Hat der Mensch einen freien Willen?

Das Konzept der menschlichen Willensfreiheit ist die Basis jeder demokratischen Ordnung und auch für die Humanistische Psychotherapie grundlegend. In den letzten Jahren hat eine Gruppe von psychobiologisch ausgerichteten Forschern die Willensfreiheit des Menschen in Frage gestellt. Dagegen wird von anderen Forschern eine Reihe von Argumenten für die menschliche Willensfreiheit ins Feld geführt. Die Veröffentlichungen führten zu heftigen Diskussionen in der Fachwelt und unter Laien, die ich im folgenden zusammenfassen möchte.

Argumente GEGEN die Willensfreiheit

  • Das Libet-Experiment. Das am häufigsten gegen die Willensfreiheit zitierte Experiment stammt von Benjamin Libet (2005). Libet beauftragte seine Versuchspersonen, innerhalb eines vorgegebenen Zeitrahmens von drei Sekunden mit einem Finger einen Druckschalter zu betätigen. Während dieser drei Sekunden sahen die Versuchspersonen einen rotierenden Lichtzeiger (etwa einem schnell sich drehenden Uhrzeiger vergleichbar). Die Versuchspersonen sollten irgendwann innerhalb dieser drei Sekunden entscheiden, den Druckschalter zu betätigen. Sie sollten sich merken, auf welcher Position der Lichtzeiger gestanden hatte, als sie innerlich die Entscheidung getroffen hatten. Libet stellte fest, dass sich bereits einige Zehntelsekunden bevor die Versuchsperson nach ihrem subjektiven Empfinden entschieden hatte, im Gehirn ein spezifisches Bereitschaftspotenzial aufbaute, das im EEG festgestellt werden konnte. Libet interpretierte dieses Versuchsergebnis so, dass „das Gehirn“ der Versuchspersonen die Entscheidung bereits getroffen habe, bevor die Versuchsperson subjektiv eine Willensentscheidung gefällt habe. Dieses Experiment wird immer wieder zitiert, um zu belegen, dass die Freiheit des menschlichen Willens eine Illusion sei.
  • Descartes Irrtum. Domasio führte in seinem Buch „Descartes Irrtum“ (2004) aus, dass die Entscheidungen eines Menschen nicht allein auf rationalen Erwägungen basieren, sondern durch Emotionen beeinflusst seien.
  • Konditionierung. Behavioristisch orientierten Lernforscher versuchten, mit Experimenten zu belegen, dass Willensentscheidungen durch Lerneffekte konditioniert werden können.
  • Triebe. Psychoanalytiker interpretieren die Ergebnisse ihrer psychoanalytischen Arbeit mit ihren Klienten so, dass der Wille eines Menschen von einem als triebhaft verstandenen Unbewussten gesteuert wird.
  • Wahrnehmungsfilter. Wahrnehmungsforscher weisen darauf hin, dass wir aufgrund unserer begrenzenden Wahrnehmungsorgane und neurologischen Wahrnehmungsfilter nur einen Ausschnitt der Welt wahrnehmen und unsere Entscheidungen an diesen begrenzten Wahrnehmungen ausrichten. Daher seien unsere Entscheidungen nur so frei, wie unsere Wahrnehmung dies zulasse.
  • Hirnstruktur. Deterministisch orientierte Hirnforscher gehen davon aus, dass unsere Hirnstruktur beeinflusst und begrenzt, was wir wahrnehmen oder erkennen können.
  • Implizites Wissen. Andere Hirnforscher gehen davon aus, dass ein Teil unseres Wissens biologisch vererbt und ein anderer Teil biografisch programmiert sei. Wir würden Entscheidungen, die wir als frei empfinden, auf der Basis eines impliziten Wissens treffen, das unbewusst vorgegeben und nicht reflektierbar sei.
  • Epiphänomenalismus. Da bestimmte psychische Funktionen in den letzten Jahren durch bildgebende Verfahren immer besser im Gehirn lokalisiert werden können, werde immer deutlicher, dass das Gehirn wie ein biologischer Computer Informationen verarbeite. Was wir als bewusste Willensentscheidungen wahrnehmen, sei daher nur eine Begleiterscheinung (ein „Epiphänomen“) neuronaler Prozesse.
  • Anatomische Abweichungen. Einige Hirnforscher behaupten, im Gehirn von Straftätern anatomische Normabweichungen entdeckt zu haben. Dagegen könne zwischen dem Gehirn von Menschen und dem Gehirn der höheren Primaten kein qualitativer, struktureller Unterschied festgestellt werden, sondern lediglich ein Unterschied in der Hirnmasse, speziell in der Großhirnrinde. Ein hirnanatomisches Korrelat für unsere Fähigkeit, freie Willensentscheidungen zu fällen, die uns von den Tieren unterscheidet, könne nicht festgestellt werden.
  • Elektrische Hirnreizung. Wenn während Operationen am offenen Schädel bestimmte Hirnareale eines Menschen elektrisch gereizt werden, führen die Versuchspersonen motorische Bewegungen aus und beschreiben diese als willentlich verursacht.
  • Evolution. Verhaltensforscher führen aus, dass unser Denken, also auch unser Erkennen und Entscheiden, ein Produkt evolutionärer Ausleseprozesse, und damit den Darwinschen Gesetzen der Evolution unterworfen sei.
  • Manipulation. Sozialpsychologen weisen darauf hin, dass die Willensentscheidungen eines Menschen durch soziale Beeinflussung manipulierbar seien. Menschen könnten dazu gebracht werden, Verhaltensweisen auszuführen, die sie zunächst nicht wollen, die sie aber, sobald sie sie ausgeführt haben, als Ergebnis ihres freien Willens interpretieren. In bestimmten sozialpsychologisch manipulierten oder stresshaften Situationen können Menschen sich selbst Handlungen zuschreiben, die sie gar nicht begangen haben, oder umgekehrt, sie sind aufrichtig der Meinung, Handlungen nicht begangen zu haben, die sie aber unzweifelhaft begangen haben.

Argumente FÜR die Willensfreiheit

  • Energiemobilisierung. Die Experimente von Benjamin Libet kann man auch anders interpretieren. Sie haben ja nur ergeben, dass irgend etwas im Gehirn etwa eine halbe Sekunde vor einer Willensentscheidung geschieht. Was das Bereitschaftspotenzial „ist“, was es bedeutet, und woher es kommt, ist unbekannt. Es wäre zum Beispiel durchaus möglich, dass dieses elektrische Potenzial lediglich bedeutet, dass im Gehirn eine Bereitschaft aufgebaut wird, etwas zu tun, z..B. eine Entscheidung zu fällen oder einen Finger zu bewegen, so dass das Bereitschaftspotential nicht mehr als eine Energiemobilisierung, also eine grundsätzliche Voraktivierung im Gehirn durch engagierte Konzentration ist, nicht aber der Entscheidungsprozess selbst.
  • Entscheidung schon gefallen. In dem Untersuchungsdesign von Libet ist die eigentliche Entscheidung bereits in dem Moment gefallen, wo der Untersuchungsleiter der Versuchsperson den Sinn der Anordnung erläutert. Dass der Knopf gedrückt werden muss, und das innerhalb von drei Sekunden, steht gar nicht in Frage. Wenn sich eine Versuchsperson lediglich frei entscheiden kann, wann sie im Laufe von drei Sekunden einen Knopf drückt, dann kann hier von einer willensfreien Entscheidung im existenziellen Sinn keine Rede sein. Willensfreiheit im philosophischen Sinn ist etwas vielfach komplexeres, eingebunden in biografische, soziale und kulturelle Systeme und nur innerhalb dieser zu verstehen.
  • Die Veto-Option. Libet selbst geht von der Existenz der Willensfreiheit und Verantwortlichkeit des Menschen aus. Er hat nämlich herausgefunden, dass sich seine Probanden auch nach dem bereits aufgebauten Bereitschaftspotenzial noch einmal entscheiden können, ob sie die entsprechende Handlung auch tatsächlich ausführen oder nicht („Veto-Option“). In der Denkweise von Libet bedeutet das, dass ein Dieb in einem Kaufhaus möglicherweise den Impuls verspürt, einen Gegenstand zu entwenden, durch freie Willensentscheidung aber in der Lage ist, diesen Impuls zu unterdrücken. Durch die Veto-Option ist also von Libet die Willensfreiheit durch die Hintertür vollständig wieder eingeführt.
  • Subjektive Evidenz. Die Entscheidungsfreiheit ist in unserem subjektiven Erleben unmittelbar evident. Diese Evidenz kann nur aus der Ersten-Person-Perspektive (subjektiv) erlebt und nicht aus einer Außenperspektive (objektiv) beobachtet werden. Wir spüren unmittelbar und in jedem Moment, dass wir einen freien Willen haben, dass wir so oder auch anders entscheiden können.
  • Nicht determinierbar. Über Willensentscheidungen sind zwar statistische Aussagen über eine große Zahl von Menschen hinweg möglich, aber wie die Entscheidung eines einzelnen Menschen in einem spezifischen Augenblick aussehen wird, kann grundsätzlich nicht vorhergesagt und auch nicht vorherbestimmt werden. Niemand kann deterministisch vorhersagen oder vorherbestimmen, ob und wie wir eine bestimmte Verhaltensweise ausüben werden oder nicht. (Man kann statistisch vorhersagen, wie viele Menschen auf einem Markt wahrscheinlich wie viele Äpfel kaufen werden, und man kann diese Zahl z.B. durch raffinierte Werbung beeinflussen, aber ob eine bestimmte Person einen Apfel kaufen wird, kann man weder vorhersagen noch vorherbestimmen.)
  • Kategorienfehler. Die von manchen Hirnforschern vertretene Sichtweise, „nicht das Bewusstsein, sondern das Gehirn entscheidet“ ist ein Kategorienfehler und daher sinnlos. Bewusstsein und Gehirnprozesse sind nur verschiedene Betrachtungsebenen der selben Vorgänge. Wenn „das Gehirn“ eine Entscheidung fällt, dann ist es gerade der Mensch (der ja ohne sein Gehirn nicht denkbar ist), also die Person, die die Entscheidung fällt. Wenn „das Gehirn“ entscheidet, heißt das, dass die Person entscheidet.
  • Das Rätsel der Speicherung. Wie Gedächtnis-Engramme entstehen und sich verändern, wie Bewusstseins- und Willensakte funktionieren, ist auf der hirnphysiologischen Ebene zurzeit weitgehend ungeklärt. Möglicherweise liegen den Bewusstseinsprozessen Gesetzmäßigkeiten zugrunde, die wir mit unserem heutigen wissenschaftlichen Verständnis noch nicht beschreiben könnten, ebenso, wie man im Mittelalter die elektromagnetischen Hintergründe der Entstehung von Blitzen noch nicht kannte. (Es könnte sogar sein, dass wir grundsätzlich nicht begreifen können, was das Bewusstsein ist, ebenso wie ein Hund grundsätzliche keine Integralrechnung erlernen kann.)
  • Das Gehirn als sozial geformtes System. Wie die moderne Hirnforschung herausgefunden hat, ist die Hirnstruktur ein Produkt sozialen Lernens. Die biografischen Erfahrungen eines Menschen formen die Struktur seines Gehirns. Daher sagt die Lokalisation von psychischen Funktionen im Gehirn sehr wenig über das systemische Zusammenspiel psychischer Funktionen aus.
  • Das Gehirn als Hologramm. Die Möglichkeit der Zuordnung bestimmter Gewebeschäden im Gehirn (z.B. durch Unfälle oder Tumore) zu bestimmten psychischen Ausfällen, bedeutet aufgrund der Netzwerkstruktur des Gehirns nicht, dass die ausgefallene Funktion an dieser Stelle im Gehirn „sitzt“, sondern lediglich, dass etwas in diesem Areal passiert, was für die ausgefallene Funktion irgendwie bedeutsam sei. Das intakte, gesunde Hirn funktioniert als ein hochkomplexes Netzwerk und ist stets als Ganzes (holografisch) tätig.
  • Entscheidungen als historische Prozesse. Die spezifisch menschlichen, geistigen Phänomene wie Bewusstsein, Wahlfreiheit und Erkenntnis sind keine individuellen, momentanen Akte, sondern kollektive, historische Prozesse. Eine Entscheidung wird niemals isoliert aus dem Moment heraus getroffen, sondern aufgrund der Eingewobenheit der Person in historisch-soziale Bezüge und biografisch entstandene Wertsysteme. Die Produkte der sozialen Kreativität des Menschen, von den Pyramiden bis zur Quantentheorie, können niemals als neurologisch präformiert verstanden werden. Kulturleistungen dieser Art sind nur in ihrem sozial-historischen Kontext als kreatives Produkt sozialer Gemeinschaften zu verstehen.
  • Durchschauen von Wahrnehmungsverfälschungen und Manipulationen. Das menschliche Bewusstsein kann zwar getäuscht oder manipuliert werden, es kann sich von Täuschungen und Manipulationen aber auch distanzieren und sie durchschauen, vor allem, indem es sie als solche erkennt. Wir sind zum Beispiel in der Lage, optische Täuschungen durch technische Messmethoden zu erkennen und damit zu transzendieren: unsere Wahrnehmung wird immer noch getäuscht, aber dennoch wissen wir, was wirklich ist. Ebenso könnten wir soziale Manipulationen als Täuschung erkennen. In diesem Fall unterliegen wir der optischen Täuschung oder der sozialen Manipulation nicht, sondern gewinnen eine Freiheit ihnen gegenüber. Der Mensch ist in der Lage, seine Wahrnehmungen und emotionalen Bewertungen kritisch zu reflektieren, zu überprüfen, zu korrigieren und zu revidieren. (Wir können die suggestive Wirkung einer politischen Rede spüren, ohne ihr zu folgen. Es sieht evident so aus, als ob sich die Sonne um die Erde dreht, aber wir wissen dennoch inzwischen, dass es umgekehrt ist.) Der Mensch ist nicht Sklave seiner Wahrnehmungen und Gefühle, sondern in der Lage, diese in größere Zusammenhänge einzuordnen und sich kritische von ihnen zu distanzieren.
  • Keine Belege. Für einen von manchen Hirnforschern behaupteten kausal-deterministischen Zusammenhang zwischen Hirnschädigungen bzw. Gewebeveränderungen im Gehirn und Verbrechen oder psychischen Störungen gibt es zur Zeit keine stichhaltigen Belege.
  • Existenzielle Entscheidungen. Das Bewusstsein fällt seine Entscheidungen nicht kausal auf der Basis von physikalisch erfassbaren Ursachen, sondern existenziell, also auf der Basis von persönlichen Gründen, gerichtet auf individuell sinnvolle Ziele und orientiert an Werten. Sie sind nicht „vom Grunde her“ (kausal) determiniert, sondern „auf ein Ziel hin“ (teleologisch) ausgerichtet.
  • Design-Artefakte. Die Experimente der empirischen Hirnforschung finden unter künstlichen, alltagsfremden, isolierten und teilweise bizarren Rahmenbedingungen statt. Reale Willensentscheidungen sind komplex sozial eingebunden und nur als Teil der Biografie eines Menschen zu verstehen. Was diese Experimente herausfinden, ist das, was durch das Untersuchungsdesign vorgegeben ist.
  • Quantenphysik. Bereits die Prozesse in einem Computerchip könnten nicht mehr mechanisch-kausal, sondern nur noch quantenphysikalisch (also transkausal) beschrieben werden. Das selbe gilt für die hochvernetzten elektischen Prozesse im Gehirn.
  • Phylogenetische Adaption. Unser Gehirn hat sich phylogenetisch auf eine adäquate Wirklichkeitsadaption hin entwickelt. Ein Tier, das Wirklichkeit nicht adäquat abbildet, hat einen Selektionsnachteil. Ein Affe, der den Ast nicht dort sieht, wo er ist, lebt nicht lange. Systematische Wahrnehmungstäuschungen würden sich aus einer gegebenen Population von Lebewesen schnell phylogenetisch „herausmendeln“.
  • Das gesunde Gehirn. Durch Eingriffe von Hirnforschern in die Funktionsweise des Gehirns wird dessen normale Tätigkeit gestört. Die Ergebnisse solcher Experimente spiegeln nicht die Tätigkeit eines gesunden, normalen Hirns wider, denn dieses funktioniert gerade nicht auf artifiziell gestörte Weise. Die Resultate der entsprechenden Experimente sind Artefakte des Untersuchungsdesigns, nicht Aussagen über die Funktionsweise eines intakten Gehirns.
  • Erklärungslücke. Zwischen der physischen und der psychischen Welt gibt es eine Erklärungslücke. Das Psychische (Denken, Erleben, Willensfreiheit) mit dem Physischen (Lokalisation im Gehirn, Faserverbindungen, Bereitschaftspotentiale) erklären zu wollen, führt notwendig zu Kategorienfehlern.

Schon haben sich einige schwere Straftäter in ihren Prozessen auf „die Ergebnisse der Hirnforschung“ berufen, um zu begründen, warum es grundsätzlich keine Schuldfähigkeit des Menschen gebe. Jedes Rechtssystem setzt das Konzept der individuellen Verantwortlichkeit und Schuldfähigkeit voraus, wovon es nur in gut begründeten Fällen Ausnahmen (im Sinne von Schuldunfähigkeit) geben kann. Wenn alle Menschen schuldunfähig sind, weil „ihr Gehirn“ entscheidet, hebt das jedes Empfinden von Recht und Unrecht auf und führt jede humane Rechtsordnung ad absurdum. Demokratie setzt freie Wahlen voraus – ohne Willensfreiheit gibt es keine Demokratie. Wer die Willensfreiheit bestreitet, stellt das Wahlrecht, jedes demokratische Vertrags- und Strafrecht, sowie jede auf Vereinbarungen basierende Ökonomie in Frage.

Die Willensfreiheit ist die Basis jedes demokratischen politischen, ökonomischen und Rechtssystems.

Wer daran sägen will, muss sich darüber klar sein, welche sozialen Konsequenzen das haben kann und sollte die die Interpretation seiner Ergebnisse lieber gründlich prüfen.

Wenn Sie mehr darüber wissen wollen, könnten Sie das Buch „Hirnforschung und Willensfreiheit: Zur Deutung der neuesten Experimente“ von Christian Geyer (Hrsg.), 7. Auflage, Suhrkamp 2006 lesen.

Werner Eberwein