Welche Rolle spielen Sinnfragen in der Psychotherapie?
In seinem Buch „Sinnvoll leben – Eine praktische Anleitung der Logotherapie“ (Residenz-Verlag 2007) beschreibt der 1951 geborene österreichische Psychotherapeut Alfried Längle die Grundprinzipien der Existenzanalyse nach Viktor Frankl und zugleich die existenzphilosophischen Grundlagen der Humanistischen Psychotherapie.
Das kann doch nicht alles gewesen sein
Da muss doch noch irgendwas kommen – nein?
Da muss doch noch Leben ins Leben.
Wolf Biermann
Die Frage, “Wozu lebe ich eigentlich?” Ist eine zutiefst individuelle und spezifisch menschliche. Eine Antwort darauf kann weder im Hirnscanner noch in der Statistik gefunden werden. Sinnfragen sind nicht naturwissenschaftlich zu beantworten. Die Frage nach dem Sinn ist auch kein intellektuelles Gedankenspiel, sondern das gelebte Leben selbst, dass immer wieder Antwort erfordert auf die Frage nach dem “Wozu?”. Sinn kann keine Norm, keine Vorgabe sein. Jeder Mensch muss selbst immer wieder herausfinden, was für ihn Sinn macht und seinem Leben Sinn gibt. Kein anderer Mensch kann uns letzten Endes die Frage nach dem Sinn abnehmen oder uns die Entscheidung für Orientierung gebende Werte überstülpen. Werte geben uns Orientierung. Wir entscheiden nach dem, was uns jeweils wichtig ist, d.h. welchen Werten wir Priorität geben.
Wenn uns etwas existenziell wertvoll ist, so spüren wir das daran, dass es uns etwas angeht, unser Interesse weckt, uns emotional “packt”, uns ergreift und uns nahe geht. Nach Viktor Frankl ist ein sinnerfülltes Leben auf Werte hin ausgerichtet. Frankl unterscheidet dabei:
- Erlebniswerte, in denen man etwas oder jemandem als gut, schön oder bereichern erlebt und genießt, zum Beispiel ein Kunstwerk, die Natur oder die Begegnung mit Menschen im Gespräch, in der Berührung, in der Arbeit und besonders in der Liebe, wenn das eigene Sein und Handeln sich im anderen wechselseitig spiegelt,
- schöpferische Werte, in denen man daran arbeitet, etwas hervorzubringen oder zum Besseren zu verändern und kreativ etwas in die Welt hineingibt, um sie mit etwas Wertvollem zu bereichern, sei es ein Werk, eine Tat, das Großziehen eines Kindes, das Ausüben eines Berufes, die Pflege eines Kranken, das hingebungsvolle Ausüben einer Tätigkeit, das Sich-Einsetzen für eine Sache oder eine Idee,
- Einstellungswerte, in denen man daran arbeitet, die eigene Einstellung zu etwas, was nicht zu ändern ist, sondern nur ertragen werden kann, zu verändern und zu verbessern, wenn also in äußerlich ausweglosen Lebenssituationen weder Genuss noch Aktivität möglich ist, wenn man einer schicksalhaften Situation hilflos ausgeliefert ist und nur noch bleibt, dies mit einer Haltung der Würde anzunehmen und sich geistig dazu zu positionieren.
Sinn ist der Blick aufs Ganze, auf das, was diesen Moment überschreitet, was auch das Individuum überschreitet in Richtung auf ein Übergreifendes. Wenn ein Mensch sein Leben als sinnlos erlebt, führt das zu Verzweiflung und letzten Endes zu Suizidgefährdung.
Der Mensch lebt nie nur für sich selbst.
Viktor Frankl
Sigmund Freud hielt nichts von Sinnfragen. 1937 schrieb er in einem Brief an Marie Bonaparte: „Im Moment, da man nach dem Sinn und Wert des Lebens fragt, ist man krank, denn beides gibt es ja nun in objektiver Weise nicht; man hat nur eingestanden, dass man einen Vorrat an unbefriedigter Libido hat, und irgendetwas anderes muss damit vorgefallen sein, eine Art Gärung, die zu Trauer und Depression führt.“
Sinnorientierung setzt Willensfreiheit voraus. Einen freien Willen zu haben bedeutet, sich zwischen Alternativen entscheiden zu können. Ohne freien Willen wäre der Mensch ein Automat, der seinen biologischen Programmen folgt. Der freie Wille unterscheidet den Menschen von einer Biomaschinerie. Der wahlfreier Mensch ist ein Handelnder, kein Getriebener, sondern ein Gestalter seines Lebens. Wahlfreiheit bedeutet, dass man auch anders entscheiden könnte. Ohne freien Willen gibt es keinen Sinn.
Natürlich ist unsere Willensfreiheit nicht absolut. Wir können nicht entscheiden, zwanzig Jahre jünger zu sein oder einfach so den Nobelpreis zu erhalten. Aber wir haben in jeder Situation die Möglichkeit, zwischen einer Vielfalt von Alternativen zu wählen. Sein Leben zu gestalten bedeutet, die eigenen Steuerungsmöglichkeiten zu erkennen und sein Leben zu formen, statt auf das Leben zu warten oder es bloß passiv auszuhalten.
Das eigene Leben zu gestalten bedeutet, sich unter den jeweils gegebenen Umständen aktiv den Herausforderungen des Lebens zu stellen, also zu antworten auf die Anfragen des Schicksals. Was wir in jeder Stunde, in jeder Sekunde entscheiden, ist das, was am Ende einmal unser Leben gewesen sein wird. Dabei können diese Herausforderungen ergriffen, aber auch verpasst werden. Frühere Entscheidungen bedingen die Voraussetzungen, unter denen man später lebt. Jede noch so kleine Entscheidung stellt untergründig die Frage nach Sinn und Werten, nach dem, was sich „richtig“ anfühlt, eingebettet in einen größeren, sozialen Kontext. Bei jeder kleinen Entscheidung, zeigt sich, wer man ist und wie zu leben man entschieden hat. Wenn man beispielsweise entscheidet (oder nicht entscheidet), sich auf eigene Partnerschaft einzulassen, einen Beruf zu ergreifen oder Kinder in die Welt zu setzen, so sind die Lebensbedingungen und Herausforderungen, die daraus entstehen andere, als wenn man anders entschieden hätte.
Der Mensch verfügt zwar über animalische Instinkte, so wie die Tiere, aber im Gegensatz zum Tier beherrschen diese ihn nicht vollständig. Der Mensch ist auch geprägt durch Traditionen, seine Lebensgeschichte, soziale Zwänge, politische und finanzielle Restriktionen, aber auch unter all diesen Bedingungen bleibt dem Menschen in jedem Moment die Möglichkeit, unter einer Vielzahl von Handlungsalternativen frei zu wählen.
Der Mensch ist zur Freiheit verdammt.
Jean-Paul Sartre
Freiheit des Willens geht unweigerlich mit der Verantwortung für unsere Wahlentscheidungen einher. In seiner Verantwortung empfindet der Mensch seine innere, wertorientierte Verbundenheit mit anderen Menschen oder einer Idee. Oft sind wir uns nicht bewusst, oder wir wollen nicht wahrhaben, wie viele Möglichkeiten wahlfreier Entscheidungen eine Situation uns eigentlich bietet. Wir können der Notwendigkeit, unter gegebenen Umständen wahlfreie Entscheidungen zu fällen, nicht entfliehen.
Verantwortlich sein, das heißt: sich widmen.
Sich hingeben wollen, für etwas da sein wollen,
ist freiwilliges sich-verpflichten, sich-binden.
Verantwortung ist Engagement für seine Werte.
Alfried Längle
Selbst unter noch so restriktiveren oder repressiven Bedingungen können wir immer noch in jedem Moment zwischen einer Vielzahl von Handlungs- und Einstellungsalternativen entscheiden. Insofern sind wir für unser Schicksal und unseren Lebensweg verantwortlich. Wenn uns unsere Entscheidungen in Unglück geführt haben oder darin festhalten, verleugnen wir gerne, dass wir auch anders hätten entscheiden können und auch jetzt noch anders entscheiden könnten. Wir wollen uns dann gern selbst als hilflos und in Zwängen gefangen sehen, denen wir ausgeliefert sind, und in denen wir uns nicht bewegen können, obwohl zumindest Teile dieser Zwänge durch unsere eigenen, fortgesetzten Entscheidungen oder durch Vermeidung von Entscheidungen aufrecht erhalten werden. Diese selbstgerechte Illusion des Ausgeliefertseins hat Sartre als “Selbstbetrug” bezeichnet.
Unter dem Druck der Verantwortung für unsere Freiheit übergeben wir unseren Willen gerne ideellen, politischen oder geistigen Führer oder Traditionen, die uns scheinbar vor der Verantwortung für unsere Wahlfreiheit schützen. Aber auch dies ist nur ein Selbstbetrug, denn die Entscheidung, von einer Leitfigur, einem Guru oder einem politischen, religiösen oder weltanschaulichen System stellvertretend “denken zu lassen” ist auch eine wahlfreie Entscheidung, die immer aufs Neue getroffen wird und jederzeit widerrufen werden kann.
Freiheit kann lästig, ja quälend werden, vor allem wenn wir nicht umhin können, eine existenzielle Entscheidung zu fällen. Es ist dann verführerisch, andere entscheiden zu lassen, der „Herde“ oder der „öffentlichen Meinung“ hinterherzulaufen, sich in die Beliebigkeit des “Mainstream”, in Alkohol oder mediale Betäubung zu flüchten. Die Alternative dazu ist es, die erforderliche Entscheidung kritisch vor dem Hintergrund der eigenen Werte-Orientierung zu reflektieren, sich emotional mit seiner persönlichen “Vision”, seiner “Berufung” zu verbinden und von dort aus auf die Herausforderungen des Lebens aktiv zu antworten und dabei keine Scheu vor unweigerlich immer wieder eintretenden Irrtümern und Fehlschlägen zu haben.
Das Leben ist kein Rosengarten.
Manchmal brennt und schmerzt und beißt es,
manchmal leuchtet und prickelt und strömt es,
manchmal schleicht es träge dahin.
Unser Leben ist das, was wir daraus machen.
Sich selbst in seiner Freiheit zu erleben, ohne sich handelnd auf Werte hin zu orientieren und damit sozial einzubinden, erzeugt auf Dauer ein schier unerträgliches Leeregefühl, dass Frankl als “existenzielles Vakuum” oder als “noogene Depression” (von gr. nous: Sinn) bezeichnet hat, als innere Leere aufgrund eines Mangels an Sinnorientierung. Wenn wir uns selbst einengen in der Vorstellung, nichts (mehr) bewirken zu können und unserem Schicksal hoffnungslos ausgeliefert zu sein, entsteht ein Strudel ins Nichts, der bis zur Suizidgefährdung führen kann.
Immer wieder können (und sollten) wir uns fragen:
“Ist das jetzt eigentlich gerade mein Leben?”,
“Will ich so leben, wie ich gerade lebe?”,
“Wie will ich leben?“, „Was brauche ich?“,
„Was würde mich erfüllen?”
Die Suche nach äußerem Erfolg in Form von Geld, Status, Prestige, Bekanntheit, Attraktivität, Macht, Klugheit oder Beliebtheit ohne Verwurzelung in persönlichen Werten führt – gleichgültig ob sie von Erfolg gekrönt ist oder nicht – zu einem Zustand innerer Leere. Erfüllung dagegen ist die Verwirklichung persönlicher, sozialer Werte, die die Seele erfüllen – ob sie zu äußerem Erfolg führen oder nicht.
Sinnfragen sind emotionale und auch philosophische Fragen. Was Sinn macht, kann gefühlt werden, aber das Gefühl kann auch irren, es muss kritisch reflektiert werden. In der Auseinandersetzung mit Sinnfragen ist es nicht die Aufgabe der Psychotherapie, Sinnvorgaben in Form von weltanschaulichen oder spirituellen Orientierungen zu geben, sondern den Patienten zu ermutigen, seine weltanschaulichen Orientierungen kritisch zu reflektieren, zu differenzieren, auszuarbeiten und umzusetzen.
In einer existenziell orientierten Psychotherapie geht es nicht nur um Konflikte mit unterdrückten Instinkten und auch nicht nur um die Transformation dysfunktionaler Lernprozesse, sondern primär um die Auseinandersetzung mit unausweichlichen Gegebenheiten der menschlichen Existenz. Aus existenzieller Sicht entsteht Leiden, wenn wir uns weigern, bestimmte „simple facts of life“ (Yalom) anzuerkennen, z.B.:
- dass unser Leben irgendwann zu Ende geht, und wir am Ende nichts mitnehmen können,
- dass wir über vieles, was wir unbedingt brauchen oder nicht ertragen können, keine Kontrolle haben,
- dass wir nicht immer jung bleiben,
- dass es immer wieder Leid und Zerstörung, Krankheit und Krisen gibt,
- dass auch vollkommen Unschuldige leiden,
- das manchmal eine Entscheidung für das eine die Entscheidung für das andere unmöglich macht,
- dass man auch mit den besten Absichten manchmal nichts erreicht,
- das alles sicher Geglaubte jederzeit und unwiederbringlich verloren sein kann,
- dass die Möglichkeiten und Fähigkeiten jedes Menschen begrenzt sind,
- dass man sich selbst und andere Menschen niemals vollkommen versteht,
- dass es keine höhere Gerechtigkeit gibt, die dafür sorgt, dass die Guten belohnt und die Bösen bestraft werden,
- dass es keine Garantie dafür gibt, dass wir Hilfe erhalten, wenn wir sie dringend brauchen,
- dass nicht alle Probleme lösbar sind,
- dass es Fragen gibt, auf die man auch durch noch so großes Bemühen keine Antwort findet.
Der Sinn des Leidens besteht in seiner Aufforderung zum Wachstum. Auch wenn wir das Leiden selbst in der Regel zunächst als sinnlos erleben, so können wir doch aus ihm lernen und am Leiden wachsen, indem wir daraus etwas machen, und dadurch kann es Sinn bekommen. Wenn ein Mensch leidet, ohne einen Sinn darin erkennen zu können, so kann ihn das in Verzweiflung stürzen. Wenn ein Mensch dagegen geistig an seinem Leiden wächst, so gibt das seinem Leben Würde. In schweren, schicksalhaften Momenten kann die innere Orientierung an Sinn und Werten überlebensnotwendig sein, und ein Mangel an Sinnorientierung lebensgefährdend.
Wer ein Warum zum Leben hat,
erträgt fast jedes Wie.
Friedrich Nietzsche
Es gibt Situationen, die es äußerst schwierig, manchmal schier unmöglich machen, einen Sinn darin zu erkennen. In der Konfrontation mit der Absurdität nicht selbst verschuldeten Leidens bleibt anderen Menschen und auch einem Psychotherapeuten oft nur eine Haltung des Mitgefühls, der emotionalen Anteilnahme und der mitmenschlichen Solidarität.
Viele Formen von neurotischem oder psychosomatischem Leid sind Ergebnis von Versuchen, akuten emotionalen Schmerz durch Abspaltung zu begrenzen um den Preis, dass das Leiden chronisch wird. Insofern besteht Psychotherapie paradoxerweise manchmal darin, die Leidensfähigkeit eines Menschen zu fördern, ihnen also darin zu unterstützen, akuten psychischen Schmerz annehmen zu lernen, ohne sich selbst abzustumpfen und ohne zu resignieren.
Manchmal fühlt man sich wie gepflügt vom Leben.
Das Schicksal schlägt eine manchmal eine Tür zu,
aber es lässt einem ein Fenster offen.
Man darf sich nur nicht zu gut sein,
das Fenster auch zu benützen.
Alfried Längle