Wozu Psychotherapie in der Gruppe?

In einer therapeutischen Gruppe steht die Beziehungsdynamik innerhalb der Gruppe im Vordergrund (oder zumindest im Hintergrund) der Aufmerksamkeit. Was ist das Spezifische an Psychotherapie in der Gruppe im Vergleich zur Einzelarbeit

Volker Tschuschke hat in seinem 2009 erschienenen Buch „Gruppenpsychotherapie“ fünf Faktoren herausgestellt, die sich in empirischen Faktorenanalysen als wirksam in Therapiegruppen herausgestellt haben:

  1. Katharsis
  2. Gruppenzusammenhalt
  3. Feedback
  4. Verhaltensänderungen
  5. Einsicht

Diese Faktoren sind zwar sicherlich vorhanden, aber die hochkomplexen Prozesse innerhalb einer körperorientierten Therapiegruppe auf diese fünf mageren Worte zu reduzieren erscheint mir doch ein wenig banal.

Ich möchte daher eine Reihe von Ebenen auffächern, auf denen meines Erachtens die Wirkungsprozesse innerhalb von Psychotherapiegruppen verstehbar werden:

  • Zunächst einmal ist eine Therapiegruppe ein Beziehungsnetz. Zwar hat der Leiter in der Gruppe „den Hut auf“, aber die Beziehungen innerhalb der Gruppe sind keineswegs nur (wie in einer Einzeltherapie) dyadische Bezüge zwischen den einzelnen Teilnehmern und dem Leiter, sondern ein vielfältig vernetztes System von Kontaktmöglichkeiten, das ständig in Bewegung ist (ein dynamischer „Multi-log“).
  • Die Gruppe ist ein Interaktionsfeld, in dem nicht nur auf der Inhaltsebene (rational, verbal), sondern auch auf der Ebene des Körperausdrucks (emotional, nonverbale) fortgesetzte intersubjektive Wirkungs- und Rückwirkungsprozesse geschehen („psychosomatische Gruppenresonanz“).
  • Eine Therapiegruppe ist Teil eines Systems von Vernetzungen, weil die Gruppe in vielfältige äußere (kulturelle, politische, ökonomische, ökologische usw.) Meta-Systeme eingebunden ist.
  • Eine Therapiegruppe ist ein Übertragungsnetz, in dem alte, familiäre Beziehungsmuster unbewusst wiederholt werden, was zu komplexen Übertragungs-und Gegenübertragungs-Inszenierung führt. Spontan und unbewusst sind die anderen Teilnehmer Projektionsfiguren abgewehrter Beziehungsdynamiken. Als therapeutische Technik können die anderen Gruppenteilnehmer imaginativ oder im Rollenspiel als Stellvertreter von Persönlichkeitsanteilen fungieren.
  • Eine Therapiegruppe ist ein Resonanzboden für emotionale Prozesse. Die anderen Gruppenteilnehmer und die Gruppendynamik als Ganzes schwingt spontan mit den Gefühlszuständen des einzelnen Teilnehmers (besonders des jeweiligen Protagonisten) mit und verstärkt dessen emotionales Erleben. Dieses Mitschwingen kann vom Gruppenleiter aktiv eingeladen, ermutigt, bewusst gemacht und therapeutisch genutzt werden.
  • Eine Therapiegruppe ist ein Spiegel für die Facetten der Identität der Teilnehmer. Der einzelne Teilnehmer kann Aspekte seiner eigenen Identität als aufgespalten in seinen Beziehungen zu den anderen Gruppenteilnehmer erleben, also quasi mehrere Rollen im selben Raum einnehmen, dafür differenzielles Feedback erhalten, was im Rahmen einer Therapiegruppe eine Möglichkeit zur Integration abgespaltener Persönlichkeitsanteile ist.
  • Die Gruppe ist eine Leinwand für die Projektionen sowohl von Schattenanteilen als auch von Ressourcen der Teilnehmer.
  • Eine Therapiegruppe ist ein Vexierbild, in dem das, was gerade im Vordergrund der Aufmerksamkeit steht (der Inhalt der jeweiligen Kommunikation) nur vor dem Hintergrund der emotionalen und dynamischen Atmosphäre innerhalb der Gruppe verstehbar ist und umgekehrt.
  • Eine Therapiegruppe kann den Gruppenteilnehmern Rückhalt geben durch Akzeptanz, Verständnis, Trost, Mitgefühl oder Bestärkung.
  • Eine Therapiegruppe kann als „Problemlösungsgenerator“ verstanden werden – in der Gruppe können für aktuelle, reale Probleme der Teilnehmer kreative Ideen entwickelt und praktikable Lösungen gefunden werden.
  • Eine Therapiegruppe ist ein Labor für Emotions- und Beziehungserfahrungen, in dem die Teilnehmer bisher nicht genutzte Optionen ausprobieren und neue Umgangsweisen entstehen lassen können.
  • Für Teilnehmer mit frühen strukturellen Mangelzuständen kann eine Therapiegruppe als „Nest“ dienen, in dem sie Empathie, Aufmerksamkeit, Zuwendung, Geborgenheit, Stützung und emotionales „Nähren“ finden.
  • Bei sehr frühen strukturellen Störungen kann die Therapiegruppe zu einem emotionalen Kokon werden, also zu einer schützenden Umhüllung für ein brüchiges Selbst, z.B. durch temporäre Übernahme von Ichfunktionen wie Realitätsprüfung, Selbstwahrnehmung, Selbstfürsorge und Abgrenzung.
  • Die Therapiegruppe kann zeitweise als „Schlaraffenland“ erlebt werden, in dem real oder symbolisch Bedürfnisse nach Kontakt, emotionaler Nähe, Gehaltenwerden oder Austausch befriedigt werden können.
  • Eine Therapiegruppe kann als Bühne genutzt werden, auf der mit Hilfe therapeutischer Bewusstseinsspaltungen Rollenidentifikationen ausgespielt und Rollenfixierungen überwunden werden können.
  • Der Gruppenleiter kann die Therapiegruppe als Assistent nutzen, weil sie an den Stellen, wo der Leiter blinde Flecken oder einseitige Sichtweisen hat, als Ergänzungen oder Korrektiv dienen kann.
  • Die Gruppe ist für die Teilnehmer ein Stimulus, der sie durch Anregung, Anstoß, Herausforderung oder Provokation mit zuerst als fremd erscheinenden Themen und Anteilen konfrontiert.
  • Eine Therapiegruppe ist ein Authentizitätsraum, in dem die einzelnen Teilnehmer bei sich selbst und den anderen verborgene Anteile (den „Schatten“, den „Kern“) erleben und sich auf diesen Ebenen in Begegnung unterhalb der Alltagsmasken erleben können.
  • Die Gruppe ist eine Menge, in der komplexe Übungsstrukturen möglich sind, die in einer Einzeltherapie nicht realisiert werden könnten, z.B. Tanzimprovisationen, psychodramatische Inszenierungen oder Holotropes Atmen.
  • Die Gruppe fungiert für die Teilnehmer als neue Erfahrung einer Peer-Group, in der soziale Beziehungen entwickelt und langfristige Freundschaften begründet werden können.
  • Die Gruppe kann für die Teilnehmer als „Lehrwerkstatt“ erlebt werden, in der Teilnehmer für andere Teilnehmer als temporäre Coachs in einer quasi-therapeutischen Funktion agieren und sich dadurch nicht (wie in einer Einzeltherapie) vor allem in der Position der Begrenztheit und Hilflosigkeit, sondern auch als kompetent in ihren speziellen Fähigkeiten und Unterstützungsmöglichkeiten erleben.
  • Die Gruppe ist eine Lebensschule, in der der Leiter als Trainer und die anderen Teilnehmer als Modelle fungieren können, während die jeweiligen Protagonisten z.B. Selbstreflexion, Respekt und Authentizität in relevanten Konflikten üben und die derzeit „passiven“ Teilnehmer stellvertretend an dieser Erfahrung teilnehmen können.
  • Die Gruppe kann zeitweise zu einer Spielwiese werden, in der die Teilnehmer miteinander Spaß, Vergnügen und Ausgelassenheit erleben können.
  • Die Gruppe kann aber auch zu einer Drachenhöhle werden, in der sich die Teilnehmer mit eigenen abgewehrten Anteilen und ihren Ängsten davor konfrontieren und diese therapeutisch in Ressourcen verwandeln können.
  • Eine Therapiegruppe ist ein Fluss – sie hat ihre eigene Geschichte und ihren eigenen Prozess,, in ihr können vielfältige parallele Erfahrungen geschehen, mit ruhigen Stellen, Hindernissen und wilden Strömungen.
  • Eine Gruppe kann als „Zeitmaschine“ fungieren, weil darin Regressionsprozesse in frühere Beziehungsdynamiken oder Progressionen in mögliche zukünftige Lebensphasen hinein erlebt werden können.

Hier noch einige Faktoren, die man sich vielleicht zunächst nicht gerne anschauen mag, die aber für die Dynamik einer Gruppe unweigerlich relevant sind:

  • Eine Therapiegruppe ist immer auch ein „Affenfelsen“ weil in ihr Hierarchien und Ordnungen entstehen und (im positiven Fall) reflektiert und transformiert werden können. Oft gibt es getrennte Rangordnungen innerhalb der Subgruppe der Frauen und der Männer, sowie separate Hierarchien in Bezug z.B. auf Attraktivität und auf Dominanz.
  • In einer Therapiegruppe gibt es „Herdeneffekte„, die im negativen Fall zu einer Gruppenpathologie führen können mit Neigungen zu unkritischer Gefolgschaft dem Leiter gegenüber, Ausgrenzung von „Abweichlern“, eigenen Sprachregelungen, Abschottung nach außen und narzisstischer Idealisierung des Leiters bis hin zu sektenartigen oder fundamentalistischen Entwicklungen entstehen können.

Werner Eberwein