Kann man psychisch gesund sein in dieser Gesellschaft?

Psychotherapie wird oft verstanden (und leider nicht selten auch praktiziert) als Optimierung der Anpassung an bestehende gesellschaftliche Machtverhältnisse. Kann Psychotherapie auf diese Weise überhaupt heilen? Gibt es ein „gutes Leben“ unter den gegenwärtigen Verhältnissen?

Die gesellschaftlichen Strukturen, in denen wir in den westlichen Industrienationen zur Zeit leben, in sind durch spezifische Widersprüchlichkeiten gekennzeichnet:

  • Einerseits verfügen wir, insbesondere durch das Internet, über Möglichkeiten des freien Zugangs zu einer Informationsvielfalt, von der vergangene Generationen nur träumen konnten.
    Andererseits sind wir aufgrund einer teilweise gar nicht mehr bewusst wahrgenommenen und ständig zunehmenden Dauerberieselung durch Medien einer Verblödungswelle ausgesetzt, der man sich individuell kaum vollständig entziehen kann.
  • Einerseits stehen uns in vielerlei Hinsicht mehr Wahlmöglichkeiten zur Verfügung, als jeder Generation vor uns (z.B. Reise- und Auswanderungsmöglichkeiten, Optionen der Partnerschafts- und Familiengestaltung, der Ausbildung und Berufswahl).
    Andererseits ist die Welt inklusive ihrer ökologischen und psychischen Ressourcen in einem bis dato unbekannten Ausmaß der Profitlogik transnationaler Finanzjongleure unterworfen.
  • Einerseits haben wir einen Zugang zu Waren und Dienstleistungen in einem Umfang, den sich vergangene Generationen nicht hätten vorstellen können.
    Andererseits klafft eine gewaltige Schere zwischen Arm und Reich nicht nur zwischen den Nationen des Nordens und denen des Südens, sondern auch innerhalb dieser Nationen immer weiter auf.
  • Einerseits sind die alten kulturellen, religiösen und staatlichen Regeln und Normen, die noch vor 50 Jahren unabdingbar galten, ins Wanken geraten, und haben Variationsmöglichkeiten der Lebensgestaltung eröffnet, die keiner vorangegangenen Generation zur Verfügung standen.
    Andererseits hat gerade diese Vielfalt an Optionen zu existenziellen Verunsicherung geführt, die manche nach autoritären Strukturen rufen lassen.
  • Einerseits sind wir in vielen Bereichen den Verführungen der „Normalpathologie“ unterworfen (Junk-Food, Privatfernsehen, Beziehungsfrust, Überarbeitung, Konsumismus).
    Andererseits erleben wir eine blühende Alternativ-und Nischenkultur, in der Lebensweisen möglich sind, die sich der herrschenden „Normalität“ teilweise entziehen.

Diese Aufzählung ließe sich beliebig weiterführen.

Psychisches Leid kann als die individuelle Ebene solcher gesellschaftlicher Ambivalenzen verstanden werden. Gleichzeitig bestehen gesellschaftliche Machtstrukturen letztlich daraus, wie Menschen ihre Beziehungen zueinander gestalten. Wir leiden unter Verhältnissen, die wir selbst (kollektiv) aufrecht erhalten.

Psychisch gesund sein heißt meines Erachtens, im Spannungsfeld der oben angedeuteten Dialektiken seinen eigenen Weg zu finden, und das geht manchmal nur, indem man gegen den Strom schwimmt.

Psychotherapie als Anpassung macht dort Sinn, wo Menschen aufgrund fehlgeleitete Sozialisation nicht in der Lage sind, grundlegende Menschenrechte anderer zu achten oder für sich selbst nicht angemessen sorgen können. Kriminelle, verwahrloste oder hilflose Menschen brauchen neben angemessenen materiellen Maßnahmen auf der psychischen Ebene Unterstützungen bei der Eingliederung in Halt gebende soziale Strukturen sofern und soweit das möglich ist.

Sozial weitgehend integrierte psychisch leidenden Menschen brauchen jedoch manchmal das Gegenteil: das Aufzeigen von Möglichkeiten der Gestaltung eines authentischen Lebens, in dem sie ihre Bedürfnisse und ihrer Art zu fühlen, offensiv vertreten und ihr Lebensumfeld entsprechend mitzugestalten. Psychotherapie wäre hier eine Unterstützung bei der Entwicklung eines „guten Lebens“ („buen vivir“ im Sinne von Alberto Acosta), auch wenn sich das gegen scheinbare Selbstverständlichkeiten oder herrschende Verhältnisse richtet (die sich nicht selten im eigenen Kopf und Herzen befinden).

Werner Eberwein