Was ist Existenzialismus?
Existenzialismus ist eine Philosophie bzw. eine Weltanschauung oder Lebensweise, in der es darum geht, was es bedeutet, als Mensch zu „existieren“ in dem Sinne, dass man aktiv sein Leben und dessen Sinngebung gestaltet im Unterschied zu bloßen Dingen oder Objekten, die quasi nur passiv „vorhanden“ sind.
Der Ursprung und Anfang des Existenzialismus ist der Ausruf von Nietzsche in „Die fröhliche Wissenschaft“ (1887):
„Gott ist tot“
Das ist zunächst einmal schwer zu verstehen. Egal ob man an Gott glaubt oder nicht, etwas wie Gott kann vom Konzept her eigentlich nicht „tot“ sein (höchstens nicht existent). Was meint Nietzsche dann damit?
Er meint damit nicht etwa den Sieg in einer philosophischen Debatte gegen die Religion. Vielmehr benennt er ein (seiner Meinung nach) soziologisches Faktum, nämlich dass die traditionellen Glaubenssysteme (vor allem die Religion) (vor allem in Westeuropa) ihre absolute Macht verloren haben, mit der sie jahrhundertelang ein ganzes Kontinent in geistiger Geiselhaft gehalten haben und nun nicht mehr das Zentrum des Denkens der Menschen sind. (Was Nietzsche noch nicht sehen konnte, ist das aktuelle weltweite Erstarken eines fundamentalistischen Islam als Religion der Dritten Welt [und einiger der ölreichsten Länder der Welt] sowie von „Spiritualität“ die im Grunde eine eklektische Universalreligion ist, obwohl sie sich selbst so nicht versteht.)
Die alten Systeme nahmen den Menschen das Denken und die Verantwortung weitgehend ab. Das Leben des Einzelnen erhielt seinen Sinn und seine Orientierung in Bezug auf ein „Absolutes“, zum Beispiel die Lehren des Christentums, vertreten durch den Klerus der Kirchen. Die absoluten Systeme konnten alles erklären und dadurch Sicherheit geben, aber sie haben die Welt dehumanisiert, indem sie das menschliche Element entfernten. Nun aber, so Nietzsche, wenn „Gott tot“ ist, findet sich der Mensch in einer Welt ohne (absoluten) Sinn, und das bedeutet, er muss sich als wahlfreies Subjekt Sinn und Werte, die er nicht mehr vorfindet in eigener Verantwortung setzen.
Es könnte nun nahe liegend sein, die geistige Herrschaft der Religion zu ersetzen durch die Herrschaft der Vernunft, bzw. der Wissenschaft. Der Existenzialismus bestreitet nicht die Fortschritte und Wohltaten der Wissenschaft (während er ihre destruktiven Anwendungen scharf kritisiert), aber er bestreitet, dass die Art und Weise, wie die Naturwissenschaft zu ihren Resultaten kommt, also die (objektive) Methode von Hypothese und Experiment, auf die existenziellen Fragen des menschlichen Lebens angewandt werden können. Die empirische Wissenschaft verfügt nicht über Antworten, ja noch nicht einmal über eine Methode zur Gewinnung von Antworten auf z.B. die Frage, was dem individuellen Leben Sinn gibt, nach welchen Werten man sein Leben ausrichtet, und wofür man sein Leben leben will. Die menschliche „Existenz“ kann nicht distanziert aus einer Dritte-Person-Perspektive betrachtet werden. Der Mensch befindet sich immer und unweigerlich in seiner Existenz, in deren Zentrum und niemals außerhalb derselben. Daher betonen die Existenzialisten, dass „existenzielle“ Fragen (wie nach Sinn und Werten des Lebens) grundsätzlich nicht mit den Mitteln der Naturwissenschaft beantwortet werden können.
Existenzialisten legen statt dessen viel Wert auf Emotionen und Stimmungen, denn sie meinen, dass gerade diese dem Menschen seine subjektive Stellungnahme zum Leben zeigen. (Daher haben sich die Existenzialisten gern auch literarisch z.B. durch Novellen, Gedichte, Parabeln und Theaterstücke ausgedrückt.) Rationalität weist uns keinen Weg zur Gestaltung der eigenen Existenz. Dinge wie Tische und Stühle haben keine Gefühle, keine Subjektivität, sie „gestalten“ nicht. Gefühle und Stimmungen sind die Verbindung zwischen Person und Welt. Daher ist das Leben immer mit Stimmungen verbunden. Stimmungen sind jederzeit als Hintergrund für die Erfahrung und Interpretation jeder Situation präsent.
Der Existenzialismus sieht den Menschen nach dem Ende der absoluten Systeme zunächst in eine Leere geworfen, weil ihm die absolute Orientierung abhandengekommen ist, er bleibt dabei aber nicht stehen, sondern sieht die Erfahrung des Sinnverlustes vielmehr als Aufgabe des Individuums, die darin besteht, sein Leben aktiv mit Sinn zu füllen, indem man dem eigenen Leben Bedeutung gibt und sich an selbstgewählten Werten orientiert.
Der Existenzialismus ist nicht nihilistisch (obwohl er zunächst so erscheinen mag). Als Nihilismus wird eine philosophische Position bezeichnet, die davon ausgeht und dabei bleibt, dass es keinen Sinn, keine Werte und nichts gibt, woran man sich orientieren kann. Nach Sartre war das die geistige Grundlage der Nazi-Ideologie, in der nichts gegen die totale Vernichtung auch des eigenen Volkes spricht. Existenzialisten versuchen, angesichts des Verlusts der absoluten Werte und Orientierungen einen Weg heraus aus dem Sinnverlust zu finden. Sie meinen, dass Leben aus dem Erschaffen von Sinn, Bedeutung und Werten besteht. D.h. der Mensch beginnt mit „nichts“, aber dann erschafft er sich seine Existenz, also sein bewusst gelebtes und mit Werten und Sinn gesetztes Leben.
Der Mensch findet sich jederzeit nicht nur in einer faktischen Welt, sondern auch in einer Welt der Bedeutungen. Auch die eigene Identität ist eine solche Bedeutung, in der sich der Mensch zunächst als „geworfen“ empfindet. Er ist Weiße/r, Intellektuelle/r, Arbeitslose/r, Mutter/Vater, Partner/in, Schüler/in oder Polizist/in. Normalerweise erleben wir uns innerhalb solcher Identitäten selbstverständlich und denken nicht darüber nach. Besonders in psychischen Krisen oder auch in einer tiefgehenden Psychotherapie können wir jedoch in Kontakt damit kommen, dass all diese Selbstverständlichkeiten, die Bedeutungsnetze, ja die eigene Identität keineswegs selbstverständlich, sondern jederzeit durch eigene freie Wahl veränderbar ist.
Natürlich sind wir nicht vollkommen frei, wir können nicht entscheiden, mit einem Satz zum Mond zu springen, mit einem Fingerschnipsen den Weltfrieden zu erreichen oder 20 Jahre jünger werden. Dennoch bleibt uns in jeder Situation eine große Vielfalt von Wahlmöglichkeiten, die dann, sobald sie ergriffen sind, wieder neue Wahlmöglichkeiten eröffnen. Auf diese Weise gestalten wir unweigerlich unsere Existenz und sind in diesem Sinne und in diesem Rahmen für das, was wir gestaltet haben und seine Folgen verantwortlich.
Es ist eines der tiefsten Erlebnisse in existenziellen Psychotherapien, dass wir keineswegs so bleiben müssen, wie wir sind, auch wenn wir schon immer so gewesen sein mögen, sondern dass wir hier und jetzt eine andere Orientierung einschlagen, ja ein vollständig anderer Mensch werden können. An dieser Stelle, so die Existenzialisten, erleben wir existenzielle Angst. Es ist die Angst vor der eigenen Freiheit in Abwesenheit einer äußeren Orientierung, die uns zeigen könnte, was „richtig“ oder „authentisch“ ist. Wir sind radikal frei, unser Leben zu gestalten, Bedeutungen zu setzen, ja sogar unsere Identität zu definieren oder neu zu definieren. Wie sind „in die Freiheit geworfen“, wie Sartre sagte. Gerade in tiefen psychischen Krisen erleben wir, dass etwas Grundlegendes inFrage gestellt ist und sich verändern muss. Wir selbst sind in Frage gestellt, aufgefordert, uns zu verändern. Unsere gewohnte Identität ist destabilisiert, wir können nicht bleiben wie wir sind, und das macht (existenzielle) Angst.
Mit existenzieller Angst ist etwas ganz anderes gemeint als eine pathologische Phobie (z.B. eine Spinnenphobie). Existenzielle Angst ist unweigerlicher Aspekt unseres Menschseins: existenzielle Angst und existenzielle Freiheit sind zwei Seiten derselben Medaille. Die Existenzialisten meinen, dass wir vor dieser Angst nicht in Selbstverständlichkeiten und Glaubenssysteme hinein fliehen sollten, denn die existenzielle Angst zeigt uns unsere Freiheit. Es eröffnen sich vielfältige Möglichkeiten der Wahl und damit der Schrecken der Verantwortung für die Folgen der eigenen Entscheidungen.
Angesichts des sicheren eigenen Todes, also der Endlichkeit des Lebens ohne tröstende (oder schreckende) Orientierung auf ein Weiterleben danach verlieren alle alltäglichen Sicherheiten und Gewohnheiten ihre Bedeutung. Die Welt hat keine notwendige Bedeutung und keine notwendige Struktur. Der Mensch erlebt sich als radikal und individuell frei, seiner eigenen Existenz Bedeutung zu geben. Diese Freiheit macht Angst, in der Angst erleben wir uns als frei. Aus der existenziellen Angst, so die Existenzialisten, gibt es kein Entkommen. Wir können uns ihr nur stellen, und genau und nur dann erleben wir uns in unserer Freiheit als Subjekt. Wir erleben existenzielle Angst angesichts des Fehle jeder absoluten Orientierung, und genau in diesem Moment erleben wir uns als frei. Die Alternative dazu ist, sich in scheinbare Selbstverständlichkeiten hinein zu flüchten, also andere Menschen für sich selbst denken und über das eigene Leben bestimmen zu lassen.
Normalerweise scheuen wir jedoch diese Verantwortung und flüchten uns in Ängste und Zwänge, in denen wir unsere Freiheit leugnen, daher nannte Sartre sie „Selbstbetrug: „Ich kann nicht …“, „Ich muss …“, „Ich kann nicht anders …“, „Ich brauche …“, „Ich kann nicht ohne …“. Wir wählen uns damit unsere Welt als Gefängnis, in dem wir uns sicher fühlen.
Wenn uns, wie in dem Film „Matrix“ Morpheus die Wahl zwischen einer roten Pille (die aus der Matrix heraus führt) und einer blauen Pille (die in der Matrix festhält) stellt, wählen wir im Alltag meistens die blaue Pille der gewohnten Bedeutungssysteme, in denen wir uns sicher fühlen. Die rote Pille, heraus aus der Matrix, würde uns unsere selbstgewählte Befangenheit in selbsterzeugten, aber nicht selbstverständlichen Bedeutungsstrukturen zeigen. Sie macht Angst … und frei.
Kierkegaard spricht von der „süßen Angst“, die uns zugleich bedrohlich und verführerisch erscheint, magisch anziehend und nervenzerfetzend, genau in dem Augenblick, in dem wir erkennen, dass wir das Auto wirklich dort hin fahren können, wohin wir wollen … aber wenn wir es gegen einen Baum fahren, sind wir dafür verantwortlich. Die Existenzialisten sagen, dennoch sollen wir das Lenkrad nicht aus der Hand geben …
Vorläufer des Existenzialismus:
- Sören Kierkegaard (1813-1855)
- Friedrich Nietzsche (1844-1900)
- Jean-Paul Sartre (1905-1980)
Weitere bekannteste Existenzialisten:
- Simone de Beauvoir (1908-1986)
- Albert Camus (1913-1960)
- Gabriel Marcel (1889-1973)
- Martin Heidegger (1889-1976)
- Pablo Picasso (1881-1973)
- Fjodor Michailowitsch Dostojewski (1821-1881)
- Franz Kafka (1883-1924)
- Samuel Beckett (1906-1989)
- Eugène Ionesco (1909-1994)
- Alberto Giacometti (1901-1966)