Was heißt „Einladung an das Unbewusste“ in der humanistischen Hypnotherapie?

In der humanistische Hypnotherapie steht der der Respekt vor der Autonomie und der Freiheit des Patienten sowie die Anregung eigener Bewältigungsfähigkeiten und Gestaltungskräfte des Patienten im Zentrum.

Es wird kein hypnosuggestiver Druck oder gar Zwang auf den Patienten ausgeübt.

Der Patient wird nicht manipuliert oder gedrängt, etwas Bestimmtes zu tun oder nicht zu tun, zu erleben, zu denken oder zu fühlen. Die Erfahrungs- und Entscheidungsmöglichkeiten des Patienten werden in keiner Weise eingeschränkt oder begrenzt. Der Patient wird nicht auf raffinierte Weise zu irgendetwas gebracht oder von etwas abgehalten. Humanistische Hypnotherapie ist eine Einladung, neue Erfahrungen zu machen und eine Anregung an das Innere des Patienten zu kreativen Wachstumsprozessen und zu autogener, verantwortlicher Lebensgestaltung.

Man muss sich das vorstellen, wie eine Einladung zu einer Geburtstagsparty. Wenn man auf freundliche Weise dazu eingeladen wird, wobei einem jede Freiheit gegeben wird, die Einladung auch abzulehnen, dann ist man – wenn man das grundsätzlich möchte – gern bereit, der Einladung zu folgen. (Ohne Einladung wird man aber vielleicht nicht kommen.) Jeder Druck, jeder Zwang, jede Manipulation wäre fehl am Platze und würde die Bereitschaft, der Einladung zu folgen, zunichtemachen. Daher gibt man in der humanistischen Hypnotherapie dem Patienten die größtmögliche Freiheit, ja man fordert den Patienten dazu auf, einer suggestiven Einladung zu folgen oder auch nicht zu folgen oder sie innerlich so umzuinterpretieren, dass sie den Bedürfnissen des Patienten optimal entspricht.

Für einen humanistischen Hypnotherapeuten ist jede nur erdenkliche Reaktion des Patienten auf seine suggestiven Einladungen in Ordnung, wünschenswert und im Sinne des hypnotherapeutischen Prozesses. Wenn der Patient einer Suggestion des Therapeuten folgt, dann ist das in Ordnung. Wenn im hypnosuggestiv angesprochenen Unbewussten des Patienten gerade Prozesse aktiviert sind, die in eine andere Richtung gehen, dann ist das ebenso in Ordnung und ausdrücklich erwünscht. Wenn im Patienten zurzeit aus welchen Gründen auch immer „nichts“ geschieht (oder nichts, was an der Oberfläche des Bewusstseins und des Verhaltens aktuell wahrnehmbar wäre), dann ist das ebenso vollkommen in Ordnung. Diese grundsätzliche Akzeptanz aller Reaktionen des Patienten ist nicht als raffinierter Trick zu verstehen, um den Patienten dann doch letztlich in eine gewünschte Richtung zu „bugsieren“, sondern ehrlich genau so gemeint. Das Vertrauen auf die autogene Selbstgestaltungskraft des Patienten und ihre aktive Förderung steht im Mittelpunkt der Therapie.

Beispiel: Einen 43jährigen Installateurmeister, dessen Vater ein überzeugter, überaus autoritärer SED-Funktionär der mittleren Parteiebene gewesen war, dessen militärisch-autoritärem Erziehungsstil der Patient als Kind nichts entgegenzusetzen hatte, leitete ich mit behutsamen, offenen Formulierungen in Trance: „Wenn und soweit das für dich jetzt stimmt, und nur wenn dein Inneres einverstanden ist, könntest du deinem Körper jetzt erlauben, gerade so viel Anspannung loszulassen, wie das jetzt im Moment für dich angemessen ist. Es kann sich sehr angenehm anfühlen, sich ein wenig einsinken zu lassen, jetzt oder später aufmerksam zuzuhören, sich in Träume versinken zu lassen oder einfach achtsam zu erleben, was gerade geschieht …“ usw. Ich pace hier also gerade nicht sein gewohntes autoritäres Muster, sondern bemühe mich im Gegenteil darum, ihm größtmögliche Freiheit zu lassen (insbesondere die Freiheit, meinen suggestiven Einladungen NICHT zu folgen) und möglichst keinerlei Druck auf ihn auszuüben.

In der humanistischen Hypnotherapie gehen wir davon aus, dass nachhaltige psychotherapeutische Fortschritte beim Patienten sich nur aus der dialogisch geförderten, kreativen Eigendynamik des Patienten heraus entwickeln können. Die hypnotischen Suggestionen des Therapeuten sind als Einladungen an das Unbewusste des Patienten zu verstehen, neue Selbsterkundungs- und Bewältigungswege zu beschreiten und kreative emotionale Umlagerungen oder konkrete Lösungsprozesse für aktuelle Schwierigkeiten zu entwickeln. Die Suggestionen des Therapeuten bringen daher häufig verzögerte oder unerwartete Lösung- und Reifungsprozesse im Patienten hervor.

Beispiel: Eine 42jährige NGO-Mitarbeiterin wurde vor 10 Jahren am Ende ihrer letzten Ehe nach einer von Ihrer Seite vollzogenen Trennung von ihrem damaligen Mann auf brutale Weise vergewaltigt und dabei im Genitalbereich erheblich körperlich verletzt. In einer Sitzung berichtet sie relativ distanziert, fast unterkühlt, von diesem „Ereignis“. Dann verharrt ihr Blick im „Nirgendwo“, sie schließt die Augen und geht spontan in einen dissoziativen Versenkungszustand. Ich warte ab und bemühe mich, sie möglichst nicht zu stören oder irgendwie zu beeinflussen. Nach etwa 10 Minuten sagt sie, weiterhin mit geschlossenen Augen, „Ich habe gerade eine innere Stimme gehört, die gesagt hat: ‚Dieses sexuelle Thema und das Selbstwert-Thema hängen zusammen‘“. Sie erhielt einen durch eine (auffällig rational klingende) intuitive innere Stimme vermittelten Hinweis auf einen von außen betrachtet evidenten, ihr selbst aber bisher nicht bewussten psychodynamischen Zusammenhang.

In der klassischen und auch der ericksonschen Hypnose werden therapeutisch als nützlich erachtete posthypnotische Reaktionen auf dissoziative Suggestionen beabsichtigt. Der Clou der herkömmlichen Hypnotherapie ist es ja gerade, therapeutische Prozesse am Bewusstsein des Patienten vorbei zu bewirken, weil dieses als begrenzt und musterverhaftet verstanden wird. Im Sinne einer kurzzeittherapeutischen Behandlung macht das durchaus Sinn, weil primär eine unmittelbare Reduktion von Symptomen zur Erleichterung des Patienten angestrebt wird.

Das primäre Ziel der humanistischen Hypnotherapie aber ist ein emanzipatorisches, existenzielles: die Förderung der aktiven, verantwortlichen Auseinandersetzungsfähigkeit des Patienten mit sich selbst und mit seiner Lebensumwelt. Auch hier kann mit hypnosuggestiven Techniken gearbeitet werden, und auch hier geht die Art, wie manche dieser Interventionen funktionieren, am Bewusstsein des Patienten vorbei (wie bei den meisten anderen Psychotherapieverfahren auch). Die primäre Intention einer humanistisch verstandenen Hypnotherapie ist es aber, den Patienten anzuregen, sich seine eigenen Gedanken zu machen und intuitiv und zugleich reflektierend-selbstkritisch seinen eigenen Lebensweg in Auseinandersetzung mit seiner sozialen Umwelt zu suchen und zu gestalten.

Beispiel: In einer Therapiegruppe machen wir eine längere, tiefgehende Atemtrance-Übung in Paaren, in der jeweils ein Teilnehmer in die Übung hineingeht und ein anderer ihn dabei unterstützt und begleitet. Zu Beginn der Übung stellt der Begleiter dem Übenden drei Fragen, wobei der Übende diese nicht beantworten soll. Die Fragen nimmt der Übende als Impulse mit in die Übung hinein, um sie darin auf seine eigene Weise auszuarbeiten. Die Fragen lauten:
   „Was ist eine tiefste Sehnsucht?“,
   „Wo willst du wirklich hin?“,
   „Was könnte der erste Schritt dorthin sein?
In der folgenden Nachbesprechung wird herausgearbeitet, was die Übenden in der Übung erfahren haben. Die drei Eingangsfragen wirken zwar als Suggestionen, also richtungsgebend, sind aber offen formuliert. Sie geben einen Selbsterkundungsimpuls vor, ohne inhaltlich eine Veränderungsrichtung anzustreben.

Werner Eberwein