Was ist Bodyreading?

Als „Bodyreading“ wird eine Methode der Körperdiagnistik bezeichnet, die in der Körperpsychotherapie angewandt wird. Durch Diagnose der Körperstruktur kann ein Körperpsychotherapeut Hypothesen über das Niveau und die Richtung der Körperenergie des Klienten entwickeln. In der Körperstruktur findet er Hinweise darauf, wie die Körperenergie verteilt ist und welche Bewegungsdynamik sie aufweist:

  • Bei manchen Menschen ist die körperenergetische Dynamik nach vorne gerichtet. Sie sitzen auf einem Stuhl auf der vorderen Kante, stets bereit aufzuspringen. Sie stehen auf dem Fußballen, als ob sie nach vorne kippen könnten. Sie sind auf dem Sprung wie ein Sprinter, jederzeit bereit zum Loslaufen.
  • Bei anderen Menschen ist die Richtung ihrer psychomotorischen Energie nach hinten verlagert. Sie stehen fersenlastig, wirken träge und behäbig. Sie „kommen nicht in die Pötte“, versinken beim Sitzen in das Sitzmöbel und haben Mühe, sich von einem Stuhl oder Sessel zu erheben.
  • Bei manchen Menschen ist der Schwerpunkt ihrer Körperenergie nach unten verlagert. Die untere Bauchregion, Hüften, Po und Oberschenkel und Waden wirken breiter und fülliger als der Oberkörper. Ihr Körper ist nach unten hin birnenförmig erweitert.
  • Andere Menschen haben eine athletische Körperform. Der Brust- und Schulterbereich wirkt gedehnt. Die Schultern sind trapezförmig erweitert. Sie haben ein großes Atemvolumen, aber die Beine und Füße wirken dünn, die Füße sind klein, die Bodenhaftung ist schwach. Ihre Energie ist nach oben verlagert.

Beispiel: Eine Klientin ist klein, zierlich und agil. Sie ist ständig in Bewegung, häufig im Laufschritt, immer auf dem Sprung, stets bereit, Erwartungen anderer Menschen zu erfüllen. Selbst in einem Entspannungssessel in meinem Therapieraum sitzt sie wippend und ungeduldig auf der vordersten Kante. In den Therapiesitzungen beschäftigt sie oft, was ich von ihr erwarte und wie sie meine Erwartungen erfüllen kann. Ich möchte ihr helfen, mit ihrer Aufmerksamkeit zu sich selbst, in ihren Körper hinein und zu mehr Ruhe zu kommen. Ich lade sie ein, sich auf eine Matratze zu legen, sich zuzudecken, in ihren Körper hineinzuspüren und still zu werden, ohne etwas zu tun. Zunächst spürt sie einen Impuls, aufzuspringen und unruhig im Therapieraum hin und her zu laufen. Ich fordere sie auf, der unruhigen Getriebenheit in ihrem Inneren auf den Grund zu gehen. Nach einer Weile spricht sie über Gefühle von innerer Leere und Wertlosigkeit und von ihrer zwanghaften Tendenz, diese durch Überaktivität zu kompensieren.

Für die Körperstruktur eines Menschen spielt die Vererbung eine Rolle. Die individuelle Ausprägung der körperlichen Gestalt auf Basis der ererbten Determinanten wird jedoch von der Lebensweise, der Lebensgeschichte und der Körperenergiedynamik der Person bestimmt. Abwehrformationen führen zu körperenergetischen Ungleichgewichten, und die verkörperten Abwehrstrukturen korrespondieren mit dominierenden Beziehungsmustern. Daher kann man die Abwehrdynamik und die Beziehungsmuster eines Menschen in gewissem Umfang an seiner Körperstruktur ablesen:

  • Ein Mensch, der Schuldgefühle oder Depressionen wie eine schwere Last mit sich herumträgt, hält sich oft gebeugt; man sieht das Gewicht, das auf ihm lastet an der Gekrümmtheit seiner oberen Wirbelsäule.
  • Ein Mensch mit einer dünnen Ich-Grenze hat in der Regel wenig Muskulatur, schwaches Bindegewebe und eine dünne, blasse, wenig durchblutete Haut. Ein Mensch mit einer „dünnen Haut“ erlebt starke emotionale Resonanzen mit der Außenwelt, fühlt sich aber auch schnell durch Außenreize irritiert oder beeinträchtigt.
  • Ein Mensch, der dazu neigt, andere Menschen durch Dominanz zu beeindrucken, hat in der Regel viel Muskelmasse und einen breiten, aufgeblähten Oberkörper.
  • Wer seine Muskeln gebraucht, um Gefühle zurückzuhalten, der entwickelt eine chronisch angespannte Muskulatur, vor allem in den Muskelpartien auf der Rückseite des Körpers, die expressive, nach vorn gerichtete Bewegungen zurückhalten.
  • Wer dazu neigt, Gefühle in sich hineinzufressen oder sich durch Nahrungsaufnahme zu beruhigen, entwickelt eine Tendenz zur Fettleibigkeit.
  • Ein Mensch mit einem „dicken Fell“, also jemand, der massige Abwehrschichten um sich herum trägt, ist emotional schwer erreichbar, aber auch geschützt gegen emotionale Invasionen.

Auch auf Einstellungen und Überzeugungsmuster finden sich Hinweise in Körperstruktur und im nonverbalen Körperausdruck.

Beispiel: Eine Teilnehmerin einer körperorientierten Fortbildungsgruppe fühlt sich oft einsam und verlassen, obwohl sie de facto sozial gut eingebunden ist. Ihr Augenausdruck wirkt verschleiert, hart und abweisend. In einer Einzelarbeit in der Gruppe sagt sie, sie habe Angst, andere Menschen anzuschauen, weil sie befürchtet, sich im Augenkontakt aufzulösen. Sie bedeckt die Augen mit beiden Händen und sagt: „Mir ist alles zu viel. Ich möchte mich nur noch verkriechen.“ Die Augenregion der Teilnehmerin wirkt also oberflächlich verschlossen, aber darunter ist sie entgrenzt und über-offen. Wenn Kontakt der Teilnehmerin zu nah wird, zieht sie sich in innere Leere zurück und ihr Augenausdruck wird undurchdringlich und starr. Ihre korrespondierende kognitive Einstellung ist: „Wenn es nah wird, muss ich mich zurückziehen, sonst löse ich mich auf.“

Auch aus der „Substanz-Anmutung“ der Körperstruktur des Klienten kann beim Bodyreading auf seine Körperenergiedynamik geschlossen werden. Der Körper kann z. B. kräftig, zart, zäh, fragil, rigide, prall, aufgeschwemmt, dünn, weich, elastisch, gestreckt, gestaucht, wacklig, warm oder kühl wirken. Dabei können einzelne Körperpartien eine unterschiedliche Anmutungsqualität haben.

>>> Fortbildung Humanistische Körperpsychotherapie

Werner Eberwein