Was ist Humanistische Psychotherapie?

Wenn man den Verfahrensbegriff des Wissenschaftlichen Beirats Psychotherapie und des Gemeinsamen Bundesausschusses zugrunde legt, gibt es vier „Verfahren“ der Psychotherapie, von denen in Deutschland aber nur die ersten beiden mit den Krankenkassen abgerechnet werden können:

  • behavioral,
  • psychodynamisch,
  • systemisch,
  • humanistisch.

2010 haben sich elf PsychotherapeutInnenverbände und kompetente Einzelpersonen zur „Arbeitsgemeinschaft Humanistische Psychotherapie“ (AGHPT) zusammengeschlossen (www.aghpt.de). Die AGHPT-Verbände vertreten zusammen etwa 10.000 Mitglieder, wobei es im psychosozialen Bereich in Deutschland vermutlich noch wesentlich mehr KollegInnen gibt, die Humanistisch orientiert oder beeinflusst sind.

Im Oktober 2012 hat Prof. Jürgen Kriz im Auftrag der AGHPT einen 270-seitigen Antrag auf Anerkennung der Humanistischen Psychotherapie als Verfahren beim Wissenschaftlichen Beirat formuliert und eingereicht, dem 264 hochwertige Wirksamkeitsstudien beiliegen (der Antrag kann im Original auf der Website der AGHPT eingesehen werden). Bisher hat sich der Beirat dazu noch nicht geäußert.

Die Ursprünge der Humanistischen Psychotherapie liegen

  • philosophisch in der Existenzphilosophie nach Kierkegaard und Sartre und der Dialogphilosophie von Buber sowie im modernen Humanismus,
  • psychologisch in der humanistischen Psychologie von Maslow, Rogers, May und vielen anderen, sowie in der Gestaltspsychologie von Wertheimer, Köhler, Koffka, insbesondere der Selbstregulationstheorie von Goldstein,
  • psychotherapeutisch in der Pionierarbeit von Gründerpersönlichkeiten wie Reich, Rogers, Moreno, Frankl, Perls und Berne,
  • weitere Quellen sind alte und neue Körper- und Bewegungslehren und -praktiken.

In der Terminologie des Wissenschaftlichen Beirats besteht die Humanistische Psychotherapie aus sechs „Methoden“, die seit ihrer Begründung erheblich weiter ausdifferenziert wurden:

  • Personzentrierte Psychotherapie,
  • Körperpsychotherapie,
  • Gestalttherapie,
  • Psychodrama,
  • Existenzanalyse/Logotherapie und
  • Transaktionsanalyse.

Hinzu kommen integrative Ansätze wie z.B. Focusing, Emotionsfokussierte Therapie oder Integrative Therapie.

Diese Ansätze sind verbunden durch ein gemeinsames Menschenbild, in dessen Mittelpunkt die Vorstellung des potentiell mündigen Menschen als Subjekt steht, das in seinen biopsychosozialen, ökologischen und biografischen Vernetzungen bewusst erleben, wahlfrei und sozial verantwortlich handeln und über seine gesamte Lebensspanne hinweg seine Existenz in seinen sozialen Bezügen aktiv und kreativ gestalten kann.

Im Zentrum des Humanistischen Menschenbildes steht das, was am Menschen spezifisch menschlich ist, also über seine biologische Natur hinausgeht und ihn als Person ausmacht:

  • Nur der Mensch strebt danach, sich in seinen sozialen Beziehungen und in seiner persönlichen und sozialen Geschichtlichkeit selbst zu verstehen und sein Leben an Werten auszurichten, die er als sinnhaft erlebt.
  • Nur der Mensch ist zu Introspektion und zu reflexivem Denken, zu kulturell-historischer Gesellschaftlichkeit, zu Liebe, Mitgefühl und Intimität, sowie zu engagiertem Sich-Einsetzen und kritischem Sich-Auseinandersetzen in der Lage.

Unter ungünstigen Bedingungen kann es zu einschränkenden Entwicklungen kommen, die als psychische Symptome erfahren werden. Psychische Störungen (subjektiv erlebt als psychisches Leid) werden in der Humanistischen Psychotherapie betrachtet als Produkt multipler Entfremdungen, z.B. von den eigenen Gefühlen oder zwischen Gefühlsanteilen, vom Körpererleben, vom sozialen Miteinander, von eigenen Fähigkeiten, Grenzen, Strukturen oder Bindungen.

Psychisches Leid entsteht biografisch durch unverarbeitete pathogene Beziehungserfahrungen oder Traumata wie zum Beispiel:

  • Deprivation – wenn jemandem etwas vorenthalten wird, was er notwendig braucht,
  • Invasion – gewaltsames Durchbrechen schützender Intimitätsgrenzen,
  • Repression – anhaltende Unterdrückung vitaler Lebensimpulse oder
  • Konfusion – dauerhaft verwirrende und gleichzeitig ausweglose Interaktionsstrukturen.

In der Humanistischen Psychotherapie wird bereits seit 60 Jahren das „dialogische Prinzip“ betont, also eine Sichtweise des psychotherapeutischen Prozesses als intersubjektivem Dialog, in dem sowohl der Patient[1] als auch der Therapeut (dieser auf professionell-selektive Weise) sein Erleben, seine Gefühle, seine Intuition und seine Ressourcen einbringt. (Diese Sichtweise wird zunehmend auch von den Richtlinienverfahren übernommen[2], leider oft ohne die Humanistischen Quellen zu benennen.)

Der therapeutische Dialog findet als wechselseitige Resonanz nicht nur auf der verbalen bzw. inhaltlichen, sondern auch auf der nonverbalen Ebene des körperlichen und mimischen Ausdrucks statt. Auch innerhalb des Patienten und innerhalb des Therapeuten finden dialogische Prozesse zwischen bewussten, teilbewussten und unbewussten Anteilen (z.B. Gefühlen, Gedanken, Impulsen oder Fantasien) statt. Der innere Dialog des Patienten kann vom Therapeuten mit dem Ziel einer konstruktiven Kooperation der beteiligten Anteile moderiert werden.

In der Humanistischen Psychotherapie wurden in den letzten Jahrzehnten eine große Vielfalt an Interventionen entwickelt, deren Wirksamkeit durch hunderte von Studien nachgewiesen wurde. Theoretische Konzepte und technische Interventionen werden in der Humanistischen Psychotherapie jedoch grundsätzlich als sekundär gegenüber einer personal akzeptierenden und wertschätzenden Beziehung zum Patienten und dem gemeinsamen Prozess der kooperativen und kreativen Auseinandersetzung zur Bewältigung der Probleme des Patienten betrachtet.

Es ist inzwischen empirisch gut belegt, dass die differenzierte Gestaltung und Reflexion der psychotherapeutischen Beziehung eine entscheidende Ressource für den therapeutischen Fortschritt des Patienten ist. Die Haltung des Humanistischen Psychotherapeuten bewegt sich in einer Dialektik zwischen schützendem Haltgeben und empathischer Zuwendung bei klarer professioneller Abgrenzung und gegebenenfalls respektvoll-konfrontativer Auseinandersetzung.

Humanistische Psychotherapie versteht sich als gemeinsames Ringen von Patient und Therapeut um konstruktive Antworten auf die Herausforderungen, die das Leben an den Patienten stellt. Der Patient wird ermutigt, sein Erleben und seine Beziehungsmuster fortgesetzt zu erkunden und probeweise konstruktiv zu verändern. Die konkreten Probleme und Symptome, die der Patient in die Therapie einbringt (z.B. Depressionen, Ängste, psychosomatische oder Beziehungsprobleme) werden als eingebunden betrachtet in die Auseinandersetzung mit existenziellen Fragen wie:

  • „Wofür lebe ich eigentlich?“, oder
  • „Wie gehe ich mit Erlebnissen von Gewalt, Verachtung, Schmerz oder Verlust um?“.

Die Haltung, die der Patient zu solchen Fragen einnimmt, hat erhebliche Auswirkungen auf die emotionale und psychosomatische Bewältigung seiner psychischen Probleme.

Die Humanistische Psychotherapie versteht sich als wachstumsorientiertes Verfahren in dem Sinn, dass ihr Ziel die Förderung der psychischen und kommunikativen Weiterentwicklung des Patienten ist. Dies geschieht vor allem durch Aktivierung und Entfaltung spezifisch menschlicher Ressourcen und ist auf eine von persönlichem Sinn getragene, selbstverwirklichende, authentische, sozial verantwortliche und respektvolle Positionierung in seinen sozialen Bezügen hin ausgerichtet.

Humanistische Psychotherapie ist erlebnisorientiert und emotionsfokussiert in dem Sinn, dass das unmittelbare emotionale Erleben des Patienten im Zentrum des Prozesses steht; die Gefühle des Patienten stehen also im Zentrum der psychotherapeutischen Arbeit. Sie werden in ihrer biografischen Gewordenheit und in ihrer Funktion zur Bewertung der Lebensrealität des Patienten auf Basis seiner Bedürfnisse und als Grundlage von Entscheidungsprozessen gesehen.

In der Humanistischen Psychotherapie wird der Mensch als verkörpert gesehen, daher ist die psychotherapeutische Arbeit mit dem Körpererleben und dem Körperausdruck ein zentraler Aspekt der Humanistischen Psychotherapie. Der Patient wird ermutigt, seine zunächst noch durch Ambivalenzen blockierten, diffusen oder teilweise unbewussten inneren Prozesse Schritt für Schritt differenziert zu erleben, zu erkunden, emotional zu verarbeiten, kognitiv zu integrieren, der Verbegrifflichung zugänglich zu machen und sozial angemessen verbal und nonverbal zu kommunizieren.

In den Anfangsjahren der Humanistischen Psychotherapie lag der therapeutische Fokus noch stark auf der Befreiung unterdrückter Emotionen und dem Ausbrechen aus verkrusteten Beziehungsmustern. In den letzten Jahrzehnten wurden differenzierte Konzepte zur Stabilisierung instabiler und zur Neubildung fehlender psychischer Strukturen entwickelt, die insbesondere bei Strukturstörungen und nach Traumatisierungen erforderlich sind. Ebenso wurden spezifische Ansätze für die psychotherapeutische Arbeit mit Kindern und Jugendlichen entwickelt.

Grundprinzip der Humanistischen therapeutischen Philosophie ist es, dem Patienten im psychotherapeutischen Prozess den optimalen Raum zu geben, über Ziele und Wege des Prozesses selbst zu entscheiden. Dies setzt eine fortgesetzte Auseinandersetzung des Patienten über existenzielle Orientierungen voraus und erfordert, dass der Therapeut auf Basis intensiver multimethodischer Eigentherapie die Möglichkeit hat, aus einem größeren Reservoir an therapeutischen Möglichkeiten zu wählen, um dem Patienten jeweils die Form des psychotherapeutischen Prozesses zur Verfügung stellen zu können, die für diesen Patienten zu dieser Zeit am förderlichsten ist.

Literatur

  • American Psychological Association: The Renewal of Humanism in Psychotherapy. Psychotherapy Bd. 12. Washington DC 2012
  • Cain, D. & Seeman, J.: Humanistic Psychotherapies. Handbook of Research and Practice. Washington DC: American Psychological Association 2002
  • Eberwein, W.: Humanistische Psychotherapie. Quellen, Theorien und Techniken. Stuttgart: Thieme 2009
  • Kriz, J. (im Auftrag der AGHPT): Antrag auf wissenschaftliche Anerkennung der Humanistischen Psychotherapie als Verfahren an den Wissenschaftlichen Beirat Psychotherapie. Berlin: 2012. www.aghpt.de > WBP-Antrag
  • Kriz, J.: Grundkonzepte der Psychotherapie. Weinheim: Beltz 2007
  • Revenstorf, D.: Psychotherapeutische Verfahren – Band III. Humanistische Psychotherapie. Stuttgart: Kohlhammer 1993
  • Yalom, I.: Existenzielle Psychotherapie. Bergisch Gladbach: EHP 2010

[1] Wenn ansonsten schwer lesbar wird hier die grammatikalisch männliche Form verwendet.

[2] Z.B. in der beziehungsorientierten Verhaltenstherapie nach McCullough oder in der relationalen/intersubjektiven Psychoanalyse/Tiefenpsychologie.

 

Werner Eberwein