Was ist Bewusstsein?
Im Jahre 1974 schrieb der 1937 in Belgrad geborene US-amerikanische Philosoph Thomas Nagel in der Zeitschrift Philosophical Review einen viel beachteten und häufig nachgedruckten Aufsatz mit dem Titel „Wie ist es, eine Fledermaus zu sein?“. In diesem Aufsatz tritt er reduktionistischen Erklärungen des Bewusstseins entgegen, die Erlebensprozesse auf physikalische Hirnzustände, also neuronale Korrelate zurückzuführen versuchen. Dieser Aufsatz löste in der Philosophie des Geistes eine jahrzehntelange Diskussion aus, die so genannte „Qualia-Debatte“. (Mit dem Begriff Qualia [von lat. qualis: „wie beschaffen“] sind die subjektiven Erlebnisgehalte mentaler Zustände gemeint.)
Nagel sprach sich in der Frage, was subjektives Erleben sei, gegen eine verbreitete „reduktionistischen Euphorie“ aus, die darauf hinausläuft, subjektives, also mentales Erleben so zu betrachten, als ob es sich um physikalische Tatsachen handele. Nagel betont, dass es zwar unbestreitbar Zusammenhänge zwischen mentalen, also psychischen Prozessen, insbesondere dem subjektiven Erleben einer Person und neuronalen Gehirnzuständen gibt, dass wir aber zur Zeit nicht nur meilenweit davon entfernt sind, psychische Prozesse durch neuronale Zustände erklären zu können, sondern dass es noch nicht einmal einen Ansatz für Grundbegriffe einer Theorie gibt, um diesen Zusammenhang zu erklären oder gar subjektive mentale Erlebnisse auf objektive neuronale Zustände reduzieren zu können.
Das subjektive Erleben eines Menschen kann, so Nagel, auf objektive Weise nicht erfasst werden. Alles was objektiv erfassbar ist (z.B. sichtbares Verhalten, Hirnscans, verbale Äußerungen, ausgefüllte Fragebögen usw.) kann oder könnte grundsätzlich auch von einem Computer erledigt werden, obwohl es nicht plausibel ist, diesem subjektives Erleben zuzuschreiben. Eine Wissenschaft, die die menschliche Psyche objektiv untersucht, mag auf der Verhaltensebene oder der neurologischen Ebene interessante Ergebnisse hervorbringen, sie geht aber an der Frage, was und wie subjektives Erleben ist, grundsätzlich vorbei. Qualia (also subjektive Erlebnisinhalte) können biophysikalisch weder untersucht noch erklärt werden. Sofern sie biophysikalisch erforscht werden, z.B. wenn man die Aktivität von Hirnarealen im Scanner untersucht, muss man davon, dass es sich um subjektives Erleben handelt, abstrahieren. Dies geht aber daran, dass und wie hier eine menschliche Person, also ein Subjekt, etwas erlebt, gerade vorbei.
Nagel verdeutlicht diesen Gedankengang am Beispiel einer Fledermaus. Bekanntlich orientieren sich Fledermäuse im Raum anhand von Reflexionen von Ultraschall-Schreien, die sie selbst in schneller Folge ausstoßen („Fledermaus-Ultraschall-Radar“). Diese Form der Sinneswahrnehmungen ist keinem der Sinne auch nur entfernt ähnlich, die wir als Menschen kennen. Wir können die Art, wie sich eine Fledermaus im Raum orientiert, naturwissenschaftlich erforschen, wir können sie biophysikalisch detailliert studieren, rekonstruieren und erklären, aber wir haben keine Möglichkeit, zu erfahren, wie es subjektiv ist, eine Fledermaus zu sein, die sich auf diese Weise im Raum orientiert. Selbst wenn jemand auf empathische Weise versucht, sich in eine Fledermaus hineinzuversetzen, wenn er bspw. in einer hypnotischen Trance oder auf einem LSD-Trip in einem Zustand ist, in dem er sich so fühlt, „als ob“ er eine Fledermaus ist und die Welt wahrnimmt wie sie, so erlebt er doch lediglich, wie es für ihn als Mensch ist, wenn er sich in eine Fledermaus hineinversetzt, nicht aber, wie es für eine Fledermaus ist, eine Fledermaus zu sein.
Ebenso, so Nagel, ist es bspw. für einen sehenden oder hörenden Menschen nicht möglich, zu erleben, wie es ist, ein blind oder taub geborener Mensch zu sein. Umgekehrt ist es für einen Blinden oder Tauben nicht möglich, zu erleben, wie es ist, zu sehen oder zu hören. Man kann versuchen, sich einzufühlen, sich z.B. die Augen zu verbinden oder sich die Ohren zuzustöpseln, aber es bleibt ein indirekter, empathischer Stellvertreter-Versuch, der im optimalen Fall ein Annäherung an das Erleben des Blinden/Tauben ergibt, nicht aber das subjektive Erleben, wie es ist, blind oder taub geboren zu sein.
Analog ist es möglich, sich in Menschen des anderen Geschlechts, eines anderen Alters, aus einem anderen Kulturkreis, mit einer anderen Biografie oder mit einer anderen Hautfarbe empathisch hineinzuversetzen. Dies mag relativ gut gelingen, sich sehr „real“ anfühlen und in gewissem Umfang passend oder stimmig sein. Dennoch bleibe ich letztlich ein Mann, der sich so gut es ihm möglich ist, z.B. in eine Frau einfühlt, die schwanger ist oder einen sexuellen Übergriff erlebt hat. Das Erlebnis dieser Frau, die schwanger ist oder einen Übergriff erlebt hat, ist mir als ihr subjektives Erleben nicht zugänglich. Was maximal erreicht werden kann, ist ein stellvertretendes empathisches Nacherleben mit einer zureichenden Ähnlichkeit zum Erleben der anderen Person, niemals aber, so Nagel, ist das subjektive Erleben dieser anderen Person für mich erlebbar, ebenso wie mein subjektives Erleben für keine andere Person erlebbar ist.
Die subjektive Erfahrung anderer Menschen ist für mich zweifellos ein sehr relevanter Aspekt meiner äußeren Welt – insofern ist es für mich objektiv, aber dennoch auf objektive Weise nicht erfassbar. Wie es bspw. für einen erfahrenen Kunstkenner und Kunstliebhaber ist, ein Gemälde aus dem 16. Jahrhundert zu betrachten, kann ich als Kunstbanause nur begrenzt nacherleben. Ebenso ist es für Menschen, die mit Psychotherapie wenig zu tun haben, nur begrenzt nachvollziehbar, wie es für mich ist, seit vielen Jahren täglich Menschen in der Auseinandersetzung mit ihrem psychischen Leid zu unterstützen.
Der Versuch, subjektives Erleben durch objektive Untersuchung zu erkunden ist also, sofern dabei subjektives Erleben untersucht werden soll, grundsätzlich zum Scheitern verurteilt. Die subjektive Perspektive ist einzigartig und auf objektive Weise nicht erreichbar. Sie erfordert einen spezifischen, nämlich einen intersubjektiven Zugang mit völlig anderen Zugangswegen und einer völlig andersartigen Logik, die sich von einer naturwissenschaftlich-objektiven Erforschung grundsätzlich unterscheidet.
Dabei leugnet Nagel keineswegs, dass es einen engen Zusammenhang zwischen neuronalen und subjektiven Erlebnissen gibt. Beispielsweise können umgrenzte Hirnschädigungen spezifische subjektive Erlebnisse (z.B. akustische oder Lichteindrücke) auslösen oder auch unmöglich machen (z.B. bei neurologischen Aphasien). Subjektive Prozesse wie Entscheidungen aufgrund von Überzeugungen können wiederum körperliche Handlungen auslösen. Subjektives Erleben und biophysikalische Prozesse hängen also eng und auch kausal zusammen, dennoch kann der Zusammenhang zwischen beiden (heute noch) nicht wissenschaftlich erklärt, ja noch nicht einmal angemessen begrifflich erfasst werden.
Nagel hat den Mut, dieses Problem aus verschiedenen Blickwinkeln präzise und penetrant zu beschreiben, die Fragestellung, wie der Zusammenhang zwischen Neurologie und Erleben zu verstehen ist, dann aber offen zu lassen. Meines Erachtens müssen wir zugeben, dass wir bis heute über eine Theorie des Subjektiven bzw. des Intersubjektiven, die den Anspruch erheben könnte, auf eine noch zu begründende Weise „wissenschaftlich“ zu sein, nicht verfügen, und dass wir noch nicht einmal den Ansatz einer Idee dafür haben, auf welche Weise neuronale Hirnprozesse und subjektive Erlebensweisen zusammenhängen.