Was ist normal?
Es ist überaus selten, dass ein Wissenschaftler von höchstem internationalem Rang sich im fortgeschrittenen Alter von 70 Jahren dazu aufrafft, seiner eigenen Zunft kräftig den Marsch zu blasen. Genau das hat der US-Amerikaner Allen Frances mit seinem 2013 im DuMont Verlag erschienenen, 400 Seiten starken Buch „Normal. Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen“ getan.
Das Buch ist eine Streitschrift gegen das Ausmaß, in dem Ärzte und Psychologen ihren Patienten psychische Diagnosen bescheinigen. Frances warnt vor einer zunehmenden Inflation psychischer Diagnosen, angetrieben durch die pharmazeutische Industrie im Einvernehmen mit den Autoren der aktuellen Auflage des Diagnostic an Statistic Manual of Mental Disorders (DSM-V).
Das amerikanische DSM-IV entsprach bis auf einige Details dem von der Weltgesundheitsorganisation ausgearbeiteten und in Deutschland angewandten Diagnostikmanual ICD-10 (International Category of Diseases). Beide Werke avancierten schnell zur Bibel der Psychiatrie, weil sie beanspruchen, zu bestimmten, wo Normalität aufhört und wo psychische Erkrankung beginnt. Dies hat erhebliche Folgen, nicht nur für die medikamentöse und psychotherapeutische Behandlung und deren Finanzierung, sondern auch für Rentenfragen, Betreuungsangebote, Arbeitsstellen, Adoptionsmöglichkeiten, das Recht ein Flugzeug zu steuern, den Abschluss einer Lebensversicherung oder bei der Frage, ob ein Mörder ein Verbrecher oder ein psychisch Kranker ist, und wie bzw. wo er infolgedessen verwahrt bzw. bestraft werden soll.
Die neue Version DSM-V, die im Mai 2013 erschien, enthält, so Frances, eine Vielzahl überzogener psychodiagnostischer Kategorien wie zum Beispiel die „Heißhungerstörung“, die „Leichte neurokognitive Störung“, die „Aufmerksamkeit-Defizit-Störung im Erwachsenenalter“ oder die „Affektregulationsstörung“. Durch Überdiagnostik würden fiktive Epidemien erzeugt, und dem Medikamentenmissbrauch würde Tür und Tor geöffnet. Die Menschen verlören den Kontakt zu ihren Selbstheilungskräften, Normalität werde pathologisiert.
Der Autor ist gewiss niemand, dem man nachsagen könnte, er wisse nicht, wovon er schreibt, oder er sei sowieso ein Gegner der Psychiatrie. Frances, geboren 1942 in New York City, ist einer der bekanntesten Psychiater der Welt. Die New York Times nannte ihn „den einflussreichsten Psychiater Amerikas.“ Er lehrte als Professor für Psychiatrie und Verhaltensforschung an der die Duke University in North Carolina. Neben etwa 100 Fachartikeln veröffentlichte er diverse Zeitungsbeiträge sowie ein Dutzend Bücher, und er hatte den Vorsitz der Arbeitsgruppe, die das DSM-IV erstellt hat.
Bereits das DSM-IV habe so Frances, unbeabsichtigt, Millionen neuer Patienten durch Pathologisierung normaler Zustände, also durch die Erfindung von Krankheiten erzeugt, die unnötigerweise mit Medikamenten behandelt werden, die gefährlichen Nebenwirkungen haben, worüber sich „die Pharmakonzerne alle Finger ablecken“.
Die moderne westliche Welt entwickele sich mehr und mehr zu einer Gesellschaft von Pillenschluckern. Durch die fortschreitende Ausweitung diagnostischer Kriterien gelten in den USA derzeit 20-25% der Bevölkerung als psychisch gestört. Jeder fünfte Erwachsene US-Bürger nimmt regelmäßig mindestens ein Pharmakon ein. 2010 nahmen 21% der amerikanischen Frauen ein Antidepressivum, 4% bereits im Teenageralter. 4% der Kinder erhielten Ritalin oder ähnliche Stimulanzien gegen ADHS. Auch in Deutschland wurde bereits jedem fünften aller im Jahr 2000 geborenen Jungen die Diagnose ADHS gestellt. Nach einer aktuellen Studie werten nach den aktuellen diagnostischen Kriterien 83 % der Kinder und Jugendlichen eine psychische Störung entwickeln, ehe sie 21 sind. Einem Viertel der Insassen von Pflegeheimen werden Neuroleptika verabreicht. Innerhalb von vier Jahren stieg der Konsum von verschreibungspflichtigen Stimulanzien um ein Drittel und der Verbrauch von Antidepressiva um fast die Hälfte. 6% der US Bürger sind medikamentensüchtig. Inzwischen gibt es in den USA mehr Todesfälle aufgrund von Medikamentenmissbrauch als infolge illegaler Drogen.
Viele gesunden Menschen würden in schädlicher Weise medikamentös behandelt, während für jene, die wirklich krank seien, zu wenig Geld für erforderliche Behandlungen zur Verfügung stünde. Diagnostischer Übermut, so Frances, könne gesundheitsschädlich sein.
Den Pharmakonzernen bringen die Ausweitung psychiatrischer Diagnosen Spitzeneinnahmen. 2011 wurden in den USA mehr als 18 Milliarden Dollar für Neuroleptika ausgegeben, das sind 6% des Gesamtumsatzes aller Medikamente. 11 Milliarden Dollar wurden für Antidepressiva und 8 Milliarden für ADHS-Medikamente ausgegeben. Zwischen 1988 und 2008 hat sich der Konsum von Antidepressiva vervierfacht. Dabei werden 80% der Psychopharmaka von Allgemeinmedizinern verschrieben, die dafür eigentlich nicht qualifiziert sind. Auch in Europa versucht die Pharma-Lobby auf EU-Ebene seit Jahren zu bewirken, dass das Werbeverbot für verschreibungspflichtige Psychopharmaka aufgehoben wird, was ihren Umsatz in Amerika binnen kurzem um das Zweieinhalbfache erhöht hat. Der Jahresumsatz der Pharmakonzerne betrug 2012 weltweit über 700 Milliarden Dollar, die Hälfte davon in den USA, ein Viertel in Europa, bei einer sagenhaften Gewinnmarge von 17 %. Entgegen ihren Behauptungen, die Investitionen für die Forschung seien so furchtbar teuer, investiert die Pharmaindustrie doppelt so viel in die Werbung, wie in die Forschung. Die wirksamsten Psychopharmaka wurden bereits vor 60 Jahren entdeckt, und zwar allesamt zufällig und nicht durch gezielte Forschung, seither wurden keine wirksameren neuen Arzneien gefunden.
Was unter Normalität zu verstehen ist, sei, so Frances, völlig ungeklärt. Lexikalische Definitionen seien oft tautologisch. Normal bzw. gesund im psychiatrischen Sinn ist ein Mensch, der keine psychische Störung oder Krankheit hat. Krank wiederum ist jemand, der nicht gesund ist. Die Definitionen drehen sich im Kreis.
Gesundheit und Krankheit kann auch nicht statistisch definiert werden. Das barbarische Verhalten der deutschen Bevölkerung unter dem NS-Regime war in einem statistischen Sinn massenhaft, insofern normal, in einem ethischen Sinn aber fraglos abnorm. Wenn man die Gauß‘sche Glockenkurve als Modell der Normalität nimmt, so wären eher seltene Lebensformen wie etwa die Homosexualität (grob geschätzt etwa 4% der Bevölkerung) im statistischen Sinne nicht als normal zu betrachten. Legt man dagegen die utopische Gesundheitsdefinition der Weltgesundheitsorganisation („ein Zustand vollständigen physischen, geistigen und sozialen Wohlbefindens“) zugrunde, so wäre nahezu kein Mensch überhaupt je gesund.
In die Abgrenzung zwischen Normalität oder Gesundheit versus Krankheit oder Störung gingen derart viele kulturelle und kontextabhängige Werturteile ein, dass eine klare Abgrenzung unmöglich sei. Sie könne bestenfalls nach pragmatischen Gesichtspunkten vorgenommen werden. In der Psychiatrie gebe es bis heute trotz einem gewaltigen finanziellen Aufwand und tausenden von Studien keinen einzigen Labortest, der in der Lage sei, psychische Störungen nachzuweisen. Psychiatrische Diagnosen basierten somit einzig und allein auf subjektiven Urteilen, die naturgemäß fehlbar sind.
Auch die Anthropologie gibt auf die Frage nach der Normalität keine Antwort. In manchen Völkern umfasst das Heiratsalter bereits frühpubertierenden Mädchen, was in unserer Gesellschaft als Verbrechen gelten würde. Manche Gesellschaften erlauben unter bestimmten Bedingungen das Töten oder Verstümmeln von Menschen, während sie das Essen bestimmter Tiere verbieten. Für Normalität gibt es keine Norm.
Auch mit psychologischen Tests kann man den Unterschied zwischen gesund und krank nicht feststellen, denn was bei Tests herauskommt sind lediglich Testwerte. Wenn ein Patient in einer Depressionsskala sechs von zehn Fragen mit „ja“ angekreuzt, ist er dann depressiv, während jemand, der nur fünf Kästchen angekreuzt nicht depressiv ist? Solche Grenzsetzungen sind willkürlich, entscheiden aber gravierend über den Gesamtumfang der zu behandelnden Patientenpopulation.
Keine der vielen existierenden Definitionen von psychischer Krankheit sei eine Hilfe bei der Bestimmung, welche Leiden als psychische Störung betrachtet werden sollten und welche nicht. Mitte des 19. Jahrhunderts habe die Psychiatrie nur sechs Störungen gekannt, heute sind es fast 200. Die psychischen Störungen, die Eingang ins DSM fanden, verdankten, so Frances, ihren Status keinem rationalen Ausschlussverfahren. Sie gelangten ins System aus praktischer Notwendigkeit, Zufall, allmählicher Verwurzelung und Trägheit. Es handele sich um ein Sammelsurium ohne innere Logik von Definitionen die sich teilweise gegenseitig ausschließen.
Obwohl im aktuellen DSM-V versucht wird, die Psychiatrie auf eine neurobiologische Basis zu stellen, hätten die Milliarden an Dollar, die in die biologische Psychiatrieforschung investiert wurden, bisher keinen überzeugenden Nachweis erbracht, dass eine psychische Störung gleich welcher Art eine biologisch abgrenzbare Krankheits-Entität mit einer naturwissenschaftlich erfassbaren Ursache sei.
Dass für eine „Schwere depressive Störung“ fünf und nicht vier oder sechs Symptome über einen Zeitraum von zwei, nicht aber einer oder drei Wochen vorliegen müssen, sei keine wissenschaftliche Notwendigkeit, sondern eine willkürliche Entscheidung. Wo die Grenze gezogen wird, ist eine Frage des Ermessens der Autoren, die, so Frances, bei allen Versionen des DSM aus einer kleinen Gruppe von Wissenschaftlern bestand, die in der Festlegung ihrer Definitionen vollkommen freie Hand hatten und von niemandem wissenschaftlich kontrolliert wurden.
Den Pharmakonzernen wiederum sei es einzig und allein daran gelegen, durch „kreatives Marketing“ wahrscheinlich gesunden Menschen einzureden, sie seien zumindest geringfügig erkrankt. Der Schlüssel zu ihrer Gewinnmaximierung sei die Inflation diagnostischer Begriffe.
Die ersten beiden Versionen DSM-I (1952) und DSM-II (1968) lösten in der Fachöffentlichkeit wenig Resonanz aus. Erst das DSM-III (1975) tauchte weltweit auf den Radarschirmen der Psychiater und Psychologen auf. Erstellt wurde es von einer kleinen Gruppe biologisch orientierter Forscher unter Leitung von Robert Spitzer, die sich in ihren Kriterien auf Oberflächensymptome bezogen, was hervorragend zu dem biomedizinischen Modell psychischer Störungen passte. Psychologische, soziale und ökologische Faktoren blieben außen vor, und diese Perspektiven verloren seitdem stetig an Ansehen und Einfluss. Das DSM-III habe die Psychiatrie in eine „reduktionistischen Zwangsjacke“ gesteckt, während interpersonelle Empathie, die Untersuchung komplexer, individueller Lebensgeschichten, unbewusster und sozialer Dynamiken ausgeblendet wurden. Zudem enthielt bereits das DSM-III zahlreiche neue Symptome, die an der Grenze zur Normalität angesiedelt waren.
Die revidierte Version DSM-III-R erschien 1987, im selben Jahr, in dem auch Prozac (Fluctin) eingeführt wurde, dessen rasanter Absatz zu einem guten Teil auf die weit gefasste Definition von Depression im DSM zurückgeht. Bald wurden Antidepressiva trotz ihrer zum Teil massiven Nebenwirkungen querbeet auch gegen Panik, Ängste, Zwänge, Traumata, Essstörungen, Sexualstörungen, Süchte sowie als allgemeine Stimmungsaufheller verschrieben.
1994 entstand unter der Leitung von Allen Frances das DSM-IV. Bezeichnend ist, wie er zu dieser Aufgabe kam. Der Direktor der American Psychiatric Association (APA) rief Frances an und fragte ihn, ob er die Leitung der Kommission für das neue DSM-IV übernehmen würde. Es gab keine Vorgaben, wie er inhaltlich und redaktionell vorgehen oder welche Kollegen er zur Mitarbeit aussuchen solle. Er allein hatte völlig freie Hand über Aufbau und Inhalt dieses international extrem einflussreichen diagnostischen Systems.
Selbstkritisch vermerkt Frances, dass es im Nachhinein betrachtet ein großer Fehler war, die diagnostischen Schwellen im DSM-IV nicht deutlich anzuheben, um die daraufhin einsetzende diagnostische Inflation schon vorbeugend einzudämmen. Tatsächlich habe das Buch dazu geführt, dass die Pharmawerbung explodierte, während sich ADHS, Autismus und bipolare Störung zu flächendecken Epidemien auswuchsen. Kein Wunder, denn 56% der Experten, die das DSM-IV ausarbeiteten, unterhielten finanzielle Verbindungen mit der Pharmaindustrie.
Eine der seither inflationär angewandten Diagnosen, so Frances, sei das „Aufmerksamkeits-Defizit- und Hyperaktivitäts-Syndrom (ADHS)“, die heute an 10% aller Kinder vergeben wird, die dann folgerichtig mit Stimulanzien behandelt werden. Inzwischen beschaffen sich 30% der amerikanischen Studenten und 10% der Schüler illegal verschreibungspflichtige Stimulanzien wie Ritalin, um bei Prüfungen besser abzuschneiden.
Eine „Bipolare Störung im Kindesalter“ kam vor 50 Jahren praktisch nie vor. Nun ist diese Diagnose laut Frances in Amerika mit einer Inflation auf das 40fache zur „größten Blase der gesamten Psychiatrie“ angeschwollen. Die Diagnose gründet auf einem bunten Sammelsurium von Symptomen mit der Folge, dass bereits Kinder zu Stammkunden von Psychopharmaka gemacht werden, mit der Perspektive eines lebenslänglichen Konsums. Inzwischen gibt es bereits Todesfälle bei zwei- und dreijährigen Patienten infolge einer Medikamentenüberdosis.
Vor dem DSM-IV war „Autismus“ eine extrem seltene Erkrankung, in den Jahren danach entstand eine Autismus-Epidemie mit einer Steigerung um das 20fache in 20 Jahren, vor allem dadurch, dass auch das nur vage definierte „Asperger-Syndrom“ in den Autismus Begriff aufgenommen wurde.
Aus der „Sozialen Phobie“ wurde eine Modekrankheit, die aus schüchternen Menschen in den USA mindestens 15 Millionen psychisch Kranke gemacht hat, die dann auch gleich zum Beispiel mit Paroxetin (Paxil) behandelt wurden. Diese Menschen neigen zu einer ausgeprägten Placeboreaktion, was sie für die Pharmaindustrie besonders attraktiv macht.
Die „Major Depressive Disorder“, wie die schwere Depression im DSM-IV genannt wird, führte zu einer Depressionsepidemie, von der heute angeblich 15 Millionen Amerikaner betroffen sind. Neben tatsächlich Depressiven erfasst die viel zu offen formulierte Diagnose auch gesunde Traurige, die mit Antidepressiva behandelt werden, weil bei ihnen angeblich ein chemisches Ungleichgewicht im Gehirn durch Medikamente wieder in Ordnung gebracht werden müsse.
Viagra wurde nach seiner Entdeckung zu einem der meistverkauften Medikamente der Geschichte. So passte es gut, dass als begründende Diagnose die „Erektile Dysfunktion“ gefunden wurde. Als weibliches Pendent dazu gilt neuerdings die „Female Sexual Dysfunction“, an der angeblich 43% der Frauen erkrankt seien. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis Medikamente vermarktet werden, die angeblich dagegen helfen.
Das aktuelle DSM-V wurde Anfang letzten Jahres ohne jede Qualitätskontrolle herausgegeben, obwohl die Verlässlichkeitstests verheerend ausgefallen waren, weil die chronisch pleite APA dringend auf den Rückfluss der 20 Millionen Dollar angewiesen war, die sie in das Projekt gesteckt hatte.
Als bombensichere Modediagnose wurde darin die „Disruptive Mood Dysregulation Disorder“ erfunden für Kinder, die mal reizbar, mal traurig sind, Selbstzweifel heben und sich öfter betrübt zurückziehen. Es geht nicht an, meint Frances, jeden unbequemen oder anstrengenden Aspekt der Kindheit als psychische Störung zu etikettieren. Kindliche Ausraster seien keine Krankheit. Werden sie als solche diagnostiziert, sind nur neue, sinnlose und schädliche Ausgaben – in diesem Fall z.B. für atypische Neuroleptika – die Folge.
Ältere Menschen, die etwas von ihrer geistigen Spannkraft verlieren, werden durch das DSM-V massenhaft in die Kategorie „Mild Neurocognitive Disorder“ einsortiert, statt die geistigen Folgen des Alters als natürlich zu akzeptieren. Gegen diese angebliche Krankheit gibt es zwar keine sinnvolle medizinische Behandlung, man kann dafür aber viele teure Gehirnuntersuchungen ansetzen.
Das „Binge-Eating-Syndrom“ im DSM-V, also heimliche Raubzüge in die gut gefüllte Speisekammer, hat eine derart niedrige Diagnoseschwelle, dass voraussichtlich bis zu 5% der Bevölkerung davon betroffen sein werden. Statt sich kritisch mit der verschwenderischen Anwendung von Zucker, Fett und Geschmacksverstärkern in unseren Nahrungsmitteln zu beschäftigen, statt Dicksein also primär als soziales Problem einer unökologischen Lebensweise zu betrachten, wird es zur psychischen Krankheit gemacht,.
Die ADHS-Epidemien wird vom DSM-V nun auch auf Erwachsene übertragen als „Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom bei Erwachsenen“. Konzentrationsprobleme können überaus vielfältige körperliche, psychische und soziale Gründe haben. Mit dieser Diagnose entsteht aber nun ein gewaltiger Markt zum Absatz von Psychostimulanzien inklusive eines noch größeren Sekundärmarktes zur allgemeinen Verbesserung der Konzentrationsfähigkeit. Ein Diagnosehandbuch für psychische Störungen sollte, so Frances, kein Vehikel für geistige Leistungssteigerung sein.
Die Diagnoseschwelle für eine „Schwere Depression“ wurde im DSM-V derart nach unten verlegt, dass ein Mensch, der einige Wochen nach dem Tod einer nahestehenden Person noch traurig ist, als psychisch krank einsortiert wird. Eine normale Folgeerscheinung liebevoller Bindung wird pathologisiert.
Im DSM-V wird der Begriff Sucht durch die Diagnose „Verhaltenssüchte“ derart ausgedehnt, dass jetzt neben dem pathologischen Spielen auch etwa die Internet-, Kauf-, Sex-, Golf-, Jogging-, Bräunung-, Modelleisenbahn-, Hausputz-, Koch-, Gartenarbeits-, Sportschau-, Surf- und Schokoladensucht, also weite Bereiche der individuellen Lebensweise zur psychischen Störung erklärt werden können. Vor allem die Internet- und die Smartphone-Sucht bietet sich heute für eine weltweite Epidemie an.
Im letzten Moment aus dem DSM-V gestrichen wurden völlig überzogene Diagnosen wie das „Psychose-Risiko-Symptom“, das „Abgeschwächte Psychose-Syndrom“, die“Hebephilie“ (das erotische Angesprochensein durch pubertierenden Jugendliche), die „Hypersexualität“ und die „Sexsucht“.
Frances möchte mit dem oben genannten Buch sowohl die Normalität als auch die Psychiatrie retten. Die Psychodiagnostik solle sich auf die Grenzen ihrer Kompetenz beschränken und eine klare finanzielle Distanz zur Pharmaindustrie wahren. Er schlägt konkrete und radikale Maßnahmen zur Zähmung der Pharmaindustrie vor, die sich vor allem gegen die direkten und indirekten finanziellen Zuwendungen der Pharmariesen an Ärzte, Verbände, Lobbyvereinigungen und Politiker richten. Nutzlose oder schädigende Medikamente müssten vom Markt genommen werden. Ärzte die zu viel Psychopharmaka verschreiben, müssten zur Rechenschaft gezogen werden. Frances empfiehlt, die Verantwortung für die Erstellung folgender Ausgaben des DSM künftig der Amerikanischen Psychiatrischen Vereinigung (APA) zu entziehen und sie in die Hände eines unabhängigen Gremiums zu legen, das keine eigenen wirtschaftlichen Interessen verfolgt und die die Diagnoseschwellen für psychische Störungen deutlich nach oben verlegt.
Insgesamt ein überaus lesenswertes und leicht lesbares Buch, das ich an einem Wochenende ausgelesen hatte, von einem, der sich hervorragend mit seiner Materie auskennt und sich kritisch mit Auswüchsen seines Metiers auseinandersetzt. Mehr davon!