional auf die Übertragungen der Patienten reagierte. Die emotionale Reaktion des Therapeuten auf die Übertragungen der Patienten wurde als „Gegenübertragung“ bezeichnet. (Den Begriff „Gegenübertragung“ verwandte Freud erstmals 1909 in einem Brief an C. G. Jung zur Bezeichnung von dessen agierter sexueller Affäre mit seiner Patientin Sabina Spielrein.)
Die Gegenübertragung des Analytikers galt also zunächst als einfaches „Echo“ auf die Übertragung des Patienten, wobei der Analytiker durch seine Gegenübertragung seine „neutrale Position“ zu verlieren drohte, weshalb es erforderlich zu sein schien, die Gegenübertragung zu bekämpfen und möglichst auszuschließen, oder doch zumindest zu kontrollieren, was nur auf der Basis einer langen und intensiven Lehranalyse möglich zu sein schien.
Die Prozesse von Übertragung und Gegenübertragung erschienen zunächst als massives Hemmnis, dann aber als wichtigstes und leistungsfähigstes Werkzeug der analytischen Therapie, weil in ihnen die alten Konflikte des Patienten unmittelbar in der Patient-Therapeut-Beziehung erlebbar, dadurch bewusstseinsfähig und kommunizierbar wurden.
Die klassische, mechanistische Konzeption von Übertragung und Gegenübertragung steckt heute immer noch im Wortteil „Gegen-“ des Begriffs „Gegenübertragung“. Sie prägt bis heute das untergründige Verständnis und die Praxis vieler, vor allem älterer Psychoanalytiker, auch wenn die psychoanalytische Theorie und Praxis inzwischen wesentlich weiterentwickelt ist.
Klassisch wird unterschieden zwischen
- komplementärer Gegenübertragung, die das „Gegenstück“ zur Übertragung des Patienten darstellt (z.B. Größenphantasien des Therapeuten als Reaktion auf Unterlegenheitsgefühle des Patienten) und
- konkordanter Gegenübertragung, was eine gleichartige, übereinstimmende Reaktion des Therapeuten bezeichnet (z.B. Gefühle von Wärme und Verbundenheit als Reaktion auf gleichartige Empfindungen des Patienten).
Im klassischen psychoanalytischen Verständnis entsteht aufgrund der Übertragungsprozesse des Patienten entsteht eine „Übertragungsneurose“ des Patienten gegenüber dem Analytiker, innerhalb derer die „nicht angemessenen“ Übertragungsgefühle, -fantasien, -wünsche und -ängste des Patienten dem Analytiker gegenüber Ausdruck der psychischen Probleme des Patienten sind. Im ursprünglichen, Freudianischen Verständnis solle der Therapeut darauf nicht persönlich betroffen reagieren oder gar darauf eingehen, sondern die Übertragungen des Patienten mit „freundlicher Neutralität“ auf ihre biografische Herkunft hin („genetisch“) analysieren.
Später wurden auch „Eigenübertragungen“ des Therapeuten auf den Patienten entdeckt und beschrieben, in denen der Therapeut unbewältigte eigene „Triebwünsche“ und Ängste auf den Patienten übertrug. Im klassischen Verständnis müsse und könne die Eigenübertragung durch Supervision und Eigenanalyse des Therapeuten bearbeitet und überwunden werden.
Die aktuelle, intersubjektive Konzeption von Übertragung und Gegenübertragung
Die moderne Psychoanalyse übernimmt allmählich mehr und mehr Konzepte, die vom klassischen, Freudianischen Mainstream der Psychoanalyse zunächst ausgegrenzt und zum Teil massiv bekämpft wurden, insbesondere:
- die Selbstpsychologie (Kohut)
- die relationale Psychoanalyse (Mitchell, Aron)
- die intersubjektive Psychoanalyse (Orange, Jaenicke)
- die Bindungstheorie (Bowlby)
- die Säuglingsforschung (Beebe & Lachmann, Stern)
- die Mentalisierungstheorie (Fonagy)
Zunehmend wird realisiert, was auch in Studien über die Wirkfaktoren von Psychotherapie (und in der humanistischen Psychotherapie [Rogers] bereits in den 1960-er Jahren) herausgearbeitet wurde, nämlich dass der wirkungsvollste Faktor einer psychotherapeutischen Behandlung in der Erfahrung des Patienten besteht, mit dem Therapeuten eine warmherzig zugewandte und empathische Beziehung herstellen und den Therapeuten als emotional zuverlässig „verfügbar“ erleben zu können.
In der aktuellen Entwicklung der psychoanalytischen Theorie und Technik setzt sich allmählich eine intersubjektive Konzeption von Übertragung und Gegenübertragung durch. Die Beziehung zwischen Patient und Therapeut wird nicht mehr im Paradigma einer „Ein-Personen-Psychologie“ gesehen, in der nur die Psychodynamik des Patienten allein „analysiert“ wird, während der Analytiker als Person lediglich als neutraler Beobachter gilt. Vielmehr wird heute (zumindest in der Theorie) die therapeutische Dyade als von Anfang an und unweigerlich intersubjektiver Prozess zwischen zwei Personen mit ihrer jeweils eigenen Geschichte, Gefühlen, Fantasien, Wünschen und Ängsten und mit ihren interagierenden Abwehrprozessen betrachtet, also als interaktives System.
Die Annahme eines strikt neutralen, bloß „beobachtenden“ Standpunktes, gleichsam außerhalb der therapeutischen Interaktion wird als in der Praxis nicht realisierbare Fiktion bzw. Idealisierung betrachtet, weil die therapeutische Beziehung immer auch von den Gefühlen und Beziehungsmustern des Therapeuten beeinflusst („mitkonstruiert“) ist. Der Analytiker kann als Teilnehmer innerhalb eines dyadischen Systems nur das beobachten, was er selbst beständig auch mit verursacht.
Diese Sichtweise hat zu einer allmählichen Umwälzung nahezu aller Grundkonzeptionen der psychoanalytischen Therapie und Behandlungstechnik geführt, wobei die Debatte darüber zurzeit in der Fachliteratur, auf Kongressen und in der Anwendungspraxis noch voll im Gange ist.
Es ist noch nicht allzu lange her, dass Analytiker vermieden, ihren Patienten die Hand zum Gruß zu reichen und vor den Sitzungen ihre Eheringe auszogen, um die Übertragung der Patienten nicht zu „kontaminieren“. Die Diskussionen um den Einfluss der Persönlichkeit des Analytikers auf die Übertragungsprozesse ist auch heute noch lange nicht zu Ende, beispielsweise bei der Frage nach dem Umgang mit Geschenken, Weihnachtskarten usw.
Allmählich setzt sich die Erkenntnis durch, dass der „durchanalysierte“, „konfliktentstörte“ Analytiker mit „genitalem Charakter“ und „reifer Liebes- und Konfliktfähigkeit“ ein unerreichbares Ideal ist, mit dem in Wirklichkeit charakterliche Schutz- und Abwehrmaßnahmen des Analytikers auf der professionellen Ebene mit guten Begründungen fachlich rationalisiert werden. Das klassische, objektivische Übertragungskonzept, das davon ausgeht, dass der Analytiker von den Wünschen, Ängsten und Aggressionen des Patienten „in Wirklichkeit“ gar nicht gemeint ist, sondern lediglich Projektionsfläche verdrängter alter Konflikte des Patienten, dient in Wirklichkeit dem Schutz des Analytikers vor realen Kränkungen und Verletzungen durch den Patienten, erfüllt also auf Seiten des Analytikers Abwehrfunktionen.
Die frühen Begründer der Psychoanalyse waren in dieser Hinsicht weit weniger zurückhaltend: Freud hielt seiner Patientin Marie Bonaparte beispielswiese in den Sitzungen gelegentlich die Hand zur Beruhigung, Melanie Klein bot einer Patienten während der Sitzung ein Gläschen Sherry an.
Wenn sich der Analytiker beispielsweise im Bemühen um „regelgerechte“ Neutralität in anhaltendes Schweigen zurückzieht, so wird auch das vom Patienten unweigerlich auch als eine Beziehungsbotschaft wahrgenommen und zum Beispiel als Desinteresse, Verheimlichung eigener Reaktionen, Hängenlassen o.ä. interpretiert und ist insofern de facto selbst eine aktive (und unter Umständen retraumatisierende) Gegenübertragungsinszenierung, also alles andere als neutral.
In der Patient-Therapeut-Beziehung stellt sich vom ersten Moment an (häufig sogar schon vor der ersten Begegnung) durch komplexe, überwiegend prä- und nonverbale Interaktionen und permanente wechselseitige Regulierung („Affektabstimmungen“) ein gemeinsames Übertragungs-Gegenübertragungs-System her, bei dem nicht festgestellt werden kann, was genau darin vom Patienten und was vom Analytiker kommt.
In diesem Verständnis wird der psychoanalytische Prozess zu einer Reflexion dessen, was gerade jetzt in der Beziehung zwischen Patient und Therapeut geschieht, also auch zu einer Untersuchung dessen, inwiefern das aktuelle Erleben des Patienten mit dem Therapeuten zusammenhängt und eine Reaktion auf den Therapeuten sein könnte. Psychoanalyse wird zur „Beziehungsanalyse“ (Bauriedl), zur Bearbeitung von Konflikten in der aktuellen Patient-Therapeut-Beziehung.
Vergleichende Untersuchungen von Analysen mit dem selben Patienten bei verschiedenen Analytikern ergaben sehr große Unterschiede im Stil, den Inhalt und Prozessen der Analysen, ebenso die zum Teil komplett unterschiedlichen Einschätzungen derselben Situation mit einem Patienten in analytischen Fallkonferenzen oder Intervisionsgruppen, sogar von Analytikern derselben Schulenorientierung.
Krampfhaftes Bemühen des Analytikers nach (in Wirklichkeit unerreichbarer) Neutralität führt zu einem Zustand der Entfremdung und einem Verlust von Authentizität, Vitalität und Spontaneität. Der Therapeut ist dann nicht er selbst, er wird zum „falschen Selbst“ (Winnicott), zur Funktionsmaske, zum Deutungsroboter, zum „schafsgesichtigen Blechaffen“ (Krutzenbichler & Esser). Ob, inwieweit, wie und zu welchem Zweck der Analytiker allerdings seine eigenen Gefühle, und insbesondere seine Gegenübertragungsgefühle dem Patienten mitteilen sollte („Selbstenthüllung“), ist auch heute noch in der psychoanalytischen Gemeinde massiv umstritten.
Der Schwerpunkt der psychoanalytischen Arbeit verlagert sich von den „genetischen“ Deutungen der Ursprünge der aktuellen Schwierigkeiten des Patienten in seiner frühen Kindheit mehr und mehr hin zur Untersuchung der aktuellen Dynamik zwischen Therapeut und Patient im Hier-und-Jetzt vor dem Hintergrund der alten Dynamiken („aktualgenetische Deutung“).
Der Analytiker kommt nicht umhin, in emotionale Interaktionen mit dem Patienten eingebunden zu werden, innerhalb derer „Handlungsdialoge“ stattfinden, die heute nicht mehr als zu unterdrückender Ausdruck der Gegenübertragung verstanden werden, sondern als unvermeidliche und hilfreich zum Verstehen der in die therapeutische Beziehung hinein externalisierten Dynamiken. Der Therapeut muss dabei bereit sein, in den Interaktionsdynamiken mit dem Patienten bestimmte Rollen zu übernehmen, ja er kommt gar nicht umhin, in Rollenzuschreibungs- und Übernahmeprozesse (Sandler) im Rahmen der Übrtragungsdynamik eingebunden zu werden.
Auch dass der Therapeut gelegentlich seine Gefühlszustände und -reaktionen dem Patienten auf selektive und dosierte Weise mitteilt, ist heute in der Psychoanalyse kein Tabu mehr, sondern wird als mögliche Methode diskutiert und praktiziert.
Der Analytiker kann bei entsprechend strukturstabilen Patienten auch auf spielerische Weise vorübergehend die Übertragungsprojektionen des Patienten probeweise annehmen und „übernehmen“, indem er mit dem Patienten imaginativ durchspielt, wie es wäre, wenn die Übertragung des Patienten zutreffen würde, was zu einer erheblichen Intensivierung der Übertragungsdynamik führen kann.
Besonders bei struktur- bzw. persönlichkeitsgestörten Patienten führen unbewusste Manipulationen und Provokationen des Patienten mitunter zu heftigen Gefühlsreaktionen und Handlungsimpulsen beim Therapeuten, die diesen dazu bringen können, sich in gewissem Umfang tatsächlich so zu fühlen und zu verhalten, wie es einem dem Patienten selbst unerträglichen und daher in den Therapeuten hinein „verlagerten“ Anteil entspricht. Dieser als „projektive Identifizierung“ bezeichnete Prozess ist umso intensiver, je stärker die Struktur- bzw. Persönlichkeitsstörung des Patienten ausgeprägt ist. In der modernen Psychoanalyse wird versucht, auch das Konzept der projektiven Identifizierung intersubjektiv, also als interaktiven Prozess zwischen zwei beteiligten Personen zu verstehen und entsprechend umzudefinieren.
Hinzu kommen Eigenübertragungen des Analytikers, also Übertragungen alter, unaufgelöster Dynamiken, die vom Patienten im Analytiker reaktiviert werden, deren Ursprünge aber primär in der Persönlichkeit und der Lebensgeschichte des Therapeuten selbst liegen, was ebenfalls, auch nach intensiver und jahrelanger Lehrtherapie in gewissem Umfang unvermeidlich bleibt und daher fortgesetzt reflektiert und kontrolliert werden muss.
Ein „Mitagieren“ des Therapeuten in der emotionalen Interaktion mit dem Patienten, d.h. das emotionale Involviertwerden des Therapeuten, die gegenseitige Affektansteckung, die Entstehung von Handlungsdialogen, Inszenierungen und „Enactments“ (Heisterkamp) wird heute als sowohl unvermeidlich als auch als fruchtbarer und hilfreicher Aspekt des psychoanalytischen Prozesses betrachtet.
Auch die Widerstände des Patienten gegen das Auftauchen oder Aufdecken unbewussten Materials, gegen die Entwicklung der Übertragungsbeziehung oder gegen die Auflösung der Übertragung werden heute nicht mehr einseitig auf der Seite des Patienten gesehen, sondern als Aspekt einer dyadischen, intersubjektiven Dynamik und in ihrem Zusammenhang mit (ebenfalls unvermeidlichem) temporären Empathieversagen auf Seiten des Therapeuten.
Die Bearbeitung von emotionalen Fehlabstimmungen und Empathieversagen des Therapeuten führt zu einem fortgesetzten Prozess der Unterbrechung und Wiederherstellung der „therapeutischen Hintergrundbeziehung“ (Bettighofer).
Da es für den Therapeuten emotional sehr belastend sein kann, negative, positive und ambivalente Übertragungen des Patienten sowie seine eigenen Reaktionen darauf auszuhalten, in seinem Inneren zu verarbeiten und auf angemessene Weise in den therapeutischen Prozess einzubringen (zu „containen“), werden bestimmte Aspekte der Übertragungs-Gegenübertragungs-Dynamik auch in langfristigen Therapien oft ignoriert und dann unterschwellig agiert.
Ausdruck des „Gegenübertragungswiderstandes“ des Therapeuten kann es zum Beispiel sein, wenn der Therapeut wiederholt zu spät kommt, lustlos zuhört, in Gedanken abschweift, wichtige biografische Fakten vergisst, den Patienten anhaltend missversteht, aggressive oder subaggressive Deutungen gibt oder im Gegenteil überengagiert, überempathisch oder überidentifiziert mit dem Patienten ist, was zu einer Verbündung mit dem Widerstand des Patienten und damit zu einer Blockade des therapeutischen Prozesses werden kann.
Besonders mit persönlichkeitsgestörten Patienten kann dies zu einer Rollenumkehr im therapeutischen Prozess führen, also beispielsweise dazu, dass der Therapeut Aspekte des Leidens des Patienten in seinen Alltag hinein mitnimmt, dass der Patient das Gefühl hat, er müsse den Therapeuten schützen, sich um ihn kümmern, oder im Extremfall dazu, dass er das wirklich tut und der Therapeut das auch annimmt. Eine solche „Gegenübertragungsneurose“ ist natürlich in höchstem Maße problematisch und muss unbedingt in der Supervision des Therapeuten bearbeitet werden.
Werner Eberwein