Sind wir alle krank?

Im Heft Nr. 4 vom 21.1.2013 titelt der Spiegel „Was ist noch normal? Die Psychofalle – Therapeuten streiten über die Grenze zwischen Gesundheit und seelischer Erkrankung“. In der Titelgeschichte wird eine drastische Ausweitung der Kriterien für psychische Störungen und – in der Folge – eine ebenso drastische Ausweitung der Verschreibung von Psychopharmaka festgestellt.

Das international führende Diagnostik-Handbuch DSM-5 (das in der Regel mit einigen Jahren Vorlauf die Inhalte des in Deutschland üblichen Diagnostikmanuals ICD-10 vorwegnimmt) wird von 185 Fachleuten im Auftrag der Amerikanischen Psychologischen Gesellschaft (APA) erstellt. 70% der am neuen DSM-5 arbeitenden Autoren seien laut Der Spiegel zugleich als Berater für pharmazeutische Firmen tätig und erhielten dafür fette Honorare. Das habe erhebliche Auswirkungen auf die im DSM-5 festgelegten Diagnosekriterien.

„Scheinbar kleine Veränderungen der diagnostischen Kriterien können ganze Bevölkerungskreise in Patienten verwandeln“. (ebenda, S. 112)

Im neuen DSM-5, das im Mai 2013 erscheinen soll, werden eine Reihe von neuen, teilweise exotisch anmutenden Diagnosen enthalten sein, zum Beispiel:

  • Hoarding-Disorder (hoarding = horten): eine „fortdauernde Schwierigkeit, sich von Habseligkeiten zu trennen“ (auch als Messie-Syndrom bekannt),
  • Arbeitsplatzphobie: eine „starke und anhaltende Angst bei Annäherung an den Arbeitsplatz oder bei Gedanken an Kollegen und Vorgesetzte“,
  • Skin-Picking-Disorder (Haut-Zupf-Störung): „wiederholtes Zupfen an der Haut mit den Händen oder etwa einer Pinzette“,
  • Leichte kognitive Störung: „Beeinträchtigung des Lernvermögens, sowie der Fähigkeit, zu planen und zu organisieren“,
  • Disruptive Mood Dysregulation Disorder (etwa: Störende Stimmungs-Fehlregulations-Störung): „Zustand ständiger Reizbarkeit im Kindesalter, verbunden mit schlechter Laune und Wutanfällen“, eng verwandt mit der „Störung mit oppositionellem Trotzverhalten“.

Überdiagnostik führe, so Der Spiegel, unmittelbar zu Übermedikation. Wenn man den Pillenverbrauch erhöhen wolle, so könne man das am einfachsten dadurch tun, indem man die Menschen davon überzeuge, dass immer mehr Leute ein mentales Problem hätten. Immer mehr Leidenszustände, die früher als unvermeidlich zur menschlichen Existenz gehörig betrachtet wurden, werden heute pathologisiert und damit als – medikamentös oder psychotherapeutisch – behandlungsbedürftig erklärt. Wenn dieser Trend weitergehe, könne es so weit kommen, dass es bald keine Gesunden mehr gebe.

„Einer Studie zufolge erfüllen bereits 46 % der US-amerikanischen Bevölkerung die Kriterien einer psychischen Erkrankung. Der Anteil der Kinder, die offiziell als geisteskrank eingestuft werden, ist binnen 20 Jahren auf das 35 fache gestiegen.“ (ebenda, S.113)

In der Europäischen Union galten im Jahr 2010 38 % der Bürger als psychisch gestört. Daher haben sich die Ausgaben für Krankengeld nach psychischen Diagnosen seit 2006 fast verdoppelt und die Zahl der Verordnungen von Antidepressiva seit 2000 fast verdreifacht.

Besonders für Kinder sei es katastrophal, wenn ihnen schon im frühesten Lebensalter suggeriert würde, sie seien nicht „normal“ und könnten nur mithilfe von lebenslanger Medikation richtig funktionieren.

Das DSM-5 basiert ausschließlich auf Symptomen, belastende Lebensereignisse oder Umweltfaktoren werden ausgeblendet. Wenn jemand beispielsweise unter Schlafstörungen leidet, ist er nach dem DSM-5 krank, selbst dann, wenn diese Schlafstörungen etwa das Ergebnis anhaltender Lärmbelästigung durch Flugverkehr sind.

Galt es in vergangenen Jahrzehnten als völlig normal, wenn jemand, der einen geliebten Menschen verloren hat, über längere Zeit hinweg trauert, so wird im DSM-5 die Trauerzeit auf 14 Tage befristet. Wer länger niedergeschlagen ist, gilt nun als krank und damit behandlungsbedürftig.

Geradezu epidemisch ist in den letzten Jahren die Ausweitung des Aufmerksamkeit-Defizits-Hyperaktivität-Syndroms (ADHS). „Inzwischen hat in jeder Grundschulklasse Deutschlands durchschnittlich ein Kind diese Diagnose“ (ebenda, S. 118). Infolge dessen sei sei die Verschreibung von Ritalin (ein stimulierendes Amphetamin) in Deutschland von 1993 bis 2011 um das 53 fache (!) auf 1791 kg gestiegen (d.h. es werden jedes Jahr in Deutschland fast 2 Tonnen Ritalin an wuselige Kinder verfüttert). Im DSM-5 soll ADHS künftig als „Entwicklungsstörung des Nervensystems mit hirnorganischer Ursache“ (ebenda, Seite 118) gelten und somit bei Menschen jedes Alters diagnostiziert werden können.

Auch der Anteil an Kindern, die an einer so genannten „bipolaren Störung“ leiden, sei in den USA seit 2000 um mindestens das Vierfache gestiegen. Gemeint sind Kinder mit stark wechselnden Stimmungen, die mal aufgedreht, mal bedrückt sind, was wiederum (v.a. medikamentös) behandlungsbedürftig sei.

Was Psychopharmaka wie Ritalin gegen ADHS oder antipsychotische Medikamente gegen Schizophrenie im Gehirn genau bewirken, sei bis heute unbekannt. Untersuchungen wiesen jedoch auf dauerhafte Veränderungen des Gehirns hin. Antipsychotische Medikamente beispielsweise führten langfristig zu einer signifikanten Schrumpfung des Gehirngewebes.

Langzeituntersuchung belegen außerdem, dass Patienten die mit Psychopharmaka behandelt werden, häufiger wegen Rückfällen wieder ins Krankenhaus müssten. Nach einer Studie in Chicago waren „15 Jahre nach einer schizophrenen Episode 46 % der Patienten, die dauerhaft Medikamente bekommen hatten, ohne Symptome. Bei Patienten, die auf Medikamente verzichtet hatten, lag dieser Wert bei 72 %.“ (ebenda, S. 117)

Werner Eberwein