Ist das Gehirn der Geist?
Diese Frage ist eine aktuelle Formulierung des uralten „Leib-Seele-Problems“ (auch: „Geist-Körper-Problem“), das schon seit Jahrtausenden und bislang ohne eindeutiges Ergebnis von Philosophen und Wissenschaftlern unterschiedlicher Richtungen diskutiert wird, seit einigen Jahrzenten vor allem unter dem Titel „Philosophie des Geistes“.
Das Leib-Seele-Problem kann z.B. so formuliert werden:
Das Mentale (das Seelische, Geistige, das Bewusstsein, unser unmittelbares psychisches Erleben) scheint etwas prinzipiell anderes zu sein als die Objekte der physikalischen Welt (Körper, Gehirn, der Leib, das Materielle).
Beispielsweise hat ein Gefühl (Liebe, Furcht, Vertrauen, Zweifel) keine physikalische Gestalt (Größe, Gewicht, Farbe, Form). Es ist uns in unmittelbarer Introspektion (also in unserem direkten Erleben) zweifelsfrei zugänglich. Es ist privat (kein anderer Mensch kann es unmittelbar mit uns teilen) und unkorrigierbar (wenn ich das mich besorgt oder glücklich fühle, kann kein anderer Mensch das sinnvoll in Frage stellen).
Gleichzeitig scheinen die mentale und die physikalische Ebene wechselseitig aufeinander einzuwirken:
– Wenn ich (mental) die Entscheidung fälle, meinen Arm zu heben, hebt er sich (physisch).
– Wenn Bakterien (physisch) meine Zähne schädigen, spüre ich Zahnschmerzen (mental).
Wie also ist es möglich, dass Mentales und Physikalisches aufeinander einwirken (miteinander interagieren) und gleichzeitig zu zwei grundsätzlich unterschiedlichen Bereichen/Ebenen der Welt gehören?
Ist das Geistige etwas eigenständiges, das vom Physischen grundsätzlich verschieden ist? Oder ist das Geistige nur eine Spielart des Physischen?
Auf diese Fragen werden traditionell unterschiedliche Antworten gegeben, die alle in sich mehr oder weniger logisch konsistent sind und mit guten Argumenten vertreten, aber auch mit ebenso guten Argumenten kritisiert werden:
Dualismus (z.B. Rene Descartes): Mentales und Physikalisches (Geist und Körper) sind zwei getrennte Ebenen der Welt, die nebeneinander existieren.
- Substanz-Dualismus: Neben den physischen Objekten gibt es auch immaterielle, nicht-physikalische Dinge der Welt, die die Träger mentaler Eigenschaften sind.
– Interaktionistischer Substanzdualismus (z.B. Karl Popper, John Eccles): Geist und Körper beeinflussen einander gegenseitig kausal.
– Psychophysischer Parallelismus (z.B. Gottfried Wilhelm Leibnitz): Körperliche und mentale Prozesse laufen parallel ab („wie zwei synchronisierte Uhren“), ohne voneinander verursacht zu sein und ohne aufeinander einzuwirken.
– Panpsychismus: Allen physikalischen Dingen wohnen mentale Eigenschaften inne.
– Okkasionalismus (z.B. Nicolas Malebranche): Gott sorgt dafür, dass physische und psychische Prozesse einander entsprechen.
– Epiphänomenalismus (z.B. Thomas Henry Huxley, Frank Cameron Jackson, William Robinson): Mentale Prozesse sind bloße Begleiterscheinungen von Gehirnvorgängen; sie können ihrerseits keine körperlichen Prozesse bewirken. - Eigenschafts-Dualismus (z.B. Theodor Fechner, David Chalmers, C.D. Broad): Leib und Seele sind zwei Perspektiven auf den selben Gegenstand; das Mentale ist eine Eigenschaft der Materie des Körpers.
Monismus: Es gibt nur eine Substanz/Ebene der Welt.
- Materialismus/Physikalismus: Es gibt nur Materie; alles Geistige ist physischer Natur.
– Eigenschaft-Physikalismus: Mentale Eigenschaften können auf physische Eigenschaften zurückgeführt werden.
– Behaviorismus (z. B. B.F. Skinner, Gilbert Ryle, Carl Hempel): Mentale Zustände sind nur als Verhaltensbeschreibungen nachweisbar.
– Semantischer Physikalismus: Mentale Eigenschaften können auf physische Eigenschaften zurückgeführt werden, weil alles Mentale in einer physikalischen Sprache ausgedrückt werden kann.
– Funktionalismus (z.B. Hilary Putnam, Alan Turing, Andy Clark, William Lycan): Das Mentale ist ein funktionaler Zustand des physischen Systems.
– Nichtreduktiver Materialismus (z.B. Donald Davidson, Jaegwon Kim): Mentale Zustände sind emergente materielle Zustände; sie lassen sich also nicht auf diese reduzieren.
– Eliminativer Materialismus (z.B. Paul Feyerabend, Paul Churchland): Es gibt keine mentalen Zustände; sie sind lediglich irrtümlich von der Alltagspsychologie eingeführt worden. - Identitätstheorie (z.B. John Smart, Ullin Place, David Lewis): Mentale Eigenschaften sind identisch mit physischen Eigenschaften; es handelt sich nur um zwei unterschiedliche Terminologien, die das selbe beschreiben.
– Token-Identitätstheorie: Mentale Zustände sind mit Gehirnzuständen identisch.
– Eingeschränkte Typ-Identitätstheorie (z.B. Ian Ravenscroft): Mentale Zustände eines bestimmten Individuums sind mit bestimmten Gehirnzuständen dieses Individuums identisch. - Idealismus: Es gibt nur Geist; alles Physische ist geistiger Natur.
– Solipsismus: Alles was existiert, existiert nur in meinem Geist. - Neutraler Monismus (z.B. Baruch Spinoza, Erst Haeckel, Ernst Mach): Das Geistige und das Physische sind von gleicher Substanz, die weder geistig noch physisch ist.
Wenn Sie mehr darüber wissen wollen, könnten Sie „Grundkurs Philosophie des Geistes, Bd. 2: Das Leib-Seele-Problem“ von Thomas Metzinger (Hrsg.) oder „Analytische Einführung in die Philosophie des Geistes“ von Ansgar Beckermann lesen.