Was ist Focusing?
Focusing ist eine Technik der Humanistischen Psychotherapie um unterschwelliges Erleben zugänglich zu machen und in Worte fassen zu lernen. Es ist eine erlebenszentrierte Methode des achtsamen Hineinspürens in den Körper. Focusing bietet einen einfachen und natürlichen Zugang zum Unbewussten über das vorbegriffliche und präverbalen Erleben.
Im Focusing geht man davon aus, dass die Bedeutung einer Situation sich zuerst im Körper repräsentiert und erst danach Teile davon bewusst zugänglich werden. Daher haben Körper und Körpererleben im Focusing eine zentrale Bedeutung. Die wesentliche Intervention ist die Einladung des Patienten zur Achtsamkeit für das körperliche Erleben und das allmähliche, differenzierte Symbolisieren desselben in Form von Worten, Bildern, Gesten oder ähnlichem.
Bedeutsame Körperempfindungen werden im Focusing im Einklang mit Antonio Domasio als „somatische Marker“, also als Ergebnis einer körperlichen Situationseinschätzung betrachtet die zunächst nicht den Weg über das Bewusstsein nimmt, sondern erst im Nachhinein bewusst wird (vgl. Domasio, A.: Descarte’s Irtum, dtv 1997).
Focusing wurde in den frühen 1960er Jahren von Eugene Gendlin, einem Schüler von Carl Rogers, an der Universität Chicago entwickelt. Gendlin verglich empirisch erfolgreiche mit weniger erfolgreichen Psychotherapieverläufen und fand heraus, dass ein wesentlicher Faktor erfolgreicher Psychotherapien nicht beim Psychotherapeuten, sondern vielmehr beim Patienten lag.
Patienten in erfolgreichen Therapien unterschieden sich von Patienten in weniger erfolgreichen Therapien bereits in den ersten Therapiesitzungen dadurch, dass sie im Gespräch immer wieder ihr Sprechtempo deutlich verlangsamten, sich vorübergehend „unklar“ ausgedrückten und begannen, nach Worten zu suchen, ja zu ringen, um zu beschreiben, was sie erlebten. Es fand offenbar ein innerer Such- und Abgleichprozess statt, in dem die Patienten mühsam um Worte rangen, die ihrem Erleben optimal entsprachen. Wenn die Klienten eine angemessene Formulierung gefunden hatten, waren sie hörbar erleichtert. Die erfolgreichen Klienten gingen immer wieder durch Phasen hindurch, in denen sie sich zunächst vage, wie suchend ausdrückten. Sie hatten mehr Sprechpausen und Zeiten der Stille, konnten aber nach kürzeren oder längeren Phasen des Innehaltens ihr Erleben genauer formulieren und lokalisierten dabei Empfindungen im Körper.
Dagegen drückten sich die weniger erfolgreichen Patienten durchgängig rationaler und klarer aus, thematisierten aber weniger körperlich gespürt Empfindungen und berichteten weniger von Gefühlen, die sich während der Sitzung veränderten. Manche von ihnen konnten ihre Probleme gut rational analysieren, aber es veränderte sich kaum etwas. Diese Patienten sprachen „über“ ihre Themen und „über“ sich selbst, aber nicht „aus sich heraus“. Sie fanden die „Stimme ihres Herzens“ nicht. Auch Patienten, die von ihren Gefühlen überflutet wurden, indem sie beispielsweise dauernd oder immer wieder haltlos weinten, waren letzten Endes weniger erfolgreich in ihren Therapien.
Was also, fragte sich Gendlin, macht ein erfolgreicher Patient in seinem Inneren anders als ein weniger erfolgreicher Patient. Das Ergebnis war, dass erfolgreiche Patienten eine fühlende Beziehung zu ihrem Erleben herstellen. Sie treten mit ihren inneren Vorgängen unmittelbar in Kontakt und können dabei Nähe und Distanz zu ihrem Problem bzw. Thema regulieren. Sie haben eine annehmende, interessierte Beziehung freundlicher Aufmerksamkeit zu sich selbst und ihrem Erleben, auch wenn dieses z.B. angst- oder schmerzvoll ist. Weder versinken sie kopfüber in ihrem Problem, noch halten Sie dazu so viel Distanz, dass sie nur noch kopfig „darüber“ sprechen.
Nicht was der Patient oder der Therapeut über das Problem weiß oder zu wissen glaubt scheint also entscheiden zu sein, sondern die erlebte Kontaktaufnahme mit etwas, was vor dem Wissen, ja sogar vor einem klaren Fühlen steht, und das sich, wenn es sich frei entfalten kann, von innen heraus selbst erklärt. „Therapie muss unter die Haut gehen“ (Gendlin).
Gendlin fragte weiter, ob bzw. wie zunächst weniger erfolgreiche Patienten die Fähigkeiten der erfolgreichen Patienten erlernen könnten – daraus erstand das Focusing. Focusing besteht darin, zunächst weniger erfolgreiche Patienten das lernen zu lassen, was erfolgreiche bereits können, wenn sie zum ersten Mal zum Therapeuten kommen.
Focusing wurde zuerst in Form von sechs aufeinanderfolgenden und klar voneinander abgegrenzten Schritten als Trainings- und Übungsrituale beschrieben und praktiziert. Heute wird Focusing in der Regel in eher informeller Form als Selbsthilfemethode vermittelt und praktiziert oder als lehr- und lernbare Methode der Intuition angewandt. In der Psychotherapie wird es von Therapeuten der verschiedensten Schulen eingesetzt. Trotz oder gerade wegen seiner Herkunft aus der existenziellen Philosophie kann es in die verschiedensten Verfahren und Stile integriert werden.
Focusing ist mit östlichen Meditationsformen verwandt und ihnen verbunden. Meditationslehrer wie Jack Kornfield, Richard Baker und Anselm Grün praktizieren und lehren Focusingmethoden zur Auseinandersetzung mit psychischen Problemen.
Achtsam sein bedeutet, alles, was im Erleben erscheint, also alle (auch zunächst noch vagen) körperlichen Empfindungen, Gedanken, inneren Bilder, Impulsen, Emotionen, Erinnerungen usw. möglichst absichtslos und mit freundlicher Aufmerksamkeit willkommen zu heißen: „Aha, so ist es, das nehme ich gerade wahr“. Achtsam sein bedeutet auch, manchen Gewohnheiten nicht nachzugehen, z.B. der Gewohnheit, manches Erlebte vorschnell abzutun, zu vermeiden oder zu ignorieren, vorschnell rational zu analysieren, zu Bewerten („das ist gut/das mag ich“, „das ist schlecht/das mag ich nicht“ usw.), abgehoben „darüber“ zu reden oder vorschnell zu reagieren, ohne sich für tieferes Fühlen Zeit um Raum genommen zu haben. Achtsamkeit bedeutet eine bestimmte Art, im und mit dem eigenen Erleben zu sein, also eine spezielle Beziehung zu sich selbst. Es ist etwas sehr einfaches, das aber schwer zu machen ist.
Focusing-orientierte Psychotherapeuten laden ihre Patienten im Laufe des Prozesses immer wieder ein, zu spüren, was in ihrem Inneren, vor allem in ihren Brust- und Bauchraum hier und jetzt in Reaktion auf das Thema oder Problem, das sie gerade beschäftigt, unmittelbar wahrnehmbar ist. Der Patient wird also aufgefordert, einen Moment zu verweilen, und nach innen zu spüren. Wenn der Patient sich immer wieder einstimmt auf tiefere Erlebensebenen in seinem Inneren, die hinter bzw. unter dem rational scheinbar Klaren liegen, so eröffnen sich Empfindungen, die wesentlichere Aspekte und letztlich klarere Einsichten, und auch frische Energien zugänglich werden lassen. Mit der Einladung, sich auf das eigene innere Erleben einzustimmen, auch und gerade wenn es zunächst noch vage ist, wird dem Patienten der Zugang zu Prozessebenen ermöglicht, die erfolgreiche Patienten bereits spontan mitbringen.
Der Felt Sense
Focusing beschreibt die ansonsten wenig beachtete Erlebniskategorie des schon Gespürten aber noch nicht klar Gefühlten geschweige denn Verstandenen. Gendlin, der Begründer des Focusing, nennt diese Erfahrung „Felt Sense“. Focusing bezieht sich auf den Felt Sense als zwar schon im Erleben wahrnehmbare, aber noch nicht eingeordnete innere Resonanz auf ein Thema oder eine Wahrnehmung.
Der Begriff Felt Sense kommt dem nahe, was in der Neurobiologie unter den „Hintergrund-Emotionen“ verstanden wird. In der neurobiologischen Terminologie entsteht zu allem, was man erlebt, wahrnimmt und tut, innere Hintergrund-Emotionen, die im Focusing gezielt angefragt werden. Beim Focusing fühlt der Klient den Felt Sense als körperlichen Wiederhall (“somatische Resonanz”) auf das Thema, mit dem er sich gerade beschäftigt.
Die Grundidee beim Focusing ist, dass im Felt Sense ganzheitlich, “wie in einem Hologramm” alle Aspekte der persönlichen Bedeutung eines Themas für den Klienten enthalten sind. Der Felt Sense ist die noch ungreifbare, noch unbestimmte, unbenannte innere Ganzheitswahrnehmung eines Themas. Der Felt Sense besteht nicht aus Gedanken, Worten oder klar identifizierbaren Gefühlen. Was schnell erfasst und mit wenigen Worten wiedergegeben werden kann, ist nicht der Felt Sense.
Wenn der Klient zu Thema X ein relativ klares Gefühl wahrnimmt, sich z.B. bedrückt oder aufgeregt fühlt, so ist das nicht der Felt Sense. Der Felt Sense ist die ganzheitliche Empfindung von ‚alles über X‘.
Unmittelbare Körperempfindungen wie „eine Spannung im Nacken“ oder „ein Druck im Bauch“ sind ebenfalls nicht der Felt Sense. Das Erleben von ‚alles über X‘, also der Felt Sense, ist als Ganzheit und zunächst nur vage spürbar.
Der Felt Sense trägt die Bedeutung des Themas für den Klienten in seiner ganzen Fülle und Tiefe in sich. Es erfordert in der Regel etwas Zeit (etwa 10 bis 30 Sekunden), um den Felt Sense wahrzunehmen.
Die sechs Schritte des Focusing
Gendlin beschreibt den Focusing-Prozess in sechs Schritten. Diese Schritte sind nicht als mechanisch streng einzuhaltender Ablauf zu verstehen, sondern eher als didaktische Einheiten, die das Erlernen von Focusing erleichtern, und die sich perspektivisch miteinander integrieren, wenn Focusing zu einem intuitiven Prozess geworden ist. Ich stelle sie hier in einer Kurzfassung dar. Wenn Sie mehr darüber erfahren wollen, können Sie mein Buch “Humanistische Psychotherapie” oder die Bücher von Eugene Gendlin, Johannes Wiltschko, Klaus Renn oder Martin Siems zum Thema lesen.
1.) Den Raum bereiten
Der Therapeut leitet den Klienten an, in sein Inneres hineinzuspüren, mit seiner Aufmerksamkeit dort zu verweilen und zu beobachten, was er dort wahrnimmt, wenn er sich mit seiner inneren Stimme beispielsweise folgende Fragen stellt:
– „Wie geht es mir in meinem Leben?“
– „Was ist das Wichtigste für mich jetzt?“
Dann soll der Klient spüren, wie sein Körper auf diesen Satz reagiert. In der Regel spürt der Klient dann z.B. ein vages Gefühl von Unwohlsein in Zusammenhang mit kleinen oder großen Problemen, die ihn belasten. Der Therapeut bittet ihn, diese Probleme imaginativ vor sich zu positionieren, so dass er sie „im Blick“ hat. Dann bittet der Therapeut den Klienten, sich selbst mit seiner inneren Stimme z.B. zu fragen:
– „Wenn diese Probleme gelöst wären, wäre dann alles okay?“
Der Klient solle auf diese Fragen nicht unmittelbar antworten, sondern das innere Ganzheitsempfinden spüren, das als Reaktion auf die Frage entsteht. Er soll in diese Empfindungen aber nicht „hineingehen“ und sie auch zunächst nicht verstehen wollen oder benennen. Der Klient solle zunächst nur wahrnehmen mit der inneren Haltung: „Aha, das ist also da … und das ist auch noch da … und das auch noch.“ Er solle in seinem Inneren gleichsam einen kleinen Abstand lassen zwischen sich und diesen Empfindungen, während er mit ihnen in Kontakt ist. Er soll in seinem inneren Raum seine Themen und Probleme auflistet, mit der (dissoziierenden) Einstellung: „Ich habe diese Gefühle/Probleme, aber ich bin sie nicht“. Er soll seine Empfindungen wahrnehmen, sich aber nicht von ihnen einnehmen oder überfluten lassen.
Dann solle er sich z.B. fragen:
– „Was fühle ich noch?“
– „Wenn das geklärt wäre, wäre dann alles in Ordnung?“
Wiederum soll der Klient auf die ‚Bauchgefühle‘ warten, die er als Reaktion auf diese inneren Fragen wahrnimmt. Einige dieser Probleme stellt er gleichsam zur Seite, um sich gegebenenfalls später mit ihnen zu beschäftigen. Andere Themen und Probleme stellt er imaginativ oder im Rahmen einer symbolischen Inszenierung in die Mitte seines Gewahrseins, um sich jetzt damit zu befassen. Er fokussiert also ein möglichst klar umrissenes Thema oder Problem. Dadurch eröffnet sich dem Klienten gleichsam im Zentrum seines Seins, inmitten seiner Themen/Probleme ein innerer Freiraum, in dem er unabhängig von allen Problemen ist, die ihn belasten. Von diesem inneren Freiraum aus setzt sich der Klient im weiteren Verlauf mit seinen zu fokussierenden Problemen auseinander.
2.) Den Felt Sense entstehen lassen
Nun leitet der Therapeut den Klienten an, mit seiner Aufmerksamkeit in das Innere seines Körpers hineinzuspüren und wahrzunehmen, was er dort fühlt, wenn er an das zu fokussierende Thema denkt. Der Klient soll zunächst nicht aussprechen, was er wahrnimmt, sondern sich eine Weile (ca. 10-30 Sekunden) Zeit lassen, um sich in diese Empfindung hinein zu versenken. (Als Faustregel beim Focusing kann gelten, dass eine schnelle Antwort des Klienten in der Regel “aus dem Kopf” kommt, weil das Entstehenlassen und vertiefte Fühlen des Felt Sense eine kleine Weile dauert.)
3.) Einen Griff finden
Erst wenn der Klient den Felt Sense tief und umfassend fühlt, lädt der Therapeut ihn ein, Symbole (z.B. Begriffe, Bilder, Vergleiche, Gesten) aus dem Felt Sense heraus entstehen zu lassen. Der Therapeut kann den Klienten hier z.B. bitten, sich innerlich zu fragen:
– „Wie fühlt sich dieses ‚alles von Thema X‘ körperlich an?“, z.B.:
Er bittet den Klienten, ein erstes, noch vorläufiges Wort, ein Bild, ein Symbol, eine Analogie, eine Assoziation, eine Geste oder einen Stimmlaut aus dem Felt Sense heraus entstehen zu lassen, der zu diesem zu passen scheint. Diese Symbolisierung wird zunächst als vorläufig verstanden und im Focusing als „Griff“ (engl.: handle) bezeichnet.
4.) Den Griff mit dem Felt Sense abgleichen und der Body Shift
Nun fordert der Therapeut den Klienten auf, zwischen dem Griff und dem Felt Sense hin und her zu gehen und zu überprüfen, ob beide miteinander übereinstimmen und wie beide miteinander interagieren (“Resonating“). Beim Vergleichen kann sich der Felt Sense verändern, und der Griff kann sich verändern. Beide bewegen sich, öffnen sich, vertiefen sich, erweitern sich und bewegen sich aufeinander zu. Dabei wird die Wahrnehmung des Felt Sense immer genauer getroffen, und der Felt Sense verändert sich auch inhaltlich (Content Mutation).
Wenn der Griff in gewissem Umfang zu dem Felt Sense passt, spürt der Klient das als eine subtile, manchmal aber auch überwältigende, deutlich spürbare, angenehme Öffnung, Entkrampfung, Entspannung oder Erleichterung in seinem Körper, so als ob etwas ins Fließen kommt (“Body Shift“, engl für: körperlich spürbare Veränderung).
Der Klient geht so lange zwischen Griff und Felt Sense hin und her, bis ihm ein Body Shift signalisiert: “Es passt”. Der Body Shift ist also quasi der Kompass, der die Richtung zu einem immer präziseren Erfassen und zur Veränderung des Felt Sense weist.
5.) Fragen
Der Therapeut kann den Klienten nun bitten, zu spüren, was in seinem Inneren geschieht, wenn er sich z.B. selbst fragt:
– „Was ist es, was deine Beziehung zu deiner Tochter so ‚<Griff>‘ macht?“
– „Was macht deine Beziehung so ‘<Griff>’?“
– „Was macht deine Kopfschmerzen so ‘<Griff>’?“
– „Was ist das, das ‘<Griff>’?“
– „Was braucht das ‘<Griff>’?“
Der Klient oder der Therapeut kann den Felt Sense auch direkt befragen. Beispielsweise könnte die Frage lauten:
– „Was willst du mitteilen?“, oder:
– „Was brauchst du, um zu heilen?“
Dieser Prozess wird so lange weitergeführt, bis der Klient in seinem Inneren eine Körperreaktion spürt, die ihm zeigt: ‚Ja, das ist es‘ (ein Body Shift).
6.) Empfangen
Am Ende des Focusing-Prozesses leitet der Therapeut den Klienten an, sich das Erhaltene noch einmal zu vergegenwärtigen, wertzuschätzen und zu bewahren:
– „Was ist gekommen?“
– „Was hast du erhalten?“
– „Was hast du erfahren/erlebt/gelernt?“
Der Therapeut ermutigt den Klienten, alles, was er im Laufe des Focusing-Prozesses erhalten hat, anzunehmen und zu behalten. Auch wenn die Botschaft aus dem Inneren zunächst orakelhaft, unrealistisch, überzogen oder überfordernd wirkt, solle der Klient sie als wertvolle Mitteilung seines Inneren annehmen, bewahren und wertschätzen.