Was ist Scham?

Scham ist ein im Vergleich etwa zu Angst oder zu Schuld in der Psychologie und Psychotherapie noch vergleichsweise wenig untersuchtes Thema. Der Berliner psychodynamische Körperpsychotherapeut Jens Tiedemann hat das Phänomen Scham in seinem 2010 erschienenen Buch „Die Scham, dass Selbst und der Andere“ (Psychosozial-Verlag) detailliert und facettenreich ausgearbeitet.

Nach Wikipedia ist Scham ein Gefühl der Verlegenheit durch Bloßstellung oder Verletzung der Intimsphäre oder durch das Bewusstsein, durch „unehrenhafte“, „unanständige“ oder „erfolglose“ Handlungen sozialen Erwartungen oder Normen nicht entsprochen zu haben, beispielsweise durch (erfolgtes oder befürchtetes) Bloßgestelltwerden oder Achtungsverlust im sozialen Umfeld.

Scham bedeutet, dass Personen, deren soziale Bewertungen einem wichtig sind, Anteile des eigenen Selbst wahrnehmen, die man, aus welchen Gründen auch immer, verbergen möchte. Es kann sich dabei z.B. um körperliche „Blöße“ im Sinne von Nacktheit, um intime Gedanken, Fantasien oder sozial nicht akzeptierte Handlungen drehen. Im Zustand des Beschämtseins fühlt man sich als ganze Person entwertet, entehrt, seiner Würde beraubt, abgelehnt oder sozial ausgeschlossen („in Schimpf und Schande“).

Scham ist häufig von vegetativen Erscheinungen wie Erröten oder Herzklopfen und von Körperhaltungen wie z.B. dem Senken des Blickes, Sich-Ducken oder Leiserwerden der Stimme verbunden. Die Intensität der Empfindung variiert von flüchtigen Anwandlungen bis zu tiefster Beklommenheit.

Im Jahr 2009 wurde das Modewort „fremdschämen“ im Duden aufgenommen. Man „schämt fremd“, wenn man jemanden anders dabei beobachtet, wie er eine soziale Norm verletzt oder sich in einer peinlichen Situation befindet. Dieser Begriff hat wahrscheinlich deswegen jetzt Eingang in unseren Wortschatz gefunden, weil bestimmte Medien (z.B. TV-Sendungen wie „Deutschland sucht den Superstar“) absichtlich auf diese Empfindung abzielen.

Wie Tiedemann hervorhebt, kann sich das Gefühl der Scham vernichtend anfühlen. Wenn man sich schämt, möchte man sich am liebsten in einem Mauseloch verkriechen und sich den Blicken anderer entziehen. Allerdings wird Scham meistens in einer verhüllten, also abgewehrten („maskierten“) Form erlebt bzw. wahrgenommen (vgl. L. Wurmser: „Die Maske der Scham“).

Scham ist ein Gefühl oder eine Angst davor, sich lächerlich („zum Affen“) zu machen oder gemacht zu haben. Einen anderen Menschen bewusst zu beschämen („Geh mir aus den Augen!“) ist ein klassisches Instrument der „schwarzen Pädagogik“ und der sozialen Ächtung („jemandem an den Pranger stellen“).

Die positive Funktion der Scham besteht darin, dass sie über die Grenze der Privatheit und Intimität wacht,  die Integrität des Selbst beschützt und den sozialen Zusammenhalt fördert. In der Scham fühlt ein Mensch Verletzungen seiner Intimitätsgrenze, und er fühlt sich in seinem Verhalten reguliert durch die Meinungen und Bewertungen anderer, also durch die Grenzen der Intimität und des Taktgefühls anderer, aber auch durch repressiven moralischen Normen. In diesem Sinne sorgt Scham für Respekt und den Schutz (wertvoller oder repressiver) moralischer Werte.

Das Schamgefühl, das durch körperliche oder seelische Entblößung entsteht, schützt die Identitätsgrenzen des Menschen und wahrt eine schützende Distanz zu anderen. Scham ist die Pächterin der Privatheit. Ein „schamloser“ Mensch steht in der Gefahr, auf asoziale Weise aus der Gemeinschaft herauszufallen, gleichzeitig hat er die Möglichkeit, einengende moralische Normen infrage zu stellen.

Scham entsteht auch, wenn ein Mensch sich wie ein Objekt, wie ein Ding („entfremdet“) behandelt fühlt oder so, als ob er nicht existent sei. Der Beschämte „erfriert“ dann gleichsam im Ausgestoßenwerden.

Da ein Patient in einer Psychotherapie häufig Anteile seiner Selbst preisgibt, die er (zum Teil ein Leben) lang geheim gehalten hat, werden (vor allem in längeren „aufdeckenden“ Psychotherapien) unweigerlich Schamgefühle und Abwehrprozesse dagegen aktiviert. Sie müssen taktvoll behandelt und thematisiert werden.

Werner Eberwein