Was ist Personzentrierte Psychotherapie?

In seinem Sammelband >>>“Die vielen Gesichter der Personzentrierten Psychotherapie“ (Springer-Verlag Wien, 2002) beschreibt der österreichische Psychotherapeut >>>Gerhard Stumm den aktuellen Stand der Personzentrierten Psychotherapie mit ihren Grundlagen und Strömungen:

Der Begründer des Personzentrierten Ansatzes war der amerikanische Psychologieprofessor >>>Carl Rogers (1901-1987) der ab etwa 1940 in Abgrenzung zum damaligen Behaviorismus sowie zur traditionellen Freud‘schen Psychoanalyse und in Übereinstimmung mit der (wesentlich von ihm mitgeprägten) humanistischen Psychologie einen Ansatz entwickelte, den er zunächst „Nicht-direktive Beratung“ nannte.

Ab etwa 1950 nannte Rogers seinen Ansatz „Klient-zentrierte Therapie“ und betonte vor allem die Förderung der Selbsterkundung des Patienten und die Auseinandersetzung mit seinem Selbstkonzept innerhalb der subjektiven Erlebensstruktur des Patienten.

In der „Erlebnisorientierten“ („Experiencing“-)Phase etwa ab 1960 betonte Rogers mehr die Notwendigkeit der selektiven Offenheit („Transparenz“) des Therapeuten. Durch die Arbeiten seines Mitarbeiters Gendlin wurde das >>>Focusing-Konzept in die personzentrierte Arbeit integriert.

Etwa ab 1980 entstanden eine Fülle von Ergänzungen und Abwandlungen der klassischen Konzepte in der personzentrierten Psychotherapie sowie Polarisierungen zwischen einer eher humanistisch-existenzialistischen und einer eher naturwissenschaftlich-technischen Orientierung, eine Debatte um die Priorität von Beziehung versus Technik und um eine Verbindung der personzentrierten Psychotherapie mit psychodynamischen oder verhaltenstherapeutischen Ansätzen. Personzentrierte Psychotherapeuten arbeiten heute mit variablen Settings, sie betonen den Körperbezug in der Psychotherapie, die Notwendigkeit der selektiven Selbstöffnung des Therapeuten sowie eine dialogische und ggf. konfrontative Orientierung.

Rogers war in der Entwicklung seiner Konzepte beeinflusst von:

  • der Phänomenologie (Husserl, Merleau-Ponty), mit der Idee, sich möglichst unvoreingenommen auf das subjektive Erleben einzulassen,
  • dem Existenzialismus (Kierkegaard, Heidegger) mit seiner Betonung von persönlicher Authentizität, Wahlfreiheit und Selbstverantwortung,
  • der Begegnungsphilosophie Martin Bubers mit ihrem Konzept der Ich-Du-Begegnung,
  • dem Psychoanalytiker Otto Rank,
  • dem amerikanischen Pragmatismus,
  • der Berliner Schule der Gestaltpsychologie (Wertheimer, Köhler, Koffka) und
  • dem Selbstregulationskonzept Kurt Goldsteins.

Rogers wollte den autoritären, auf vermeintlich erforderliches Fachwissen des Therapeuten begründeten und von ihm als repressiv empfundenen Tendenzen der damaligen Psychotherapie entgegensteuern, indem er die Grundprinzipien einer gewährenden, förderlichen Beziehungen beschrieb, innerhalb derer sich der Patient so sicher fühlen konnte, dass er sich öffnen und in einem Prozess der Selbsterkundung sich seiner selbst mehr und mehr bewusst werden, und aus seinem Inneren heraus authentische individuelle Lösungen für seine Probleme suchen konnte.

Für Rogers stand das emotionale Erleben im Hier und Jetzt, die gefühlsmäßige Wechselwirkung zwischen Patient und Therapeut, die Möglichkeit, korrigierende Beziehungserfahrungen mit dem Therapeuten als realem, personalen Gegenüber zu machen, sowie die Ablehnung standardisierter Techniken und autoritären Deutungswissens seitens des Psychotherapeuten im Vordergrund seiner Arbeit. Die nach Kräften humanistisch gestaltete und gepflegte Beziehung des Psychotherapeuten zum Patienten galt Rogers also als zentraler, ja als einziger Wirkungsfaktor der Personzentrierten Psychotherapie. Der Patient als Mensch wurde dabei primär als kreatives und schöpferisches, soziales und wahlfreies Wesen gesehen.

Rogers geht von einer Beziehungsangewiesenheit des Menschen aus, insbesondere von einem Bedürfnis nach positiver Beachtung. Insofern ist bei ihm ein individualistischer und ein relationaler Begriff der Person, sowie ein Konzept der Selbstentwicklung versus sozialer Bedürftigkeit dialektisch miteinander verschränkt.

Rogers bezweifelte den Sinn von festschreibenden diagnostischen Etikettierungenen im Rahmen einer psychotherapeutischen Beziehung und betonte eine dynamische Sichtweise der Einzigartigkeit dieses Individuums sowie den Prozesscharakter des Erlebens in ständiger Veränderung. Für Rogers war der therapeutische Prozess selbst eine Prozessdiagnose, die im Dialog zwischen dem Therapeuten und dem Patienten stattfand.

Grundkonzept der Personzentrierten Psychotherapie ist das Konzept der „Aktualisierungstendenz“ in jedem Menschen. Darunter ist eine Lebenskraft, eine Selbsterhaltungs- und Entwicklungsmotivation, also eine Tendenz zur sozialen Selbstverwirklichung und Selbstentfaltung, zur Entfaltung von Ressourcen, zum sozial konstruktiven psychischen Wachstum und zur Entfaltung subjektiver Wertorientierungen im Rahmen von Beziehungsnetzen zu verstehen, die im Psychotherapeuten und im Klienten gleichermaßen als vorhandene und wirksam vorausgesetzt wird.

Auf dieser Basis werden auf einer relativ abstrakten Ebene Grundeinstellungen auf Seiten des Psychotherapeuten formuliert, die vorhanden sein müssen, damit ein fruchtbarer psychotherapeutischer Prozess stattfindet:

  • Die Kongruenz des Therapeuten, also die Übereinstimmung zwischen dem, was er sagt und ausdrückt und dem, wie er sich fühlt, ist für Roger die entscheidende Voraussetzung eines fruchtbaren psychotherapeutischen Prozesses.
  • Auf dieser Basis bemüht sich der Psychotherapeut um eine Haltung unbedingter, also vorraussetzungsreier Wertschätzung für den Patienten als ganze Person, sowie um
  • das empathische (emotionale und kognitive) Verstehen des Patienten im ständig sich wandelnden Fluss von dessen Erfahrungen und innerhalb von dessen eigenem Bezugsrahmen (Rogers: „… als ob man die andere Person wäre, jedoch ohne jemals die Als-Ob-Position aufzugeben …“).

Auf Seiten des Patienten geht die Personzentrierte Psychotherapie davon aus, dass sein Zustand von psychischem Leid durch Inkongruenz bedingt ist: Das emotionale und körperliche Erleben eines Menschen kann z.B. aufgrund erlebter Abwertung oder mangelnder bedingungsloser Wertschätzung (vor allem durch die primären Bezugspersonen in der Kindheit) in Konflikt mit seiner Vorstellung von sich selbst (seinem „Selbstkonzept“) geraten mit der Folge, dass unmittelbare Erfahrungen, die nicht mit seinem Selbstkonzept übereinstimmen, nicht oder nur verzerrt im Bewusstsein repräsentiert werden.

Um das Selbstkonzept (z.B. „Ich bin ein friedfertiger Mensch“) aufrecht zu erhalten, werden Gefühle, Fantasien und Impulse (z.B. Hass- oder Vernichtungsimpulse) dem Gewahrsein teilweise oder vollständig entzogen oder soweit innerlich verändert („verzerrt“), dass sie mit dem Selbstkonzept nicht mehr in Konflikt stehen.

Inkongruenz bedeutet also, dass der Patient seine eigenen Erfahrungen nicht zutreffend „symbolisiert“ (versteht). Er erlebt sich selbst und die Welt emotional, kognitiv und körperlich auf eine Weise, die mit seiner Vorstellung von sich selbst nicht übereinstimmt. Dies führt zu einer generellen Irritierbarkeit, Verunsicherung, Verletzlichkeit und Angst und wird in der personzentrierten Psychotherapie als Quelle jeder Form von psychischem Leid (psychopathologischer Symptome) verstanden.

Die Aufgabe des Personzentrierten Psychotherapeuten ist, dem Patienten eine Halt und Sicherheit gebende, förderliche Beziehung anzubieten, innerhalb derer der Patient sein aktuelles Erleben (und auch die Beziehung zum Psychotherapeuten) erkunden und immer zutreffender symbolisieren kann. Darüber hinaus muss der Patient in der Lage sein, das Beziehungsangebot des Therapeuten wahrzunehmen und in gewissem Umfang anzunehmen.

Nach Rogers sind diese Bedingungen sowohl notwendig als auch hinreichend für einen produktiven psychotherapeutischen Prozess, weil sie geeignet sind, die inneren Entwicklungsmotivationen und autonomen Problemlösungs- und Selbstregulationsfähigkeiten des Patienten optimal zu unterstützen. Rogers hat darüber hinaus keine systematisch ausformulierten oder gar schematisch anwendbaren Techniken beschrieben, also keine konkreten psychotherapeutischen Handlungsanweisungen. In manchen aktuellen Strömungen der Personzentrierten Psychotherapie geht man jedoch davon aus, dass auf Grundlage des oben genannten Beziehungsangebots des Psychotherapeuten vielfältige Techniken angewandt werden können, sofern sie mit der humanistischen Grundorientierung des Ansatzes übereinstimmen.

In der personzentrierten Psychotherapie gibt es z.Z. drei große Strömungen:

  • ein Konzept der psychotherapeutischen Beziehung als personale Begegnung zum Zwecke des hermeneutisch-phänomenologischen Verstehens v.a. der inneren und äußeren Beziehungsmustern des Patienten,
  • eine klinische Orientierung, die die Relevanz von spezifischem Störungswissen auf Seiten des Therapeuten betont und eher biografisch und psychodynamisch vorgeht,
  • den Experiencing-Ansatz, in dem unmittelbar im Körper spürbare, ganzheitliche Bedeutungen ( „Felt Sense“) fokussiert werden.

Werner Eberwein