Was ist körperpsychotherapeutische Atemarbeit?
Körperpsychotherapeutische Atemarbeit ist eine Arbeitsweise bzw. eine Facette innerhalb der Gesamtheit der Arbeitsweisen der Körperpsychotherapie, in der der Fokus auf dem Atemmuster des Patienten liegt. Körperpsychotherapeutische Atemarbeit kann auf vielfältige Weise zur Selbsterfahrung, zur Körper-Diagnostik oder als Intervention eingesetzt werden.
Atem-Diagnostik bedeutet, dass der Therapeut im therapeutischen Prozess immer wieder auf das Atemmuster des Patienten achtet: Neigt der Patient z.B. dazu, eher in die Brust oder eher in den Bauch zu atmen? (Chronische Brustatmung weist in der Regel darauf hin, dass bei dem Patienten Gefühle „hochkommen“, während Bauchatmung eher für einen „geerdeten“, also in sich ruhenden Zustand spricht.) Ist der Atem des Patienten eher voll oder eher flach, ist bei ihm eher die Einatmung oder die eher die Ausatmung betont, fließt der Atem oder ist er gebremst, ist er eher schnell oder eher langsam? All diese Muster weisen auf unterschiedliche psychovegetative Zustände des Patienten hin.
Der Therapeut kann seine Wahrnehmungen des Atemmusters des Patienten diesem auf fragende Weise zurückspiegeln, z.B.: „Dein Atem ist gerade relativ kurz und beschleunigt, fühlst du dich im Moment gerade aufgeregt?“
Wenn der Therapeut chronische Disharmonien im Atemmuster des Patienten entdeckt, kann er ihn einladen, mit einer Veränderung seines Atemmusters zu experimentieren, zum Beispiel: „Du atmest gerade ganz überwiegend hoch in der Brust, kannst du einmal versuchen, etwas tiefer in den Bauch zu atmen und beobachten, was das gefühlsmäßig verändert.“
Eine weitere Möglichkeit der körperpsychotherapeutischen Arbeit mit dem Atem ist Achtsames Atem-Gewahrsein. Dabei leitet der Therapeut den Patienten an, sich seines Atems bewusst zu werden, ihn also aufmerksam zu beobachten, ohne aber zu versuchen, ihn zu verändern. Das klingt einfach, ist aber außerordentlich schwierig, weil wir unwillkürlich dazu neigen, unseren Atem zu beeinflussen, sobald wir unsere Aufmerksamkeit darauf richten. Nicht-beeinflussendes Atem-Gewahrsein ist eine sehr einfache, aber hochinteressante und wirkungsvolle Übungen dafür, wach und achtsam zu sein, aber dennoch aus einem chronischen Handlungszwang (dem „Macher-Modus“) herauszutreten und einfach das Geschehen zu lassen, was von selbst geschehen will.
Durch eine solche eher meditative Arbeit mit dem Atem kann das Atemmuster des Patienten perspektivisch beruhigt und entschleunigt werden, wodurch sich der Patient auch emotional beruhigt. Dies ist insbesondere dann sinnvoll, wenn ein Patient chronisch zu Zuständen der Über-Emotionalisierung oder zu energetischer „Überdrehtheit“ neigt. Der Atem kann nämlich nicht unmittelbar beruhigt werden. Wenn man das versucht, gerät man lediglich in unproduktiven Stress und wird dadurch eher noch unruhiger. Man kann sich ebenso wenig direkt entscheiden, ruhiger zu atmen, wie man willentlich seinen Herzschlag verlangsamen kann. Dies geht nur indirekt, beispielsweise indem man über längere Zeit (vielleicht 10-20 Minuten lang) dem Atem zuschaut, so wie er ist, ohne sich aktiv zu bemühen, ihn zu verändern. (Die Übung der fortgesetzten meditativen Achtsamkeit auf den Atem stammt aus der buddhistischen Vipassanah-Tradition.)
Der Patient kann auch angeleitet werden, seine Aufmerksamkeit auf die Pause zu fokussieren, die auf natürliche Weise am Ende des Ausatmens bzw. zwischen dem Ausatmen und dem Einatmen entsteht. Der Patient soll sich nicht bemühen, diese Pause zu verlängern, sondern fokussiert lediglich seine Aufmerksamkeit darauf, wodurch sie sich aber automatisch allmählich ein wenig vertieft und verlängert. Das beruhigt den Atemrhythmus beruhigt und trägt dadurch zu einer Beruhigung des gesamten Systems des Patienten bei. Diese Übung kann ggf. ergänzt werden durch eine Vorstellung von Wärme in der Herzgegend, die in alle Richtungen des Körpers, ja sogar über den Körper hinaus ausstrahlt.
Der Therapeut kann den Patienten auch einladen, seinen Atem mit Bewegungen oder Imaginationen zu verbinden. Beispielsweise können Tai-Chi-ähnliche Bewegungsimprovisationen mit dem Atem verbunden werden, wodurch sie eine sowohl vitalisierende als auch harmonisierende Wirkung entfalten können. Oder der Patient kann beispielsweise eingeladen werden, beim Ausatmen imaginativ „Spannungen aus seinem Körper hinausströmen zu lassen“, und sich beim Einatmen vorzustellen, dass „frische, neue Energie in seinem Körper hineinströmt“.
Eine körperpsychotherapeutische Sitzung mit Atemarbeit könnte beispielsweise so beginnen, dass der Körperpsychotherapeut den Patienten bittet, sich auf eine Matratze oder Liege zu legen und ihn dann fragt, woran er in der Sitzung arbeiten will, wie er sich fühlt, oder wie sich sein Thema gerade im Körper anfühlt. Nehmen wir an, der Patient hat gerade etwas erlebt, was ihm ein „Grummeln im Bauch“ verursacht hat. Er spürt also, dass etwas in seinem Bauch „arbeitet“, was sich diffus unwohl oder vielleicht auch leicht verärgert anfühlt. Wenn die Situation und die therapeutische Beziehung es zulässt, könnte der Körperpsychotherapeut ihn fragen: „Wie wäre es, wenn ich meine Hand dorthin lege?“ Wenn der Patient zustimmt, könnte der Therapeut seine Hand auf den Bauch des Patienten legen und auf diese Weise nonverbal, also körperlich, Kontakt zum Gefühl des Patienten aufnehmen, was es diesem wiederum erleichtert, das „Grummeln“ in seinem Bauch deutlicher zu spüren. Nun könnte der Körperpsychotherapeut den Patienten z.B. einladen: „Versuche bitte mal, zu dem Gefühl hin zu atmen“ oder ganz allgemein: „Probier mal, etwas mehr zu atmen.“ Wenn der Patient zu dem Gefühl hin und/oder insgesamt etwas mehr atmet, intensivieren sich in der Regel die Gefühle, bzw. sie werden für den Patienten deutlicher spürbar. Nun kann der Körperpsychotherapeut den Patienten einladen, diese Empfindung körperlich und/oder mit seiner Stimme auszudrücken. Auf diese Weise könnte zum Beispiel eine unruhige Bewegung mit Hüften und Schultern, verbunden mit unwirsch, genervt oder unwillig klingenden Stimmlauten entstehen. Nun könnte der Körperpsychotherapeut den Patienten nach seinen Assoziationen fragen, z.B.: „Was fällt dir dazu ein?“ oder „Woran/an wen erinnert sich das?“ Der Patient wird also eingeladen, assoziative Brücken zwischen dem Gefühl in seinem Bauch und biografisch relevanten Situationen herzustellen. Dies können entweder Situationen aus seinem aktuellen Leben oder aus seiner Lebensgeschichte bis weit zurück in seiner Kindheit sein. Der Körperpsychotherapeut geht also technisch gesehen hin und her zwischen Gefühl, Berührung, Atem, Ausdruck und Situation, wobei das Sich-selbst-Fühlen des Patienten im Zentrum steht (daher bezeichnet man die Körperpsychotherapie als emotionszentriert des Verfahren).
Eine spezielle und außerordentlich wirkungsvolle Art der körperpsychotherapeutischen Atemarbeit ist die Intensivierung des Atems, die von kleinen Impulsen, „ein wenig mehr zu atmen“ bis zu über mehrere Stunden hinweg ausdehnte, hoch energetische Hyperventilations-Ritualen gehen kann.
Durch eine Intensivierung des Atems, wenn der Patient also eingeladen wird, tiefer und schneller zu atmen, als er das normalerweise tut, können hochenergetische dynamische Atemtrance-Erfahrungen entstehen. Normalerweise ist das Bewusstsein vom Unterbewusstsein durch eine mehr oder weniger stabile Abwehrbarriere getrennt. Tiefere Schichten der Psyche sind uns nicht bewusst, bzw. sind dem Bewusstsein durch Abwehrprozesse vorenthalten. Durch die Verstärkung des Atems wird die Abwehrbarriere zwischen dem Bewusstsein und dem Unbewussten vorübergehend schwächer und Gefühle, Impulse, Assoziationen, Symbole und Erfahrungen, die normalerweise unbewusst sind, „kommen hoch“. Durch Atemverstärkung ist es dem Patienten möglich, gezielt und dosiert in sein Unterbewusstsein „einzutauchen“, was als intensive Form der körperorientierten Selbsterfahrung genutzt werden kann.
Wenn mit Techniken der Atemverstärkung gearbeitet wird, so kann sich der Patient (in selbst erfahrungsorientierten Settings spricht man von dem „Atmer“) sich zunächst innerhalb eines gewissen Erfahrungsraumes frei bewegen. D.h. er nimmt die Gedanken, Gefühle und Impulse wahr, die für ihn bewusstseinsfähig sind. Wenn er seinen Atem verstärkt, kommt er früher oder später in Kontakt mit Erfahrungen, die ihm fremd, unzugänglich oder schwer aushaltbar erscheinen, beispielsweise mit körperliche Spannungen, intensiven Gefühlen von Müdigkeit, von emotionalem Schmerz, Scham, Angst oder Wut. Der Erfahrungsraum des Atmers ist durch solche „Abwehr-Empfindungen“ begrenzt wie durch eine Wand. Der Atmer kommt in seiner Selbsterfahrung also bis zu der „Wand“ und zunächst nicht weiter. Der Therapeut kann ihn dann anleiten, sich der „Wand“ (also einer schwer integrierbaren inneren Erfahrung) „anzunähern“, ja „in sie hinein zu gehen“ und zu der „Wand“ (d.h. zu der Spannungen, dem Schmerz, der Wut oder was auch immer) zu „werden“. Der Atmer soll also mit seinem ganzen Sein beispielsweise den emotionalen Schmerz, den er gerade wahrnimmt, fühlen und ihn körperlich und stimmlich ausdrücken (das ist nur in speziell geschützten Settings und Räumen möglich). Auf diese Weise kann der Atmer durch die „Wand“ hindurch gelangen in einen nächsten Erfahrungsraum, in dem er sich wieder bewegen kann, der jedoch früher oder später wiederum durch eine unintegrierte Erfahrung (eine „Wand“) begrenzt ist. Mit zunehmender Tiefe und Intensivierung der Atem-Selbsterfahrung werden die „Wände“ immer dicker und die „Räume“ immer bewusstseinsfferner, also eigentümlicher, wundersamer, aber auch beeindruckender.
Dabei hat der Atmer/Patient jederzeit die Möglichkeit, durch Veränderung der Intensität seines Atems und seiner Ausdrucksbewegungen die Intensität der Übung fein zu steuern: Wenn er mehr atmet und sich mehr bewegt, wird die Übung intensiver und umgekehrt.
Zum Ende der Übung hin (die sich manchmal über mehrere Stunden hinweg erstreckt), wenn sich der Atemrhythmus wieder normalisiert, fühlt sich der Atmer in der Regel tief entspannt („wie in Abrahams Schoß“). Danach ist er für etwa 15-30 Minuten oft körperlich noch etwas „wacklig“, und seine Grenzen sind noch offen (er fühlt sich dann vorübergehend wie „ohne Haut“), so dass er mit sich selbst achtsam und behutsam umgehen muss, wozu ggf. auch die anderen Teilnehmer der Gruppe aufgefordert werden.
Der Therapeut (in selbsterfahrungsorientierten Gruppen pro Atmer ein „Sitter“) begleitet den Atmer bei seiner Erfahrung und unterstützt ihn gegebenenfalls durch bestimmte verbale oder nonverbale Interventionen, die hier nicht ausgeführt werden können. Gegen Ende der Atem-Trance-Erfahrung wird der Atmer in der Regel eingeladen, seine Erfahrungen zu malen, was dem Charakter des Erlebten meistens mehr entspricht als darüber zu sprechen.
Körperpsychotherapeutische Hyperventilationsarbeit ist die intensivste Form der Selbsterfahrung, die ich kenne. Sie kann zu starken, wachtraumartigen bis quasi-halluzinatorischen Erfahrungen mit hoher emotionale Erregung und intensiven körperlichen Ausdrucksbewegungen sowie mit starken Energiegefühlen (in Form von Strömen, Kribbeln, Aufladung o.ä.) führen. Sie eignet sich als Tiefenselbsterkundungsmethode für Patienten, deren körperlicher Zustand und deren psychische Struktur stabil genug für eine solche intensive Erfahrung ist.
Kontraindikationen: Für Patienten mit Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Epilepsie, behandlungsresistenten Asthma, für Schwangere sowie für Patienten mit frischen Operationswunden oder mit einer fragilen, auflösungsbedrohten psychischen Struktur, manifesten generalisierten Ängsten, schweren Traumatisierungen oder latenten Psychosen ist Hyperventilationsarbeit nicht oder nur in stark abgewandelter, den jeweiligen Möglichkeiten des Patienten individuell angepassten Form geeignet.