Welche Formen von Angst gibt es?

Wir können eine Reihe von Angst-Formen unterscheiden, die zugleich auch Tiefenschichten sind, d.h. es gibt eher oberflächliche und eher tiefgehende Ängste.

  • Furcht ist das realistische Empfinden einer Gefahr. Wenn man oben auf einer 200 Meter hohen Klippe steht, und man traut sich nicht, ganz nach vorne zu klettern, dann ist das schon realistisch. Ebenso wenn die Menschen in Japan sich jetzt vor Radioaktivität im Wasser und in ihren Nahrungsmitteln fürchten.
  • Alltagsängste sind vorübergehend. Sie sind eine etwas gesteigerte Form von Besorgnis. Ein Beispiel dafür wäre das mulmige Gefühl, das die Mutter einer 14jährigen Tochter kriegt, wenn diese abends länger als vereinbart unterwegs ist und nicht anruft. Oder das bedrohliche Gefühl, das v.a. Frauen nachts in dunklen Straßen oder in der Nähe von Parks haben.
  • Existenzielle Ängste sind eine Folge des menschlichen Bewusstseins und der menschlichen Freiheit. Wir wissen, dass wir sterben werden. Wir wissen (oder sollten zumindest wissen), dass wir Wahlfreiheit haben, unser Leben sehr weitgehend selbst zu bestimmen. Die alten Normen werden immer schwächer. Wir könnten jetzt, in diesem Moment, entscheiden, ein ganz anderer Mensch zu werden und ein völlig anderes Leben zu beginnen. Diese Freiheit in Abwesenheit einer normgebenden Instanz kann Angst machen. Vor dieser Angst flüchten wir gern in scheinbare Abhängigkeiten.
  • Angst vor der Angst ist der Übergang zu den pathologischen Formen von Angst. Hier geht es um Vermeidung. Man hat beispielsweise Angst, abgelehnt zu werden, und nun tut man alles, um anderen Menschen zu gefallen, nur um nicht abgelehnt zu werden. Die eigentliche Angst spürt man dann gar nicht mehr, obwohl sie das Leben bereits weitgehend bestimmt. Man ist Gefangener einer Angst vor der Angst.
  • Phobien sind Ängste vor konkreten Objekten bzw. spezifischen Auslösekonstellationen. Es können z.B. Ängste vor sozialem Versagen sein oder Ängste vor engen Räumen, vor Spinnen oder vor Zugfahren.
  • Hypochondrie ist eine Angst, krank zu sein, obwohl man organisch gesund ist. Es zwickt irgendwo, schon fürchtet man, Krebs zu haben. Das Herz flattert etwas, schon hat man Angst vor einem Herzinfarkt.
  • Eine Herzneurose geht in der Intensität darüber hinaus und ist spezifischer die Angst, einen Herzanfall zu erleiden, was zu heftigen Erregungszuständen, nicht selten gepaart mit Hyperventilation führt, was wiederum die Herzfrequenz nach oben jagt, was im Effekt zu Anrufen beim Notarzt oder zu Selbsteinweisung ins Krankenhaus führen kann.
  • Ängste bei körperlichen Erkrankungen kommen z.B. vor bei Alzheimer-Demenz, bei hirnorganischen Störungen, organischen Herz-Kreislauf-Leiden oder schweren Hormonstörungen.
  • Zwänge sind mit Ängsten verbunden. Wenn jemand einen Waschzwang hat, hat er Angst vor Bakterien. Ein Mensch mit einem Reinlichkeitszwang hat Angst vor Schmutz. Ein Mensch, der zu zwanghafter Ordnung neigt, hat Angst vor Chaos.
  • Traumatische Ängste entstehen in Situationen, die psychisch nicht bewältigt werden können, z.B. durch massive Gewalt, Naturkatastrophen, schwere Unfälle, plötzliche schwere Krankheiten oder Verluste. Wenn diese Ereignisse nicht verarbeitet werden können, kommen mitunter Jahre bis Jahrzehnte danach die entsprechenden Gefühle und Zustände immer wieder hoch („Flashbacks“).
  • Generalisierte Ängste können mit keinem erfassbaren Auslöser in Verbindung gebracht werden. Sie sind allgegenwärtig. Man wacht morgends mit ihnen auf und schläft abends mit ihnen ein. Oder sie beziehen sich auf ein so weites Spektrum von potentiellen Auslösern, so dass sie praktisch immer da sind.
  • Panikattacken überfallen einen plötzlich und unvorbereitet, entweder aufgrund spezifischer Auslöser (z.B. plötzlichen Arbeitsplatzverlust), oder völlig unvorbereitet, z.B. morgends in der Badewanne oder beim Autofahren.
  • Ängste bei Persönlichkeitsstörungen sind schwer in Worte zu fassen. Letztlich handelt es sich um Ängst vor einem drohenden Verlust der Stabilität des Selbst. Das Ich, die Identität des Menschen, droht auseinanderzufallen. Das kann massive Ängste auslösen.
  • Drogeninduzierte Ängste entstehen durch eine durch Drogen gestörte Hirnchemie, oft bei Überdosierung in Zusammenhang mit sozialem Stress. Ein LSD-Trip in einer bedrohlichen Umgebung genommen, kann zu massiven Angstzuständen führen („Horrortrip“). Ebenso Gemische aus diversen Drogen mit unterschiedlichen Wirkungen, die das Gehirn völlig durcheinander bringen können.
  • Psychotische Ängste treten insbesondere dann auf, wenn ein „gesunder“ Ich-Anteil spürt, das er von der Psychose überrollt zu werden droht. Es ist die Angst, im Wahnsinn verloren zu gehen.

Werner Eberwein